S. 254 / Nr. 54 Strassenverkehr (d)

BGE 76 IV 254

54 Urteil des Kassationshofes vorn 3. November 1950 i. S. Grassl gegen
Motorfahrzeugkontrolle des Kantons Graubünden.


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Regeste:
1. Art. 25 Abs. 1 und 27 Abs. 1 MFG gelten auch für Motorfahrzeuge
öffentlicher Verkehrsbetriebe.
2. Das gleichzeitig von rechts kommende Fahrzeug hat das Vortrittsrecht auch
dann, wenn das andere auf einer Strasse mit dichterem Verkehr fährt. Auch der
auf der Hauptverkehrsader Fahrende hat bei unübersichtlichen Einmündungen die
Geschwindigkeit herabzusetzen.
3. Verhältnis von Art. 27 Abs. 1 zu Art. 25 Abs. 1 MFG.
1. Les art. 25 al. 1 et 27 al. 1 LA visent aussi les véhicules à moteur
d'entreprises publiques.
2. Le véhicule qui vient en même temps de droite jouit de la priorité même si
l'autre roule sur une route plus fréquentée. Le véhicule circulant sur
l'artère la plus importante est aussi tenu de ralentir aux croisées ou aux
bifurcations masquées.
3. Relation entre les art. 27 al. 1 et 25 al. 1 LA.
1. Gli art. 25 cp. 1 e 27 cp. 1 LA valgono anche per gli autoveicoli d'imprese
pubbliche.
2. L'autoveicolo che viene contemporaneamente da destra ha la precedenza,
anche se l'altro autoveicolo circola su una strada più frequentata. Anche
l'autoveicolo che circola sull'arteria più importante è tenuto a rallentare se
ai crocevia e alle biforcazioni la visuale non è libera.
3. Relazione tra gli art. 27 cp. 1 e 25 cp. 1 LA.

A. - Grassl, Chauffeur im Autobusbetrieb des Kurvereins Davos, führte am
Vormittag des 19. Januar 1950 einen kursmässigen Autobus auf der leicht
abfallenden Kantonsstrasse von Davos-Platz nach Davos-Dorf, die einen
hartgepressten und infolge der sehr kalten Witterung gefrorenen Schneebelag
trug. Der Autobus war nicht mit Schneeketten versehen. Bei der von rechts in
spitzem Winkel in die Kantonsstrasse einmündenden Dischmastrasse in Davos-Dorf
stiess er mit einem aus dieser Strasse kommenden, nach links (gegen
Davos-Platz) in die Kantonsstrasse einbiegenden Personenautomobil zusammen,
das von Christian Tester geführt war. Die Sicht von der einen in die andere
Strasse war am Unfalltage durch einen bei der Einmündung zwischen den beiden
Strassen liegenden Sehneehaufen behindert. Der Autobus fuhr bei der Annäherung
an die Dischmastrasse mit 27-28 km/Std. Er kam, nach links abgedreht und unter
Hinterlassung verhältnismässig kurzer Brems- und Rutschspuren, nach dem

