91 I 94
16. Auszug aus dem Urteil vom 12. Mai 1965 i.S. Cemin gegen Gemeinderat Wattwil und Regierungsrat des Kantons St. Gallen.
Regeste (de):
- Abänderung von Verwaltungsakten, Abbruch eines nicht bewilligten Bauteiles. Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
- Die Baubewilligung ist eine Verwaltungsverfügung und wird als solche zwar formell, aber nicht materiell rechtskräftig. Ob eine materiell rechtswidrige Verfügung zurückgenommen oder abgeändert werden darf, hängt - soweit darüber nicht positive Vorschriften bestehen - von einer Abwägung der Interessen ab, die einerseits an der Verwirklichung des objektiven Rechtes und anderseits an der Vermeidung von Rechtsunsicherheit bestehen. Abwägung dieser Interessen, wenn nicht der Baubewilligung entsprechend gebaut wurde.
Regeste (fr):
- Modification d'actes administratifs. Démolition d'une partie non autorisée d'une construction. Art. 4 Cst.
- Le permis de construire est une décision administrative et, comme telle, il entre en force du point de vue formel, mais n'acquiert pas l'autorité matérielle de la chose jugée. Savoir si une décision contraire au droit matériel peut être révoquée ou modifiée dépend - lorsqu'il n'y a pas de règle de droit positif à ce sujet - d'une comparaison des intérêts qui tendent, d'une part, à réaliser le droit objectif et, d'autre part, à éviter l'insécurité juridique. Comparaison de ces intérêts dans le cas d'une construction qui ne correspond pas au permis de construire.
Regesto (it):
- Modificazione di atti amministrativi. Demolizione di una parte non autorizzata di una costruzione. Art. 4 CF.
- Il permesso di costruire è una decisione amministrativa; come tale, ha efficacia formale, ma non autorità di cosa giudicata. Mancando al riguardo una norma di diritto positivo, per sapere se una decisione contraria al diritto materiale può essere revocata o modificata, occorre soppesare gli interessi che tendono, da una parte, a realizzare il diritto oggettivo e, dall'altra, a evitare l'insicurezza giuridica. Valutazione di tali interessi, quando non si è costruito conformemente al permesso ottenuto.
Erwägungen ab Seite 94
BGE 91 I 94 S. 94
Aus den Erwägungen:
3. Der Regierungrat hat zur Begründung des angefochtenen Entscheides im wesentlichen ausgeführt, der Beschwerdeführer habe sich in einer Weise, "die jede geregelte Bauweise verunmöglichen würde", über die Baubewilligung des Gemeinderates hinweggsetzt. Der Einwand, der errichtete Balkon entspreche dem örtlichen Baurecht, hätte mit einem Rekurs gegen die Baubewilligung geltend gemacht werden müssen und sei gegenüber der rechtskräftig gewordenen Baubewilligung
BGE 91 I 94 S. 95
nicht mehr zulässig. - Nach Auffassung des Beschwerdeführers verstösst diese Argumentation gegen Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
BGE 91 I 94 S. 96
nicht positive Vorschriften bestehen, von einer Abwägung der Interessen ab, die einerseits an der Verwirklichung des objektiven Rechtes und anderseits an der Vermeidung von Rechtsunsicherheit bestehen (BGE 78 I 406mit Verweisungen). Das Postulat der Rechtssicherheit geht unter anderem dann vor, wenn durch den Verwaltungsakt subjektive Rechte begründet wurden, wenn die Verfügung auf Grund eines Einsprache- und Ermittlungsverfahrens erlassen wurde, dessen Aufgabe in der allseitigen Prüfung des öffentlichen Interesses und seiner Abwägung gegenüber dem ihm entgegengesetzten Privatinteresse besteht, und wenn der Private von einem ihm eingeräumten Recht schon Gebrauch gemacht hat (BGE 78 I 407). Der Errichtung der fraglichen Baute des Beschwerdeführers ist ein Einsprache- und Ermittlungsverfahren gemäss Art. 86 ff. der Bauordnung der Gemeinde Wattwil vom 5. Januar 1909 (BOW) vorangegangen. Dabei wurde vor allem auch die Frage geprüft und erörtet, welche Ausladung für den Balkon zulässig sei. Durch die hernach erteilte Baubewilligung ist auf keinen Fall ein subjektives