S. 397 / Nr. 65 Obligationenrecht (d)

BGE 60 II 397

65. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 23. Oktober 1934 i. S.
Meier gegen Steffen.


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Regeste:
Abzug für die Vorteile der Kapitalabfindung: Ein Abzug hat wegen der
Kapitalabfindung nicht schematisch und in jedem Falle Platz zu greifen,
sondern nur dann, aber auch immer dann, wenn nachgewiesen ist, dass im
betreffenden Falle wirkliche Vorteile mit der Kapitalabfindung verbunden sind.

Bei der Frage, ob wegen der Kapitalabfindung ein Abzug zu machen sei, hat das
Bundesgericht jeweilen den Zinsfuss mitberücksichtigt, zu dem die
Kapitalisation der Rente erfolgte. So wurde zur Zeit, als nur die
Kapitalisationstabellen von Soldan mit dem Zinsfuss von 3½% zur Verfügung
standen und dieser Zinsfuss gegenüber den Verhältnissen auf dem Geldmarkt als
zu niedrig erschien, regelmässig ein Abzug gemacht, um so die Übersetzte
Kapitalisation auszugleichen. Als dann 1918 die Tabellen von Piccard
herauskamen, die eine Kapitalisation auf der Grundlage höherer Zinssätze
ermöglichten, ging das Bundesgericht zu den Sätzen von 4 und 4½% über und nahm
dafür von einem Abzug Umgang (BGE 46 II 53; 50 II 195). In der Folge brachte
die wirtschaftliche Hochkonjunktur neue Zinsfusserhöhungen, die dazu führten,
dass trotz des für die Kapitalisation verwendeten Zinsfusses von 4½%
vorübergehend neuerdings Abzüge gemacht wurden (BGE 53 II 53; 54 II 300 und
371). Später, im Gefolge der allgemeinen Zinsfussenkung, kehrte man zu der
abzugslosen Praxis zurück (BGE 56 II 126), und dabei ist es auch geblieben,
seitdem nur noch zu 4% kapitalisiert wird (BGE 60 II 48 f). Hieran ist
festzuhalten. Das müsste heute selbst dann geschehen, wenn die Zinssätze auf
dem

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Geldmarkt wieder im Ansteigen begriffen wären; denn die Rechtsprechung darf
den Zinsfusschwankungen nicht ohne weiteres folgen. Das wurde in BGE 60 II 48
gegenüber der unmittelbaren Anpassung der Kapitalisationssätze ausgesprochen
und gilt nicht minder gegenüber der Anpassung vermittelst Abzügen am Kapital.
Allein das schliesst nicht aus, dass ein Abzug für die wirklichen Vorteile der
Kapitalabfindung Platz zu greifen hat. Die dargestellte bundesgerichtliche
Praxis erörtert im wesentlichen die Frage, ob ein Abzug stattzufinden habe mit
Rücksicht auf den zur Anwendung gebrachten Zinsfuss. Dabei handelt es sich
also eigentlich nicht um Abzüge für die Vorteile der Kapitalabfindung, sondern
um Korrekturen der Kapitalisationsmethode. Der Grundsatz, dass tatsächliche
Vorteile der Kapitalabfindung gegebenenfalls auszugleichen seien, wurde aber
damit nicht aufgegeben, sondern stillschweigend oder sogar ausdrücklich
vorbehalten (vgl. z. B. BGE 46 II 53). Wenn keine solchen Abzüge gemacht
wurden, so hatte das seinen Grund darin, dass in den betreffenden Fällen die
Kapitalabfindung keine greifbaren Vorteile mit sich brachte. Bei der immer
unsicheren wirtschaftlichen Lage und der immer beschränkteren Möglichkeit,
Kapitalien nutzbringend zu verwenden, kann nämlich je länger je weniger davon
die Rede sein, dass der Geschädigte durch die Kapitalabfindung notwendig und
in jedem Falle besser gestellt werde als durch entsprechende Rentenleistungen.
Deshalb sind schematische Abzüge begründeterweise abgelehnt worden. Wo aber im
einzelnen Falle mit der Kapitalabfindung nachgewiesenermassen Vorteile
verbunden sind, hat der Schadenersatzpflichtige nach wie vor einen Anspruch
darauf, dass ihnen bei der Bemessung des Kapitals Rechnung getragen werde.
Durch die Schadenersatzleistung soll der Geschädigte für den effektiven
Schaden gedeckt, aber nicht bereichert werden. Hat er die Möglichkeit, das
Kapital so anzulegen, dass er sich besser stellt, als bei den auf Grund des
effektiven Schadens berechneten Renten, so ist daher ein

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entsprechender Abzug gerechtfertigt; denn eine möglichst vorteilhafte
Verwendung des Kapitals darf ihm auch vom Standpunkt des Ersatzpflichtigen aus
zugemutet werden.
Im vorliegenden Falle hat der Kläger nach den verbindlichen Feststellungen der
Vorinstanz mit dem ihm bereits ausbezahlten Kapital von 50000 Fr. seinen Laden
renovieren und erweitern, sowie ein für den Geschäftsbetrieb verwendbares
Automobil anschaffen können, mit der Wirkung, dass der vorher nicht besonders
gut frequentierte Laden nun besser, nach der Aussage eines Zeugen sogar
ausgezeichnet geht. Damit steht ein mit der Kapitalabfindung verbundener
Vorteil nicht nur in sicherer Aussicht - was zur Rechtfertigung des Abzuges
genügen würde -, sondern dieser Vorteil ist bereits verwirklicht und muss
daher umsoeher berücksichtigt werden.
Dem Mass nach hat das Bezirksgericht die Vorteile der Kapitalabfindung mit 10%
eingeschätzt. Diese Schätzung ist auf jeden Fall nicht übersetzt; bei der
günstigen Anlage, welche das Kapital im eigenen Geschäft des Klägers gefunden
hat, darf wohl angenommen werden, dass seine wirtschaftliche Situation im
erwähnten Umfange verbessert. worden ist.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 60 II 397
Datum : 01. Januar 1934
Publiziert : 23. Oktober 1934
Quelle : Bundesgericht
Status : 60 II 397
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Abzug für die Vorteile der Kapitalabfindung: Ein Abzug hat wegen der Kapitalabfindung nicht...


BGE Register
46-II-50 • 50-II-195 • 53-II-50 • 54-II-300 • 56-II-116 • 60-II-38 • 60-II-397
Stichwortregister
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