S. 222 / Nr. 52 Verfahren (d)

BGE 71 IV 222

52. Entscheid des Kassationshofes vom 16. November 1945 iss. Woodtli gegen
Essig.

Regeste:
Art. 268 Abs. 2 BStrP. Die Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof ist
gegen das Urteil der letzten kantonalen Instanz zu richten, welcher die
Rechtsanwendung schlechthin oblag, ungeachtet einer gegen ihr Urteil noch
offenstehenden kantonalen Beschwerde wegen Willkür.
Art. 268 al. 2 PPF. Le pourvoi en nullité à la Cour de cassation pénale
fédérale doit être dirigé contre le jugement de la juridiction cantonale de
dernière instance à laquelle il appartenait d'appliquer librement le droit,
sans égard à la possibilité d'attaquer encore ce jugement par la voie d'un
recours cantonal pour arbitraire.
Art. 268, cp. 2, PPF. Il ricorso per cassazione alla Corte di cassazione
penale del Tribunale federale dev'essere diretto contro la sentenza
dell'ultima giurisdizione cantonale cui spettava d'applicare liberamente il
diritto, senza riguardo alla possibilità d'impugnare ancora questa sentenza
mediante un ricorso per arbitrio davanti ad una giurisdizione cantonale.


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Der Strafgerichtspräsident von Basel-Stadt wies am 11. Juli 1945 die
Ehrverletzungsklage des Woodtli gegen Essig ab. Das Urteil war gemäss Art. 6
Ziff. 3 lit. a des baselstädtischen EG zum StGB in Verbindung mit §§ 248 Abs.
1 und 265 lit. b StPO nicht appellabel, unterlag aber der Beschwerde wegen
Willkür an den Ausschuss des Appellationsgerichts. Diese Beschwerde wurde vom
Strafkläger ergriffen, aber am 28. September 1945 abgewiesen. Gegen diesen
Entscheid, der am 16. Oktober eröffnet wurde, hat der Strafkläger am 26.
Oktober 1945 die Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof des
Bundesgerichts erklärt.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
Gemäss Art. 268 Abs. 2 BStrP und der Auslegung desselben durch die
Rechtsprechung (BGE 68 IV 113) ist die Nichtigkeitsbeschwerde zulässig gegen
Urteile (Endurteile und Zwischenentscheide) der Gerichte, die nicht durch ein
kantonales Rechtsmittel wegen Verletzung eidgenössischen Rechts angefochten
werden können, also gegen letztinstanzliche kantonale Urteile. Zu den
kantonalen Rechtsmitteln zählt das geltende Bundesstrafrechtspflegegesetz im
Gegensatz zu der früheren gesetzlichen Ordnung (Art. 162 OG von 1893)
ordentliche und ausserordentliche, jedoch nur solche, welche die Anwendung des
eidgenössischen Rechts ohne Einschränkung der Prüfung durch die höhere Instanz
unterstellen, nicht auch solche, welche lediglich die willkürliche
Rechtsanwendung ­ die, wie gerade § 265 lit. b der baselstädtischen StPO
zeigt, als ein Mangel des kantonalen Verfahrens gilt (Kassationshof 7.
Dezember 1943 i.S. Zehnter) ­ zu prüfen ermöglichen. Diese Einschränkung
ergibt sich notwendig aus der Verschiedenheit des zu überprüfenden
Gegenstandes bei der Willkürbeschwerde und bei der eidgenössischen
Nichtigkeitsbeschwerde: dort Willkür, hier die Gesetzesanwendung schlechthin.
Die kantonale Instanz, die auf Prüfung von Willkür beschränkt ist, hat sich
über die richtige

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Gesetzesanwendung nicht oder höchstens vorfrageweise auszusprechen;
eigentlicher Gegenstand ihrer Prüfung ist die behauptete Willkür. Die
Entscheidung hierüber könnte von einer weiteren Instanz nur kontrolliert
werden, indem auch sie wieder bloss die behauptete Willkür (der ersten
Instanz) prüfte. Würde sie die Rechtsanwendung überhaupt prüfen, so würde sie
in Wirklichkeit nicht den Rechtsmittelentscheid, sondern den Sachentscheid
(des ersten Richters) kontrollieren. Um dies zu ermöglichen, müsste aber
dieser selbst an sie weitergezogen sein, und zwar in den für seine
Weiterziehung geltenden Fristen. Die Nichtigkeitsbeschwerde an den
Kassationshof, welche die uneingeschränkte Überprüfung der eidgenössischen
Rechtsfrage bringt, ist daher gegen das Urteil jener kantonalen Instanz zu
richten, die als letzte gleiche Rechtsanwendungsbefugnis hatte, d.h. der die
Rechtsanwendung schlechthin oblag, ungeachtet einer gegen ihr Urteil noch
offenstehenden kantonalen Beschwerde wegen Willkür (Verletzung klaren Rechts).
Dadurch werden die Parteien nicht um die kantonale Willkürbeschwerde gebracht,
sondern sie können von ihr neben der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde
Gebrauch machen, wenn ihnen an der unnötigen Häufung der Rechtsmittel gelegen
ist. Werden beide eingelegt, so wird der Kassationshof gemäss Art. 275 BStrP
seine Entscheidung bis zur Erledigung dieses Beschwerdeverfahrens aussetzen,
da im Falle der Gutheissung der kantonalen Beschwerde die
Nichtigkeitsbeschwerde gegenstandslos wird.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Auf die Nichtigkeitsbeschwerde wird nicht eingetreten.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 71 IV 222
Datum : 01. Januar 1945
Publiziert : 15. November 1945
Quelle : Bundesgericht
Status : 71 IV 222
Sachgebiet : BGE - Strafrecht und Strafvollzug
Gegenstand : Art. 268 Abs. 2 BStrP. Die Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof ist gegen das Urteil der...


Gesetzesregister
OG: 162
BGE Register
68-IV-113 • 71-IV-222
Stichwortregister
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