BGE 78 II 107
20. Urteil der Il. Zivilabteilung vom 13. März 1952 i. S. M. gegen G.
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Regeste:
Vaterschaftsklage. Unter welchen Voraussetzungen können medizinische
Feststellungen über den Reifegrad des Kindes und die daraus zu erschliessende
Schwangerschaftsdauer die Vermutung gemäss Art. 314 Abs. 1
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 314 - 1 Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar. |
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1 | Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar. |
2 | Die Kindesschutzbehörde kann in geeigneten Fällen die Eltern zu einem Mediationsversuch auffordern. |
3 | Errichtet die Kindesschutzbehörde eine Beistandschaft, so hält sie im Entscheiddispositiv die Aufgaben des Beistandes und allfällige Beschränkungen der elterlichen Sorge fest. |
die durch Mehrverkehr begründeten Zweifel im Sinne von Art. 314 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 314 - 1 Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar. |
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1 | Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar. |
2 | Die Kindesschutzbehörde kann in geeigneten Fällen die Eltern zu einem Mediationsversuch auffordern. |
3 | Errichtet die Kindesschutzbehörde eine Beistandschaft, so hält sie im Entscheiddispositiv die Aufgaben des Beistandes und allfällige Beschränkungen der elterlichen Sorge fest. |
beseitigen? Bedeutung der Tabellen von Labhardt.
Action en paternité. A quelles conditions des constatations d'ordre médical
sur le degré de maturité de l'enfant et les conclusions qu'on peut en tirer au
sujet de la durée de la grossesse peuvent-elles détruire la présomption
instituée par l'art. 314 al. 1 CC ou dissiper les doutes sérieux qui, selon
l'art. 314 al. 2 CC, résultent du fait que la mère a eu des rapports sexuels
avec plusieurs individus? Importance des tables de Labhardt.
Azione di paternità. A quali condizioni accertamenti di carattere medico sul
grado di maturanza dell'infante e le conclusioni che se ne possono trarre
circa la durata della gravidanza possono distrurre la presunzione stabilita
dall'art. 314 cp. 1 CC o dissi. pare i seri dubbi che, giusta l'art. 314 cp. 2
ce, risultano dal fatto che la madre ha avuto relazioni sessuali con più
individui? Importanza delle tabelle di Labhardt.
Der Mutter der am 12. Mai 1950 geborenen Klägerin hatten während der
kritischen Zeit (16. Juli bis 13. November 1949) zwei Männer beigewohnt: am
11. August 1949 M., am 24. und 25. September 1949 K. Das Obergericht des
Kantons Aargau hat die Vaterschaftsklage gegen M. mit Urteil vom 26. Oktober
1951 gutgeheissen auf Grund der Annahme, aus dem Gutachten von Dr. W. über den
Zeitpunkt der Empfängnis ergebe sich, dass eine Zeugung des Kindes am 24.
September 1949 oder später nur eine Wahrscheinlichkeit von 0,9% für sich habe
und daher mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschliessen sei.
Mit seiner Berufung an das Bundesgericht beantragt der Beklagte wie im
kantonalen Verfahren Abweisung der Klage.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Nach Art. 314 Abs. 1
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 314 - 1 Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar. |
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1 | Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar. |
2 | Die Kindesschutzbehörde kann in geeigneten Fällen die Eltern zu einem Mediationsversuch auffordern. |
3 | Errichtet die Kindesschutzbehörde eine Beistandschaft, so hält sie im Entscheiddispositiv die Aufgaben des Beistandes und allfällige Beschränkungen der elterlichen Sorge fest. |
Geschlechtsverkehr der Mutter mit
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dem Beklagten die Vermutung, dass dieser der Vater sei. Dementsprechend
rechtfertigt zunächst auch jeder Mehrverkehr der Mutter während der kritischen
Zeit erhebliche Zweifel über die Vaterschaft des Beklagten im Sinne von Art.
