S. 194 / Nr. 50 Motorfahrzeugverkehr (d)

BGE 73 IV 194

50. Urteil des Kassationshofes vom 12. September 1947 i. S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Luzern gegen Bucher.


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Regeste:
Art 27 Abs. 1 MFG
Einem gleichzeitig von rechts kommenden Motorfahrzeug ist der Vortritt auch
dann zu lassen wenn der Verpflichtete auf einer Strasse mit dichterem Verkehr
fährt als der Vortrittsberechtigte.
Verhältnis von Art. 27 Abs. 1 zu Art. 25 Abs. 1 MFG.
Art. 27 al. 1 LA. Le véhicule qui vient en même temps de droite à la priorité,
même si l'autre roule sur une route plus fréquentée.
Relation entre les art. 27 al. 1 et 25 al. 1 LA.
Art 27, cp. 1 LCAV.
L`autoveicolo che viene contemporaneamento da destra ha la precedenza, anche
se l'altro autoveicolo circola su una strada più frequentata.
Relazione tra gli art. 27, cp. 1, e 26, cp. 1 LCAV.

A. ­ Am 3. Januar 1947 kurz vor Mittag führte Bucher einen mit Schneeketten
versehenen Autobus der städtischen Verkehrsbetriebe mit etwa 30 km/h durch die
mit festgefahrenem Schnee bedeckte Militärstrasse in Luzern. Trotzdem aus der
von rechts einmündenden Gütschstrasse ein von Gloor geführter Lieferungswagen
sich näherte und nach links in die Militärstrasse einzufahren im Begriffe war,
hielt Bucher nicht an, noch verminderte er die Geschwindigkeit seines
Fahrzeuges. Gloor, der ungefähr gleich schnell fuhr, versuchte anzuhalten. Der
Lieferungswagen, dessen Räder keine Schneeketten trugen, begann jedoch zu
gleiten und stiess mit dem rechten vorderen Kotflügel in die rechte Seite des
Autobus.
B. ­ Am 27. Mai 1947 sprach das Amtsgericht Luzern-Stadt Bucher von der
Anklage der Übertretung von Art. 25 und 27 MFG frei. Es führte aus, es treffe
an sich zu, dass der Angeschuldigte seine Fahrweise den gegebenen

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Strassenverhältnissen nicht angepasst habe und infolgedessen nicht in der Lage
gewesen sei, den vortrittsberechtigten Lieferungswagen durchfahren zu lassen.
Es müsse jedoch berücksichtigt werden, dass die Gütschstrasse eine
ausgesprochene Seitenstrasse sei während der Militärstrasse immer mehr der
Charakter einer Hauptverkehrsader zukomme. Auf ihr verkehre auch der
städtische Autobus. Diese Verhältnisse habe Gloor gekannt. Der auf der
Hauptverkehrsader fahrende Bucher sei nicht verpflichtet gewesen, vor jeder
Einmündung einer Seitenstrasse so stark abzubremsen, dass er von rechts
einbiegenden Fahrzeugen unter allen Umständen den Vortritt lassen konnte.
Wollte man dies verlangen, so würde ein reibungsloser und flüssiger Verkehr
auf Hauptverkehrsadern unmöglich. Trotz des Vortrittsrechts hätte Gloor die
Geschwindigkeit mässigen und so in die Militärstrasse einfahren sollen, dass
er das Vortrittsrecht ohne Gefährdung der auf dieser Strasse mit einer ihr
angepassten Geschwindigkeit verkehrenden Fahrzeuge hätte ausüben können.
Bucher habe damit rechnen dürfen, dass sich der Führer des Lieferungswagens
pflichtgemäss verhalte, und habe daher unter den gegebenen Umständen keinen
Grund gehabt, die Fahrt des Autobus zu hemmen.
C. ­ Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern führt gegen dieses Urteil
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, es sei aufzuheben und die Sache zur
Bestrafung Buchers wegen Übertretung von Art. 25 Abs. 1 MFG an die Vorinstanz
zurückzuweisen.
Bucher beantragt, die Nichtigkeitsbeschwerde sei abzuweisen.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
Nach Art. 27 Abs. 1 MFG hatte der Führer des von rechts kommenden
Lieferungswagens das Vortrittsrecht. Trotzdem war er nach der Rechtsprechung
des Bundesgerichts gehalten, so vorsichtig zu fahren, als es die Umstände
erforderten, insbesondere zu berücksichtigen, dass der