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Zusammenstoss an der Einmündung der Dischmastrasse zum Stehen. Beide
Fahrzeuge, namentlich das Personenautomobil, wurden beschädigt.
B. - Die Motorfahrzeugkontrolle des Justiz- und Polizeidepartementes des
Kantons Graubünden büsste am 8. März 1950 die beiden Fahrzeugführer wegen
übersetzter Geschwindigkeit in Anwendung von Art. 25 Abs. 1 und Art. 58 MFG,
Grassl mit Fr. 30.-, Tester mit Fr. 20.-.
Grassl beschwerte sich beim Kleinen Rat des Kantons Graubünden. Dieser nahm in
seinem Entscheid vom 4. August 1950 an, beide Fahrzeugführer treffe ein gleich
grosses Verschulden, und hiess die Beschwerde teilweise dahin gut, dass er die
Busse für Grassl ebenfalls auf Fr. 20.- festsetzte.
C. - Grassl führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der Entscheid des
Kleinen Rates sei aufzuheben und der Beschwerdeführer freizusprechen. Die
Beschwerde wird im wesentlichen damit begründet, dass die Fahrzeuge der
öffentlichen Verkehrsbetriebe privilegiert sein müssten, weil sie den Fahrplan
einzuhalten hätten. Auf alle Fälle müsse das Privileg dahin gehen, dass ihnen
das Vortrittsrecht zukomme. Strassen, auf denen Fahrzeuge des öffentlichen
Verkehrs zirkulierten, müssten deshalb immer als Hauptverkehrsstrassen
angesehen werden. Der Lenker eines öffentlichen Verkehrsmittels müsse sich
darauf verlassen können, dass sein Vortrittsrecht von anderen Motorfahrzeugen
beachtet werde. Der Zusammenstoss sei nicht auf übersetzte Geschwindigkeit des
Autobusses zurückzuführen, sondern darauf, dass Tester ganz sorglos in die
Hauptverkehrsstrasse eingebogen sei und dazu noch die Biegung eng genommen
habe.
D. - Die kantonale Motorfahrzeugkontrolle beantragt, die Beschwerde sei
abzuweisen.
Der Kassationshof zieht in Erwägung.
1.- Der Führer muss sein Fahrzeug ständig beherrschen und die Geschwindigkeit
den gegebenen Strassen- und Verkehrsverhältnissen anpassen. Er hat namentlich
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Ortschaften und auch sonst überall da, wo das Fahrzeug Anlass zu
Verkehrsstörung oder Unfällen bieten könnte, den Lauf zu mässigen oder
nötigenfalls anzuhalten (Art. 25 Abs. 1 MFG). An Strassenkreuzungen und
Strassengabelungen hat er die Geschwindigkeit so zu mässigen, dass er dem von
rechts kommenden Motorfahrzeug den Vortritt lassen kann (Art. 27 Abs. 1 MFG).
Inwiefern diese Vorschriften für Motorfahrzeuge öffentlicher Verkehrsbetriebe
nicht gelten sollten, ist nicht zu ersehen. Das Gesetz macht für solche
Fahrzeuge keine Ausnahme, und auch die Vollziehungsverordnung zum
Motorfahrzeuggesetz stellt für sie Sondervorschriften nur insoweit auf, als
die Natur der Sache sie zwingend nahe legt, nämlich für Strassenbahnen, denen
gegenüber der Motorfahrzeugführer sich nach besonderen Regeln verhalten muss,
weil sie auf Schienen fahren (Art. 61 MFV). Es versteht sich, dass derart
einschneidende Ausnahmen von der allgemeinen Verkehrsordnung, wie der
Beschwerdeführer sie wünscht, nicht auf dem Wege der Rechtsprechung eingeführt
werden können. Das Bundesgericht hat es denn auch stets abgelehnt, den
Fahrzeugen öffentlicher Verkehrsbetriebe inbezug auf Fahrgeschwindigkeit ein
Privileg zuzuerkennen. Nicht einmal die Strassenbahnen haben ein solches; die
Sorge für die Sicherheit des Verkehrs verdient den Vorrang vor der Sorge für
die Einhaltung des Fahrplanes (BGE 61 I 408). Umsomehr muss das für
Motorfahrzeuge gelten, denen die anderen Strassenbenützer nicht
notwendigerweise ansehen, ob sie dem öffentlichen Verkehr dienen oder privaten
Verkehr besorgen. Es würde zu Unsicherheit führen, die die Gefahren des
Strassenverkehrs erhöhen würde, wenn Motorfahrzeuge öffentlicher Betriebe
unter Berufung auf den Fahrplan die Verkehrsregeln missachten, insbesondere
die den Strassen- und Verkehrsverhältnissen angemessene Geschwindigkeit
überschreiten und Vortrittsrechte beanspruchen dürften, die andere
Motorfahrzeuge in gleicher Lage nicht haben. Die öffentlichen Verkehrsbetriebe
haben Verzögerungen und Stockungen,

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die sich aus der Konkurrenz mit dem übrigen Strassenverkehr und den dafür
geltenden Vorschriften notwendig ergeben, bei Aufstellung der Fahrpläne
einzurechnen, und sie tun es auch. Genügt im einzelnen Falle der vorgesehene
Spielraum nicht, um eine Verspätung zu vermeiden dass das im vorliegenden
Falle zugetroffen habe, wird übrigens nicht einmal behauptet -, so berechtigt
das den Führer des öffentlichen Fahrzeugs nicht, sich über die
Verkehrsvorschriften hinwegzusetzen.
Der Beschwerdeführer hatte daher Art. 25 Abs. 1 und 27 Abs. 1 MFG in gleicher
Weise zu befolgen wie jeder andere Motorfahrzeugführer.
2.- Eine Privilegierung in dem Sinne, wie der Beschwerdeführer sie
beanspruchen möchte, ergibt sich auch nicht daraus, dass er auf der
Hauptverkehrsader gefahren ist. Gewiss hat nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichts (BGE 63 I 126; 64 II 158; 68 II 126; 71 IV 100) der aus einer
Nebenstrasse kommende Vortrittsberechtigte dem Umstande Rechnung zu tragen,
dass der Verkehr auf der Hauptverkehrsader dichter ist und flüssiger sein darf
als auf der Nebenstrasse; er darf Sein Vortrittsrecht nicht ausüben, wenn der
mit angemessener Geschwindigkeit auf der Hauptader Fahrende nicht mehr in der
Lage ist, ihm den Vortritt zu lassen. Das bedeutet aber nicht, dass der auf
der Hauptverkehrsader fahrende Führer sich schlechthin so verhalten dürfte,
als ob er der Vortrittsberechtigte wäre, es den aus den Nebenstrassen
Kommenden überlassend, sich vorzusehen, dass sie mit seinem Fahrzeug nicht
zusammenstossen. Eine solche Ordnung widerspräche dem Art. 27 MFG (BGE 73 IV
196
). Die Benützer der Hauptverkehrsader haben zum vornherein damit zu
rechnen, dass sie in die Lage kommen könnten, einem aus der Nebenstrasse
Kommenden den Vortritt lassen zu müssen; sie haben ihre Geschwindigkeit
jedenfalls bei unübersichtlichen Einmündungen herabzusetzen.
3.- Der Beschwerdeführer hat das nicht, jedenfalls nicht in angemessener
Weise, getan. Für schwere