Recht des Beschwerdeführers auf Erstellung eines Balkons von 1,20 m Ausladung begründet worden. Von einem solchen Recht konnte demnach auch kein Gebrauch gemacht werden. An die ihm erteilte Bewilligung hat sich der Beschwerdeführer in der Folge nicht gehalten, obschon er sie nicht angefochten hatte. Der Einwand, die Baubewilligung habe keine Rechtsmittelbelehrung enthalten, wird erstmals vor dem Bundesgericht erhoben und ist daher nicht zu würdigen (BGE 89 I 244 /245). Abgesehen davon und ohne Rücksicht darauf, ob er schon früher einen Baurekurs erhoben hatte oder nicht, musste es dem Beschwerdeführer auch klar sein, dass es jeder Ordnung widerspricht, zunächst eine Baubewilligung einzuholen und alsdann, ohne sich um eine Änderung dieser Bewilligung zu bemühen, das zu tun, was darin ausdrücklich verboten worden war. In einem solchen Falle anzunehmen, das von der Behörde zu wahrende Rechtssicherheitsinteresse prävaliere gegenüber dem Privatinteresse des Beschwerdeführers an der richtigen Anwendung des Baupolizeirechtes, war mindestens nicht willkürlich. Dabei lässt sich der Begriff der Rechtssicherheit hier in einem doppelten Sinne verstehen: als Sicherheit, dass die formell rechtskräftig zugelassene Ausladung des Balkons nicht überschritten werde,
BGE 91 I 94 S. 97
aber auch als Sicherheit, dass die mutwillige Verletzung der Baubewilligung nicht nachträglich ohne triftigen Grund belohnt werde. Im Vordergrunde steht nicht die Bestrafung des Bauherrn, sondern die Bewährung der baurechtlichen Verfahrensordnung, die einer allgemeinen Unordnung weichen müsste, wenn das Verhalten des Beschwerdeführers Schule machen sollte: Bei den mit der Durchführung des baupolizeilichen Bewilligungsverfahrens betrauten Behörden würde leicht der Eindruck entstehen, es sei gleichgültig, ob und wie sie ihre Aufgabe erfüllen. Der angefochtene Entscheid lässt sich demnach mit guten Gründen vertreten, sodass er dem Vorwurf der Willkür standhält. In diesem Sinne hat das Bundesgericht auch in einem nicht veröffentlichten Entscheid vom 22. Juni 1960 i.S. Brodard erklärt, der Staatsrat des Kantons Freiburg habe nicht willkürlich entschieden, als er den Abbruch eines nicht bewilligten Bauteiles angeordnet habe. Beigefügt wurde allerdings, der Abbruch hätte nicht verlangt verden können, wenn die Unterschiede gegenüber der Baubewilligung "minimes ou sans importance pour l'intérêt public" gewesen wären. Dass das hier zutreffe, behauptet die Beschwerde nicht. Die bisherigen Ausführungen sind auch mit dem Text der Bauordnung Wattwil vereinbar. Nach Art. 98 BOW kann der Bauherr zum Abbruch von Bauten, "die plan- und vorschriftswidrig errichtet worden sind", verpflichtet werden. Auf Grund dieser Formulierung lässt sich ohne Willkür annehmen, eine Baute sei planwidrig, wenn sie dem genehmigten Bauplan widerspricht, und sie sei vorschriftswidrig, wenn sie einer in der Baubewilligung enthaltenen Vorschrift nicht entspricht. Der Beschwerdeführer macht demgegenüber unter Hinweis auf Entscheide kantonaler Regierungen und die Ansicht verschiedener Autoren geltend, auszulegen sei die angeführte Bestimmung in dem Sinne, dass eine Baute nur abgebrochen werden müsse, wenn sie dem Quartierplan und der Gemeindebauordnung widerspreche. Hierzu ist festzuhalten, dass nicht alle der vom Beschwerdeführer angerufenen Autoren und Entscheide die Frage behandeln, was mit einem in der Baubewilligung ausdrücklich verbotenen Bauteil zu geschehen habe; soweit sie sich mit dem Problem überhaupt befassen, tun sie dies unter dem Gesichtswinkel freier Kognition. Nirgends aber wird die Meinung vertreten, es gebe für den Abbruch einer Baute, die der Bauherr mit Vorbedacht
BGE 91 I 94 S. 98
entgegen der unangefochten gebliebenen Baubewilligung erstellt hat, überhaupt keine vertretbaren Gründe. Willkürlich wäre indessen die Anordnung des Abbruches bereits ausgeführter Bauteile nur in diesem Falle.