S. 461 / Nr. 80 Motorfahrzeugverkehr (d)

BGE 78 II 461

80. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 7. Oktober 1952 i. S.
Baggenstoss gegen Waadtländische Versicherung auf Gegenseitigkeit.


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Regeste:
Haltung zwischen Motorfahrzeughaltern: Bestimmung der Ersatzpflicht für
körperlichen Schaden (Art. 39 und 37 Abs. 3 MFG).
Abzug für Vorteile der Kapitalabfindung: Die blosse Möglichkeit zu
nutzbringender Anlage bedeutet keine hinreichende Rechtfertigung.
Responsabilité civile entre détenteurs de véhicules automobiles: Fixation de
la responsabilité en cas de dommage corporel (art. 39 et 37 al. 3 LA).
Réduction de l'indemnité à raison de l'avantage découlant de l'allocation d'un
capital: La simple possibilité de faire des placements fructueux ne suffit pas
pour qu'on doive opérer une telle réduction.
Responsabilità civile tra detentori di autoveicoli: Determinazione della
responsabilità in caso di danno corporale (art. 39 e 37 cp. 3 LCAV).
Riduzione dell'indennità pel atto che è stato accordato un capitale: La
semplice possibilità di effettuare dei collocamenti fruttiferi non basta a
giustificare una siffatta riduzione.

Aus den Erwägungen:
5.- Für den Körperschaden des Klägers Baggenstoss richtet sich die
Ersatzpflicht gemäss Art. 39 MFG «nach diesem Gesetz». Die Rechtsprechung
bezieht die Verweisung auf Art. 37 MFG (BGE 68 II 118, 76 II 230). Danach ist
die Haftung des Halters grundsätzlich gegeben, wenn der Schaden durch den
Betrieb seines Motorfahrzeugs verursacht wird, aber die gänzliche oder
teilweise Befreiung von der Ersatzpflicht aus dem Gesichtspunkte des
Verschuldens vorbehalten. Hier stehen sich zwei Halter von Personenautomobilen
gegenüber. Der Unfall und seine Schadensfolgen gehen sowohl auf die
Verwirklichung der

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den Motorfahrzeugen innewohnenden Betriebsgefahren wie auf schuldhafte
Fahrweise der Halter zurück. Es liegt der Fall des Art. 37 Abs. 3 MFG vor.
a) Die Betriebsgefahren der beteiligten Automobile sind, wie die Vorinstanz
überzeugend ausführt, ungefähr gleichwertig. Somit ergibt sich zunächst aus
der in Art. 37 Abs. 1 MFG aufgestellten Kausalhaftung die hälftige Teilung der
beidseitigen Schäden (BGE 64 II 438 ff., 67 II 186, 68 II 121 f.).
Tritt nun, fährt die Vorinstanz fort, zu diesem primären Haftungsgrund ein
kausales Verschulden der beiden Halter, so erfahren die anhand der Bedeutung
der beidseitigen Betriebsgefahren gefundenen Anteile an der Schadenstragung
lediglich eine Abänderung und sind daher nach wie vor in Rechnung zu stellen,
mögen sie gleichwertig sein oder nicht. Zu berücksichtigen sind das
zusätzliche Verschulden des schädigenden Halters im Sinne einer Erhöhung der
von ihm zu vertretenden Betriebsgefahr und damit einer Heraufsetzung seines
Anteils an der Schadenstragung das zusätzliche Verschulden des geschädigten
Halters als Erhöhung der von ihm zu vertretenden Betriebsgefahr und
gleichzeitig als Selbstverschulden des Geschädigten im Sinne einer
Heraufsetzung seines Anteils, damit einer Reduktion des Anteils des
schädigenden Halters an der Tragung des Schadens. Deshalb sind die beiden
Verschulden gegeneinander abzuwägen und es ist festzustellen, zu Lasten
welches Halters sich eine Verschuldensdifferenz ergibt und welches Ausmass sie
hat. Dann ist die Schadensverteilung, wie sie auf Grund der Kausalhaftung
bestände, zum Nachteil des betreffenden Halters abzuändern, indem die von ihm
zu vertretende Schadensquote im Verhältnis zur Grösse der
Verschuldensdifferenz heraufgesetzt, bzw. indem der andere Halter entsprechend
entlastet wird. Dergestalt gelangt die Vorinstanz bei dem von ihr angenommenen
Verschuldensverhältnis von 2/3 zu 1/3 dazu, den aus Kausalhaftung abgeleiteten
50%igen Anteil des Klägers um die zu seinen Ungunsten vorhandene
Verschuldensdifferenz