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Motorwagen, wie der von ihm geführte Autobus einer ist, setzt Art. 43 MFV die
Höchstgeschwindigkeit innerorts auf 30 km/Std. fest. Diese
Höchstgeschwindigkeit versteht sich ihrem Wesen nach für normale und gute
Fahrverhältnisse. Für die vorliegenden anormalen Verhältnisse genügte es daher
nicht, bloss um 2-3 km/Std. langsamer zu fahren.
Nach der verbindlichen Feststellung der Vorinstanz war der Schneebelag der
Strasse hartgepresst und gefroren. Dadurch wurde die Anhaltemöglichkeit
beeinträchtigt; je glätter und härter die Unterlage ist, umso geringer ist die
Adhäsion der Fahrzeugreifen und umso schwächer die Bremswirkung. Die
Vorinstanz stellt denn auch verbindlich fest, dass die Wirkung der Bremsen bei
solcher Fahrbahn, wie sie hier vorlag, mit oder ohne Schneeketten
unberechenbar ist. Die Behauptung des Garagechefs Rohner vom Kurverein, von
der der Beschwerdeführer selber sagt, sie möge auf den ersten Blick als
unmöglich erscheinen, ist demgegenüber nicht zu hören, ganz abgesehen davon,
dass sie der Erfahrung widerspricht. Ob dem Beschwerdeführer der Schneebelag
tatsächlich zum Verhängnis geworden ist, ist unerheblich, wie auch
dahingestellt bleiben kann, ob die den Verhältnissen nicht angepasste
Geschwindigkeit Ursache oder Mitursache des Zusammenstosses geworden ist. Art.
25 Abs. 1 und Art. 27 Abs. 1 MFG setzen nicht eine konkrete Gefährdung des
Verkehrs oder sogar eine Hinderung oder Störung desselben voraus; die dort
umschriebenen Tatbestände werden der abstrakten Gefährdung wegen mit Strafe
bedroht. Wer in einer den Verhältnissen unangemessenen Weise fährt, ist
strafbar auch dann, wenn es zu keinem Zusammenstoss kommt. Die
verhältnismässig kurzen Spuren, die der Autobus hinterliess, beweisen übrigens
nicht, dass der Beschwerdeführer die Geschwindigkeit seines Fahrzeuges
beherrschte, denn nach dem Polizeirapport handelte es sich um Brems- und
Rutschspuren, diese offenbar verursacht durch den Zusammenstoss mit dem Wagen
des Tester, sodass die Länge der Spur

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nichts Schlüssiges darüber sagt, wie lange der Bremsweg an sich gewesen wäre.
Dazu kommt, dass die Strasse in der Fahrrichtung des Autobus ein, wenn auch
nur leichtes, Gefälle hat.
Vor allem aber hatte der Beschwerdeführer auch dem Umstande Rechnung zu
tragen, dass in dem durch die beiden Strassen gebildeten spitzen Winkel ein
Schneehaufen lag, der die Sicht von der Kantonsstrasse in die Einmündung der
Dischmastrasse und umgekehrt behinderte. Das mag weniger für den
Beschwerdeführer auf dem hochgelegenen Führersitz im Autobus als für kleinere
aus der Dischmastrasse kommende Fahrzeuge von Bedeutung gewesen sein, doch
musste eben der Beschwerdeführer mit solchen rechnen.
4.- Nach dem Gesagten wäre der Beschwerdeführer nicht gestützt auf die
allgemeine Norm des Art. 25 Abs. 1, sondern nach der Sondernorm des Art. 27
Abs. 1 MFG zu bestrafen gewesen (BGE 73 IV 196). Das ändert jedoch am
Verschulden nichts, und der Strafrahmen ist für Übertretung beider
Bestimmungen derselbe (Art. 58 MFG).
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 76 IV 254
Datum : 01. Januar 1949
Publiziert : 03. November 1950
Quelle : Bundesgericht
Status : 76 IV 254
Sachgebiet : BGE - Strafrecht und Strafvollzug
Gegenstand : 1. Art. 25 Abs. 1 und 27 Abs. 1 MFG gelten auch für Motorfahrzeuge öffentlicher Verkehrsbetriebe.2...


Gesetzesregister
MFV: 43  61
BGE Register
61-I-407 • 63-I-123 • 64-II-155 • 68-II-116 • 71-IV-96 • 73-IV-194 • 76-IV-254
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
vortritt • kantonsstrasse • nebenstrasse • fahrplan • kassationshof • fahrender • weiler • strassenbahn • verhalten • vorinstanz • bundesgericht • fahrzeugführer • angepasste geschwindigkeit • wetter • entscheid • angemessenheit • strasse • kantonales rechtsmittel • norm • busse
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