S. 120 / Nr. 16 Erbrecht (d)

BGE 76 II 120

16. Auszug aus dem Urteil der Il. Zivilabteilung vom 16. Februar 1950 i. S.
Hersche gegen Wwe Hersche.


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Regeste:
Bäuerliches Erbrecht (Art. 620 ff . ZGB in der Fassung gemäss Art. 94
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 94 - Die Ehe kann von zwei Personen eingegangen werden, die das 18. Altersjahr zurückgelegt haben und urteilsfähig sind.
des
Entschuldungsgesetzes vom 12. Dezember 1940). Das Vorrecht der Söhne gemäss
Art. 621
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 94 - Die Ehe kann von zwei Personen eingegangen werden, die das 18. Altersjahr zurückgelegt haben und urteilsfähig sind.
ZGB gilt auch gegenüber dem überlebenden Ehegatten des Erblassers.
Droit successoral paysan (art. 620 et suiv. CC, modifiés par l'art. 94 de la
loi fédérale sur le désendettement des domaines agricoles du 12 décembre
1940).
Le privilège que l'art. 621 al. 3 CC accorde aux fils peut être également
invoqué contre le conjoint survivant du de cuius.

Diritto successorio rurale (art. 620 e seg. CC, modificati dall'art. 94 della
legge 12 dicembre 1940 sullo sdebitamento dei poderi agricoli).
Il privilegio che l'art. 621 cp. 3 CC accorda ai figli può essere pure
invocato nei confronti del coniuge superstite del de cuius.
Aus dem Tatbestand:
Der am 5. April 1949 verstorbene Landwirt Josef Anton Hersche in Niederteufen
hat als gesetzliche Erben die Frau zweiter Ehe und Nachkommen aus erster und
zweiter Ehe hinterlassen. Das in der Erbschaft befindliche landwirtschaftliche
Gewerbe wird von zwei Erben, und zwar von jedem für sich allein, nach
bäuerlichem Erbrecht (Art. 620 ff . ZGB) beansprucht: von der Witwe des
Erblassers, Frau Anna Maria Hersche-Tanner, und von einem Sohn aus dessen
erster Ehe, Otto Hersche. Die kantonalen Behörden haben dieses Gewerbe der
Witwe zugesprochen. Mit vorliegender Berufung hält Otto Hersche am Antrage
fest, die beiden Grundstücke samt lebendem und totem Inventar seien ihm
zuzuweisen, alles zum Ertragswerte.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
..... Der Regierungsrat schützt den Anspruch der Witwe vor demjenigen des
Sohnes deshalb, weil sie seit

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vielen Jahren auf dem Gute des Erblassers lebt und arbeitet und deshalb vor
dem auswärts als Knecht arbeitenden Sohn den Vorzug verdiene. Damit
berücksichtigt die angefochtene Entscheidung «die persönlichen Verhältnisse
der Erben». Diese fallen allerdings nach Art. 621 Abs. 1
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 94 - Die Ehe kann von zwei Personen eingegangen werden, die das 18. Altersjahr zurückgelegt haben und urteilsfähig sind.
ZGB beim Fehlen eines
Ortsgebrauches in Betracht. Indessen sind nach Art. 621 Abs. 2 und 3 vorweg
andere Gesichtspunkte entscheidend. Abs. 2 legt Gewicht auf den Willen zum
Selbstbetrieb (der hier bei beiden Parteien vorhanden ist), und Abs. 3
bestimmt: Will keiner der Söhne das Gut zum Selbstbetrieb übernehmen, so sind
auch Töchter zur Übernahme berechtigt, sofern sie selbst oder ihre Ehemänner
zum Betriebe geeignet erscheinen. Die Rechtsprechung hat hieraus ein Vorrecht
der zum Selbstbetriebe bereiten und geeigneten Söhne gegenüber allen übrigen
Erben und ebenso beim Fehlen solcher Söhne ein Vorrecht der die Bedingungen
dieser Vorschrift erfüllenden Töchter gegenüber allen übrigen Erben abgeleitet
(BGE 42 II 426, 44 II 237), und zwar auch gegenüber dem überlebenden Ehegatten
des Erblassers (BGE 50 II 459). Die letzte Frage wurde dann in BGE 69 II 385
(besonders 389) wiederum offen gelassen. Sie war bei der Gesetzesberatung
unerörtert geblieben und wird im Schrifttum als nicht abgeklärt betrachtet
(vgl. BOREL, Das bäuerliche Erbrecht, 3. Aufl. 1939, S. 94/95 Anmerkung 14).
Das Vorrecht der Söhne, die zum Selbstbetriebe bereit und geeignet sind, ist
jedoch, wie gegenüber Töchtern, so auch gegenüber allen andern Erben
anzuerkennen. Dem überlebenden Ehegatten ist in Art. 621
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 94 - Die Ehe kann von zwei Personen eingegangen werden, die das 18. Altersjahr zurückgelegt haben und urteilsfähig sind.
ZGB keine besondere
Stellung eingeräumt. Indem dieser Artikel gar nicht vom überlebenden Ehegatten
spricht, zählt er ihn einfach zu den in Abs. 3 nicht genannten andern Erben,
denen gegenüber das Vorrecht der Söhne zur Geltung kommen muss. Die Auslegung
des Art. 621
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 94 - Die Ehe kann von zwei Personen eingegangen werden, die das 18. Altersjahr zurückgelegt haben und urteilsfähig sind.
ZGB führt somit zur Anerkennung des Vorrechtes eines Sohnes auch
gegenüber der Witwe des Erblassers. Zu einem andern Ergebnis könnte man nur
bei Annahme einer Gesetzeslücke in