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von 1/3 auf 66 2/3% zu erhöhen und die Ersatzpflicht der Beklagten für Neukom
auf 33 1/3% zu ermässigen.
b) Die Betrachtungsweise der Vorinstanz wird von der Berufung als
bundesrechtswidrig abgelehnt. Sie sei unvereinbar mit Art. 39 MFG, der eine
unterschiedliche Behandlung von Sach- und Körperschaden vorsehe und für
letzteren dem geschädigten Halter mehr geben wolle, als er bei einfacher
Teilung nach dem Verschuldensprinzip erhalten würde. Wohl sei richtig, dass
bei gleichwertigen Betriebsgefahren beider Motorfahrzeuge zuerst eine Teilung
des Körperschadens von 50% zu 50% Platz greife. Komme aber zum primären
Haftungsgrund der Betriebsgefahr der sekundäre des Verschuldens hinzu, so sei
eine zweite Teilung nötig, die sich auf das Unverteilte, die restlichen 50%
beschränke. Bei gleichem Verschulden der beiden Halter hätte also die Beklagte
zur Betriebsgefahrquote von 50% weitere 25% (50% von 50%) als zusätzliche
Verschuldensquote zu übernehmen, bei ungleichem Verschulden nach Massgabe des
kantonalen Urteils noch 16 2/3% (33 1/3% von 50%), sodass der Kläger zumindest
66 2/3 % seines Körperschadens zu beanspruchen habe. Die Vorinstanz habe die
Verteilung der Betriebsgefahren und die Verteilung des Verschuldens
durcheinander gebracht. Es handle sich um zwei selbständige Operationen, von
denen jede auf einem besonderen Haftungsgrund beruhe. Es gehe nicht an, das
aus dem Haftungsgrund Betriebsgefahr bereits Zugeteilte ganz oder teilweise
wieder wegzunehmen und nach dem Haftungsgrund des Verschuldens neu zu
verteilen. Nur was noch nicht verteilt sei, lasse sich aus dem zusätzlichen
Haftungsgrund des Verschuldens zusätzlich verteilen.
In ihrer Antwort verwirft die Beklagte die vom Kläger befürwortete
Berechnungsmethode als abwegig. Sie vertritt die Ansicht, gleichwertige
Betriebsgefahren seien, weil sie sich neutralisieren, als Berechnungsfaktoren
neben beidseitigem Verschulden überhaupt wegzulassen. Damit

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kommt sie zur nämlichen Ersatzpflichtbestimmung wie die Vorinstanz.
c) Die von der Vorinstanz in Hinsicht auf Art. 39 MFG vorgenommene Auslegung
und Anwendung des Art. 37 MFG wird dem Grundgedanken der im Gebiete des
Motorfahrzeugverkehrs geltenden besonderen Haftpflichtregelung durchaus
gerecht, wenn auch der zur Lösung führende Weg etwas lang ist. Sind die
Betriebsgefahren der in den Unfall verwickelten Motorfahrzeuge ungefähr gleich
gross, so hat jeder Halter nach den in der Praxis festgelegten Grundsätzen für
die von seinem Fahrzeug verwirklichte Gefahr selber einzustehen, also 50% des
aus den vereinigten Betriebsgefahren erwachsenen Schadens an sich zu tragen
(BGE 64 II 437 f., 68 II 123 f.). Für die verbleibenden 50% hat er einen
Anspruch gegen den anderen Halter. Sind beide Halter schuldig, so ist dem -
gemäss der gesetzlichen Weisung an den Richter, die Entschädigung in Würdigung
aller Umstände festzusetzen - Rechnung zu tragen mit der Wirkung, dass sich
die Haftung des Schädigers verhältnismässig um den eigenen Verschuldensanteil
erhöht und um den Verschuldensanteil des Geschädigten vermindert. Vorliegend
ergibt sich dann für die Beklagte eine Haftung von 50% zuzüglich für
Verschulden Neukoms ¼ von 50% oder 12,5%, zusammen 62,5%, wovon der
Verschuldensanteil des Klägers mit 3/4 von 50% oder 37,5% in Abzug geht,
sodass eine Ersatzpflicht im Umfange von 25% verbleibt.
Analytisch ist diese Berechnungsart richtig. Gewiss führt sie zur gleichen
Aufteilung wie diejenige auf Grund der Verschuldens. Aber wo die Dinge so
einfach liegen wie hier, d.h. gleichwertige Betriebsgefahren, beidseitiges
Verschulden und keine sonst zu beachtenden Umstände gegeben sind, wird die
Auseinandersetzung stets darauf hinauslaufen, dass praktisch die
Betriebsgefahren aus der Rechnung fallen und sich die Bestimmung der
Ersatzpflicht schlussendlich nach der Verschuldensproportion richtet. Das
haben schon die oben genannten Präjudizien zum Ausdruck

