BGE 76 IV 275
60. Urteil des Kassationshofes vom 6. Oktober 1950 i. S. Montandon gegen
Generalprokurator des Kantons Bern.
Seite: 275
Regeste:
Art. 192 Ziff. 2
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 192 |
Art. 192 ch. 2 CP. Un baiser sensuel est-il contraire à la pudeur?
Art. 192 cifra 2 CR. Un bacio voluttuoso è atto di libidine?
A. - Das Obergericht des Kantons Bern verurteilte am 10. Mai 1950 Montandon
wegen wiederholter Unzucht und wiederholten Unzuchtsversuchs mit unmündigen
Pflegebefohlenen von mehr als sechzehn Jahren (Art. 192 Ziff. 2
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 192 |
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 21 - Wer bei Begehung der Tat nicht weiss und nicht wissen kann, dass er sich rechtswidrig verhält, handelt nicht schuldhaft. War der Irrtum vermeidbar, so mildert das Gericht die Strafe. |
zu einer bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von zehn Tagen, weil er in den
Jahren 1946 bis 1948 wiederholt aus Sinnenlust seine Lehrtöchter Heidi W.,
geb. 1931, und Gertrud H., geb. 1930, geküsst und die Lehrtochter Hannelore
J., geb. 1928, zu küssen versucht hatte.
B. - Montandon führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil sei
aufzuheben und die Sache zur Freisprechung des Beschwerdeführers an das
Obergericht zurückzuweisen. Er bestreitet, aus Sinnenlust gehandelt und sich
nach Art. 192
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 192 |
C. - Der Generalprokurator des Kantons Bern beantragt, die Beschwerde sei
abzuweisen.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.- Das Obergericht räumt ein, dass der Beschwerdeführer die Mädchen küsste,
wenn er sie belohnen oder trösten wollte. Es stellt jedoch fest, dass sein
Verhältnis zu ihnen auch eine «erotische Komponente aufwies, d. h. dass die
Küsse auch aus Sinnenlust gegeben wurden. Diese Feststellung ist tatsächlicher
Natur. Sie bindet daher den Kassationshof und kann mit der
Nichtigkeitsbeschwerde nicht angefochten werden (Art. 277bis Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 192 |
Abs. 1 lit. b
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 192 |
2.- Nach Art. 192
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 192 |
Seite: 276
wer mit seinem unmündigen, mehr als sechzehn Jahre alten Lehrling den
Beischlaf vollzieht (Ziff. 1) oder eine andere unzüchtige Handlung vornimmt
(Ziff. 2). Die Bestimmung setzt nicht voraus, dass der Lehrling (Lehrtochter)
solche Handlungen noch nie vorgenommen habe, d.h. vor der Tat noch
«unverdorben» war. Was in BGE 72 IV 67 inbezug auf Art. 191 Ziff. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 191 - Wer eine urteilsunfähige oder eine zum Widerstand unfähige Person zum Beischlaf, zu einer beischlafsähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung missbraucht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
ausgesprochen wurde, muss für alle Bestimmungen gelten, die Kinder oder
Unmündige vor geschlechtlichen Angriffen schützen sollen. Umsoweniger kann
sich der Beschwerdeführer gegen die Strafbarkeit seiner Handlungen darauf
berufen, dass die Mädchen, wie das Obergericht erklärt, bloss nicht unerfahren
waren und ihnen das Verhalten des Beschwerdeführers daher nicht geschadet
haben soll.
3.- Das Küssen ist nicht eine Handlung, die schon an sich, gleichgültig ans
welchem Beweggründe sie vorgenommenen wird, den geschlechtlichen Anstand
verletzen würde und deshalb schlechthin als unzüchtig zu gelten hätte. Das
anerkennt auch das Obergericht. Es hält das Vorgehen des Bcschwerdeführers
bloss deshalb für unzüchtig, weil er unter anderem auch aus Sinnenlust
gehandelt habe. Allein der Beweggrund der Gesclilechtslnst macht eine Handlung
nicht ohne weiteres zur unzüchtigen. Nach dein Urteil des Kassationshofes vom
5. April 1944 in Sachen Gnädiger (RStrS 1944 Nr. 244) liegt eine Verletzung
des geschlechtlichen Anstandes und damit eine unzüchtige Handlung vor, wenn
die Tat in nicht leicht zu nehmender Weise gegen das Sittlichkeitsgefühl
verstösst. An diesem Grundsatz hat die Rechtsprechung seither nichts geändert.
Wenn der Kassationshof in BGE 70 IV 211 das Erfordernis der Sinnenlust
aufgegeben hat, so hat er anderseits doch nicht erklärt, dass die Absicht,
eigenen oder fremden Geschlechtstrieb zu erregen oder zu befriedigen, eine
Handlung notwendigerweise unzüchtig mache, sondern nur, dass dieser Beweggrund
sie unzüchtig machen könne. Ob das der Fall ist, hängt davon ab, ob die
Handlung nach ihrer Art und den gesamten Umständen, zu denen freilich auch der
Seite: 277
Beweggrund gehört, in nicht leicht zu nehmender Weise gegen das
Sittlichkeitsgefühl verstösst.
Das heisst nicht, dass der Verstoss ein schwerer sein müsse; es genügt, dass
er nicht harmlos ist. Se hat der Kassationshof in seinem Urteil vom 5. März
1943 i. S. Anderegg einen Täter bestraft, der den Arm eines Knaben streichelte
und dabei Worte sprach, die seine geschlechtliche Lüsternheit kundgaben.
Sinnliche Küsse an Mädchen im Alter von sechzehn bis achtzehn Jahren sind
jedoch harmlose Verstösse gegen das Sittlichkeitsgefühl, wenn sie dieses
überhaupt verletzen. Der Brauch des Küssens ist zu allgemein verbreitet und
wird auch gegenüber Unmündigen zu oft geübt, als dass ihn schon der Beweggrund
der Sinnenlust zu einem nicht leicht zu nehmenden Verstoss gegen den
geschlechtlichen Anstand machen könnte. Der Kuss müsste denn schon nach seiner
besonderen Art oder nach den Begleitumständen anstössig wirken. Das wird aber
dem Beschwerdeführer nicht vorgeworfen. Das Obergericht nimmt lediglich als
erwiesen an, was der Beschwerdeführer zugestand, nämlich dass er Heidi W. und
Gertrud H. auf den Mund küsste und Hannelore J. zu küssen versuchte. Der
Beschwerdeführer sprach zwar auch noch davon, mit Heidi W. «geschmust» zu
haben. Doch darunter verstand schon der erstinstanzliche Richter nicht mehr,
als dass Montandon das Mädchen W., wie auch Gertrud H., nicht bloss auf die
Wange, sondern auf den Mund geküsst habe, was die übliche Form noch keineswegs
in anstössiger Weise überschreitet.
Demnach erkennt der Kassatianshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des
Kantons Bern vom 10. Mai 1950 aufgehoben und die Sache zur Freisprechung des
Beschwerdeführers an die Vorinstanz zurückgewiesen.