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Anwendung von Art. 1
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 1 - 1 Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält.
1    Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält.
2    Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll das Gericht4 nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die es als Gesetzgeber aufstellen würde.
3    Es folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung.
ZGB gelangen. Dazu besteht jedoch kein hinreichender
Grund, zumal nachdem der Gesetzgeber bei der Revision der Art. 619 ff
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 619 - Für die Übernahme und Anrechnung von landwirtschaftlichen Gewerben und Grundstücken gilt das Bundesgesetz vom 4. Oktober 1991541 über das bäuerliche Bodenrecht.
. ZGB im
Entschuldungsgesetz keine Veranlassung genommen hat, den Art. 621
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 94 - Die Ehe kann von zwei Personen eingegangen werden, die das 18. Altersjahr zurückgelegt haben und urteilsfähig sind.
ZGB in einem
von jener Rechtsprechung abweichenden Sinne zu ergänzen. Man kann es als
stossend empfinden, dass dem überlebenden Ehegatten nicht einmal ein
gesetzliches Wohnrecht auf dem Bauerngute eingeräumt ist. Der Berufungskläger
hat der Berufungsbeklagten in kantonaler Instanz vergleichsweise eine
entsprechende Lösung vorgeschlagen. Es muss den Parteien überlassen bleiben,
sich darüber allenfalls noch zu einigen. Ein Anspruch auf Zuweisung des
Eigentums steht der Witwe dagegen nicht zu. Die Zuweisung würde ihr freies
Eigentum verschaffen, denn den Nachkommen verfangenes Eigentum ist dem ZGB
fremd. Dem Berufungskläger wäre das Gewerbe vermutlich auf immer entzogen. Dem
Gesetzgeber kann nicht der Wille zugeschrieben werden, ein
landwirtschaftliches Gewerbe dergestalt in eine andere Familie gelangen zu
lassen, wenn Söhne des Erblassers willens und in der Lage sind, es gemäss Art.
621 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 619 - Für die Übernahme und Anrechnung von landwirtschaftlichen Gewerben und Grundstücken gilt das Bundesgesetz vom 4. Oktober 1991541 über das bäuerliche Bodenrecht.
und 3
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 619 - Für die Übernahme und Anrechnung von landwirtschaftlichen Gewerben und Grundstücken gilt das Bundesgesetz vom 4. Oktober 1991541 über das bäuerliche Bodenrecht.
ZGB zu übernehmen. Der Entwurf des Entschuldungsgesetzes sah
die Zuweisung an den überlebenden Ehegatten in einem besondern Falle vor,
nämlich wenn der Erblasser unmündige Kinder als Erben hinterlässt (neue
Fassung von Art. 621
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 94 - Die Ehe kann von zwei Personen eingegangen werden, die das 18. Altersjahr zurückgelegt haben und urteilsfähig sind.
ZGB, zweiter Satz, gemäss Art. 85 des Entwurfes:
Bundesblatt 1936 II S. 336, dazu die Botschaft S. 302). Auch in dieser
eingeschränkten Form fand die Bestimmung aber nicht die Billigung des
Gesetzgebers. Auf Antrag der ständerätlichen Kommission wurde für den
betreffenden Fall statt der Zuweisung an den überlebenden Ehegatten das
Fortbestehen der Erbengemeinschaft oder die Bildung einer Gemeinderschaft für
richtig befunden. So soll es denn auch nun nach Art. 621 bis
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 619 - Für die Übernahme und Anrechnung von landwirtschaftlichen Gewerben und Grundstücken gilt das Bundesgesetz vom 4. Oktober 1991541 über das bäuerliche Bodenrecht.
ZGB grundsätzlich
gehalten werden «bis zu dem Zeitpunkte, in welchem nach den Umständen eine
Entscheidung über die Zuweisung an einen Nachkommen getroffen