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Verkehr auf der Militärstrasse als einer Hauptverkehrsader dichter ist und
flüssiger sein darf als auf der Gütschstrasse; der Berechtigte darf den
Vortritt nicht ausüben, wenn der Führer des anderen Fahrzeuges nicht mehr in
der Lage ist, ihn zu gewähren (BGE 71 IV 100 und dort zitierte Urteile).
Allein im vorliegenden Falle geht es nicht um die Frage, ob Gloor als
Vortrittsberechtigter richtig gefahren sei, sondern ob ihm Bucher den Vortritt
gelassen habe. Welchen Fehler immer Gloor begangen habem mag, blieb er doch
vortrittsberechtigt und hatte deshalb Bucher ihm den Vortritt zu lassen und so
zu fahren, dass ihm dies möglich war. Die erwähnte Rechtsprechung hat nicht
den Sinn, dass der Führer auf der verkehrsreicheren Strasse unbekümmert um die
von rechts kommenden Fahrzeuge drauflosfahren dürfte, es diesen überlassend,
den zum Einmünden oder Kreuzen geeigneten Zeitpunkt abzuwarten. Das liefe auf
die Aufhebung des Vortrittsrechts des von rechts kommenden Fahrzeuges hinaus
und ginge gegen den klaren Wortlaut von Art. 27 Abs. 1 MFG.
Im vorliegenden Falle ist nun nicht bestritten, dass Bucher dem
Lieferungswagen den Vortritt nicht hat lassen wollen, sondern mit
unverminderter Geschwindigkeit ungeachtet des von rechts kommenden Fahrzeugs
vor der Einmündung der Gütschstrasse durchgefahren ist. Das durfte er nicht
tun. Bei gehöriger Aufmerksamkeit konnte er so früh in die Gütschstrasse
hineinsehen, dass es ihm bei angemessener Geschwindigkeit möglich war,
rechtzeitig anzuhalten und dem andern den Vortritt zu lassen. Sollte eine
Geschwindigkeit von 30 km/h dies nicht erlaubt haben, so hätte Bucher sie, wie
Art. 27 Abs. 1 MFG es vorschreibt, bei der Annäherung an die Gütschstrasse
herabsetzen sollen. Er ist wegen Übertretung von Art. 27 Abs. 1 zu bestrafen.
Die allgemeine Norm des Art. 26 Abs. 1 MFG, auf den sich die
Staatsanwaltschaft ebenfalls beruft, verpflichtete Bucher nicht zu einer
anderen Fahrweise als die Sondernorm des Art. 27 Abs. 1 MFG.

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Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Amtsgerichts
Luzern-Stadt vom 27. Mai 1947 aufgehoben und die Sache zur Verurteilung des
Beschwerdegegners wegen Übertretung von Art. 27 Abs. 1 MFG an die Vorinstanz
zurückgewiesen.
Vgl. auch Nr. 47. ­ Voir aussi no 47.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 73 IV 194
Datum : 01. Januar 1947
Publiziert : 11. September 1947
Quelle : Bundesgericht
Status : 73 IV 194
Sachgebiet : BGE - Strafrecht und Strafvollzug
Gegenstand : Art 27 Abs. 1 MFGEinem gleichzeitig von rechts kommenden Motorfahrzeug ist der Vortritt auch dann...


BGE Register
71-IV-96 • 73-IV-194
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