314 Abs. 2. Medizinische Feststellungen über den Reifegrad des Kindes bei der
Geburt und die hieraus zu erschliessende Schwangerschaftsdauer können unter
Umständen die aus der Beiwohnung in der kritischen Zeit sich ergebende
Vermutung der Vaterschaft des Beklagten zerstören oder aber die Zweifel über
diese Vaterschaft beseitigen, die dadurch geweckt wurden, dass die Mutter
während der kritischen Zeit ausser mit dem Beklagten noch mit einem andern
Manne verkehrt hatte. Derartige Feststellungen vermögen jedoch nach dem System
des Gesetzes für sich allein die Vermutung gemäss Art. 314 Abs. 1 bezw. die
durch Mehrverkehr begründeten Zweifel im Sinne von Art. 314 Abs. 2 nicht schon
dann zu entkräften, wenn sie die Vaterschaft des Beklagten bezw. des Dritten
als wenig wahrscheinlich erscheinen lassen, sondern nur dann, wenn sich daraus
schlüssig ergibt, dass der Beklagte bezw. der Dritte unmöglich der Vater sein
kann oder die Vaterschaft des in Frage stehenden Mannes zwar nicht absolut
unmöglich, aber doch äusserst unwahrscheinlich, praktisch ausgeschlossen ist
(BGE 77 II 29 ff. Erw. 3 und dort zit. Rechtsprechung). Bei Prüfung der Frage,
ob diese rechtliche Voraussetzung erfüllt sei, kann nicht einfach auf die vom
Experten bezw. von der Vorinstanz gewählte Formulierung abgestellt werden.
Vielmehr muss untersucht werden, auf welche Grundlagen die Schlussfolgerungen
des Gutachtens und des angefochtenen Urteils sich stützen.
Das vorliegende Gutachten stützt sich wie heute wohl die meisten Gutachten
schweizerischer Ärzte über die Schwangerschaftsdauer im wesentlichen auf die
Tabellen von LABHARDT. Diese beruhen auf einer sehr grossen Zahl von
Einzelbeobachtungen, von denen angenommen werden darf, dass sie so zuverlässig
gemacht wurden, wie
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das auf diesem Gebiete eben möglich ist. Bei der statistischen Bearbeitung
dieser Beobachtungen und der Berechnung von Wahrscheinlichkeitswerten musste
jedoch notgedrungen in gewissen Beziehungen schematisch verfahren werden. So
wurde unterstellt, dass die Empfängnis durchwegs 10 Tage nach dem 1. Tage der
letzten Menstruation erfolgt sei. Dabei handelt es sich, wie LABHARDT selber
erklärt, um einen Mittelwert, von dem nach dem Gutachten von Dr. W. nicht
unbeträchtliche Abweichungen vorkommen können. Ein willkürliches Moment liegt
ausserdem darin, dass die beobachteten Fälle für die Zwecke der
Wahrscheinlichkeitsberechnung nicht nach Tagen, sondern nach Zeiträumen von 10
Tagen (Dekaden) geordnet wurden (offenbar deswegen, weil das Material doch
nicht gross genug war, um die Bestimmung der Wahrscheinlichkeit für jeden
einzelnen Tag zu erlauben). Das Abstellen auf die Dekadenwahrscheinlichkeit
muss namentlich dann gewisse Bedenken erregen, wenn ein Tag am Anfang oder
Ende einer Dekade in Frage steht. Eine vereinfachende Annahme liegt
schliesslich auch der Zusammenfassung der beiden Geschlechter zugrunde. Bei
der Verwendung der Tabellen zum Zwecke, im einzelnen Falle die Möglichkeit der
Zeugung in einem bestimmten Zeitpunkt auszuschliessen, ist daher Vorsicht
geboten.