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werden kann» (was hier bereits der Fall ist). Ständerat Meyer bezeichnete die
Zuweisung der Liegenschaft des Mannes an die Frau zu Eigentum als
«unglücklich». «Dann laufen die Kinder Gefahr, dass bei Wiederverheiratung der
Mutter das väterliche Erbe an den Stiefvater verkauft wird, oder dass die
Stiefgeschwister, die Kinder aus der zweiten Ehe, die Liegenschaft an sich
ziehen. . . Es wäre besser, in einem solchen Fall eine Gemeinderschaft zu
bilden, wenigstens bis zur Volljährigkeit der männlichen Erben» (Sten. Bull.
1938 Ständerat S. 593). Man hielt also ein dem überlebenden Ehegatten
vorgehendes Anrecht der Söhne auf Eigentumserwerb für durchaus angebracht.
Angesichts des auf dieser Betrachtung beruhenden neuen Art. 621 bis in
Verbindung mit der erwähnten Rechtsprechung, die der Gesetzgeber bei der
Revision des bäuerlichen Erbrechts unangetastet liess, kann die vom
Regierungsrat getroffene Entscheidung nicht bestätigt werden. Gewiss wäre es
billig, dem überlebenden Ehegatten Gewähr dafür zu bieten, dass er zeitlebens
oder doch bis zur allfälligen Wiederverheiratung auf dem Heimwesen des
Erblassers bleiben könne. Nachdem das Gesetz darauf nicht Bedacht nimmt, geht
es aber nicht an, einen solchen Schutz durch Zuweisung freien Eigentums zu
bieten, entgegen dem bessern Anrecht eines Sohnes.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird gutgeheissen und das Urteil des Regierungsrates des Kantons
Appenzell A.-Rh. vom 1. November 1949 aufgehoben, und es werden die
Liegenschaften Nr. 1096 und 1097 des Grundbuches Teufen samt lebendem und
totem Inventar dem Berufungskläger Otto Hersche als Eigentum zugewiesen, alles
zum Ertragswert.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 76 II 120
Datum : 01. Januar 1949
Publiziert : 16. Februar 1950
Quelle : Bundesgericht
Status : 76 II 120
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Bäuerliches Erbrecht (Art. 620 ff. ZGB in der Fassung gemäss Art. 94 des Entschuldungsgesetzes vom...


Gesetzesregister
ZGB: 1 
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 1 - 1 Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält.
1    Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält.
2    Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll das Gericht4 nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die es als Gesetzgeber aufstellen würde.
3    Es folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung.
94 
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 94 - Die Ehe kann von zwei Personen eingegangen werden, die das 18. Altersjahr zurückgelegt haben und urteilsfähig sind.
619 
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 619 - Für die Übernahme und Anrechnung von landwirtschaftlichen Gewerben und Grundstücken gilt das Bundesgesetz vom 4. Oktober 1991541 über das bäuerliche Bodenrecht.
620  621  621bis
BGE Register
42-II-426 • 44-II-237 • 50-II-459 • 69-II-385 • 76-II-120
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
ehegatte • erbe • erblasser • eigentum • vorrecht • witwe • bäuerliches erbrecht • ehe • wille • regierungsrat • nachkomme • ertragswert • wiederverheiratung • inventar • bundesgericht • gemeinderschaft • entscheid • landwirtschaftsbetrieb • appenzell innerrhoden • unternehmung
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