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gebracht. BGE 76 II 230 befasst sich hauptsächlich mit der Anwendbarkeit der
Beweislastordnung von Art. 37 Abs. 2 und 3 MFG auf den Tatbestand des Art. 39
MFG und enthält, soweit er sich nebenbei zur Frage der Haftungsregelung und
Entschädigungsbemessung überhaupt äussert, keine Neuerung gegenüber der
früheren Praxis.
Dem Kläger ist zuzugeben, dass bei der umschriebenen Verteilungsart der
geschädigte Halter schlechter wegkommt als andere Strassenbenützer, die nicht
Motorfahrzeughalter sind. Die Erklärung liegt darin, dass eben jener im
Gegensatz zu diesen durch Verwirklichung der Betriebsgefahr seines Fahrzeugs
eine der Schadensursachen selber gesetzt hat und dafür einstehen muss. Gerade
das scheint der Kläger zu übersehen, indem er den von ihm auch für seinen
Schaden neben dem eigenen Verschulden zu vertretenden Faktor der
Betriebsgefahr des eigenen Fahrzeugs nicht einbezieht oder wenigstens nicht
dort, wo er eingestellt werden müsste. Es ist unerfindlich, warum die
dargelegte Berechnungsweise unbillig sein sollte. Eher wäre das von der mit
der Berufung vorgeschlagenen Methode zu sagen, nach welcher der Kläger mehr
als die Hälfte seines Schadens vergütet bekäme, trotzdem er über gleichwertige
Betriebsgefahr hinaus ein dreimal grösseres Verschulden als die Beklagte zu
verantworten hat.
d) Im übrigen ist die kantonale Entschädigungs-Bemessung nur bei der
Ersatzposition für Erwerbseinbusse wegen Dauerinvalidität umstritten. Die
Berufung widersetzt sich dem 10%igen Abzug, den die Vorinstanz vom Barwert der
dem Kläger zukommenden Rente machte.
Schematische Kapitalabzüge hat das Bundesgericht seit BGE 60 II 397 nicht mehr
vorgenommen. Nach wie vor gilt aber der Grundsatz, dass tatsächliche Vorteile
der Kapitalabfindung gegebenenfalls auszugleichen sind. Solcher Massnahme
liegt die Überlegung zugrunde, dass der Geschädigte für den effektiven Schaden
Deckung erhalten, jedoch nicht bereichert werden soll. Und zwar genügt es zur
Rechtfertigung des Abzuges, dass ein mit der

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Kapitalabfindung verbundener Vorteil in sicherer Aussicht steht (BGE 60 II 398
/9).
Allgemein ist vorerst zu bemerken, dass das Verhältnis des anwendbaren
Kapitalisierungszinsfusses zum Geldmarkt, der sich stabilisiert hat und seit
Jahren von einem geringen Leihsatz beherrscht wird, zu einer Herabsetzung des
Rentenkapitals nicht Anlass geben kann. Risikolose Anlagen mit einer
Verzinsung von mehr als 3 bis 3,5 % sind ziemlich selten. Die Tatsache allein,
dass der Kläger die Kapitalabfindung irgendwie nutzbringend anlegen kann und
will, eröffnet daher entgegen der vorinstanzlichen Auffassung noch keine
sichere Aussicht auf einen konkreten Vorteil.
An sich und nach den Parteivorbringen naheliegend ist die Erwartung, der
Kläger werde die Abfindung in seinem Geschäft investieren. Mit der
Möglichkeit, das zu tun, verfügt er über einen momentanen Vorteil, ohne dass
deswegen eine dauernde Besserstellung gewährleistet wäre. Ob eine solche
eintreten wird, hängt nicht nur vom Ausbau des Unternehmens oder von einer
Abtragung der Hypothekarschuld ab, sondern auch vom künftigen geschäftlichen
Erfolg, für den ausser der beruflichen Tüchtigkeit wesentlich die (bleibend um
17 % beeinträchtigte) Arbeitskraft des Klägers und die wechselnde
Wirtschaftslage bestimmend sind. Wie sich in diesen Beziehungen die
Entwicklung gestalten wird, steht dahin. In den Akten fehlen hinreichende
Anhaltspunkte für die Annahme, die Verwendung der Abfindung im eigenen
Geschäft bedeute für den Kläger eine krisensichere Kapitalanlage. Die
Ungewissheit muss zulasten des Schädigers und nicht des Geschädigten gehen.
Daher ist der vorgenommene Abzug zu streichen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 78 II 461
Datum : 01. Januar 1952
Publiziert : 07. Oktober 1952
Quelle : Bundesgericht
Status : 78 II 461
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Haltung zwischen Motorfahrzeughaltern: Bestimmung der Ersatzpflicht für körperlichen Schaden (Art...


BGE Register
60-II-397 • 64-II-436 • 67-II-183 • 68-II-116 • 76-II-229 • 78-II-461
Stichwortregister
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