Das Bundesgericht hat es bisher abgelehnt, einen Mann allein auf Grund der
Wahrscheinlichkeitsberechnung als möglichen Vater auszuschliessen, wenn die
Dekadenwahrscheinlichkeit für die Empfängnis zur Zeit seiner Beiwohnung 1 %
überstieg (vgl. die Angaben in BGE 77 II 31 /32). Anderseits betrachtete es
die Vaterschaft des Beklagten in einem Falle als äusserst unwahrscheinlich, wo
die Wahrscheinlichkeit für die Empfängnis in der Dekade, in welche der Verkehr
mit dem Beklagten fiel, nur 0,1% betrug (BGE 68 II 277 ff.). Im Falle BGE 77
II 28 ff., wo die Wahrscheinlichkeit für die Empfängnis in den fraglichen zehn
Tagen nach LABHARDT 0,5 - 0,6% ausmachte, wurde ausgeführt, auf Grund dieser
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Feststellung dürfe wohl gesagt werden, dass die Vaterschaft des Beklagten
äusserst unwahrscheinlich sei (S. 35). Diese Annahme war aber für das gefällte
Urteil nicht entscheidend, sondern den Ausschlag gab die Erwägung, dass die
geringe Wahrscheinlichkeit der Empfängnis zur Zeit der Beiwohnung des
Beklagten jedenfalls in Verbindung mit dem verdächtigen Verhalten der Mutter
erhebliche Zweifel im Sinne von Art. 314 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 314 - 1 Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar. |
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1 | Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar. |
2 | Die Kindesschutzbehörde kann in geeigneten Fällen die Eltern zu einem Mediationsversuch auffordern. |
3 | Errichtet die Kindesschutzbehörde eine Beistandschaft, so hält sie im Entscheiddispositiv die Aufgaben des Beistandes und allfällige Beschränkungen der elterlichen Sorge fest. |
Die Fälle, in denen die Vaterschaft des Beklagten bezw. des Dritten angesichts
des Reifegrades des Kindes und des zeitlichen Abstandes zwischen Beiwohnung
und Geburt als äusserst unwahrscheinlich, praktisch ausgeschlossen gelten
kann, von den andern Fällen durch eine bestimmte Wahrscheinlichkeitszahl ein
für allemal abzugrenzen, ist in Wirklichkeit kaum angängig. Wo man es mit
prozentual geringen (namentlich mit unter 1% liegenden) Wahrscheinlichkeiten
zu tun hat, wird vielmehr jeweilen unter Berücksichtigung der gesamten
Verumständungen des Falles zu entscheiden sein, ob die Vaterschaft des in
Frage stehenden Mannes mit genügender Sicherheit ausgeschlossen werden könne
oder nicht.
Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Klägerin, die bei der Geburt eine Länge
von 48 cm aufwies und auch sonst die Merkmale eines knapp ausgetragenen Kindes
zeigte, am 24. September 1949 (dem 230. Tage vor der Geburt) oder später
gezeugt wurde, beträgt nach dem auf LABHARDT sich berufenden Gutachten von Dr.
W. ungefähr 0,9%. Für die Dekade vorn 21. bis 30. September (224. bis 233. Tag
vor der Geburt) beträgt die Wahrscheinlichkeit nach der Tabelle im Gutachten
0,5%, für, die folgende Dekade (1. bis 10 Oktober 214. bis 223. Tag vor der
Geburt) noch 0,4% (vgl. auch LABHARDT, Tabelle 7). Diese Prozentzahlen beruhen
darauf, dass für 20 bezw. 15 von insgesamt 3723 Kindern von 48 cm Länge auf
Grund der Angaben über die letzte Menstruation angenommen wurde, die
Empfängnis habe in der IV bezw. V, Dekade nach der mittleren stattgefunden
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(vgl. LABHARDT, Tabelle 6). Da in die V. Dekade noch fast gleich viele Fälle
eingeordnet werden konnten wie in die hier in Betracht fallende IV. Dekade,
lässt sich auf Grund der Tabellen von LABHARDT bei 48 cm langen Kindern eine
Empfängnis in der IV. Dekade nach der mittleren nicht wohl als extremer
Ausnahmefall bezeichnen, zumal dann nicht, wenn die Beiwohnung in der frühern,
der III. Dekade benachbarten Hälfte der IV. Dekade stattgefunden hat, wie es
hier zutrifft.. Dazu kommt, dass die Mutter während der Schwangerschaft
zunächst nicht den Beklagten, sondern K. als deren Urheber bezeichnet hat.
Unter diesen Umständen kann dessen Vaterschaft unter dem Gesichtspunkte von
Art. 314 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 314 - 1 Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar. |
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1 | Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar. |
2 | Die Kindesschutzbehörde kann in geeigneten Fällen die Eltern zu einem Mediationsversuch auffordern. |
3 | Errichtet die Kindesschutzbehörde eine Beistandschaft, so hält sie im Entscheiddispositiv die Aufgaben des Beistandes und allfällige Beschränkungen der elterlichen Sorge fest. |
ausgeschlossen angesehen werden.
Ebensowenig liegen andere Feststellungen (z. B. über die Bluteigenschaften)
vor, die die Vaterschaft K.s ausschlössen.
Die Klage ist daher wegen des Verkehrs mit K. gemäss Art. 314 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 314 - 1 Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar. |
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1 | Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar. |
2 | Die Kindesschutzbehörde kann in geeigneten Fällen die Eltern zu einem Mediationsversuch auffordern. |
3 | Errichtet die Kindesschutzbehörde eine Beistandschaft, so hält sie im Entscheiddispositiv die Aufgaben des Beistandes und allfällige Beschränkungen der elterlichen Sorge fest. |
abzuweisen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau
vom 26. Oktober 1951 aufgehoben und die Klage abgewiesen.