S. 121 / Nr. 30 Strafgesetzbuch (d)

BGE 71 IV 121

30. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 29. Juni 1945 i.S. Gygax und
Leuenberger gegen Staatsanwalt des Berner Mittellandes.

Regeste:
Art. 139 Ziff. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 139 - 1. Wer jemandem eine fremde bewegliche Sache zur Aneignung wegnimmt, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
1    Wer jemandem eine fremde bewegliche Sache zur Aneignung wegnimmt, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
2    ...193
3    Der Dieb wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft, wenn er:
a  gewerbsmässig stiehlt;
b  den Diebstahl als Mitglied einer Bande ausführt, die sich zur fortgesetzten Verübung von Raub oder Diebstahl zusammengefunden hat;
c  zum Zweck des Diebstahls eine Schusswaffe oder eine andere gefährliche Waffe mit sich führt oder eine Explosion verursacht; oder
d  sonst wie durch die Art, wie er den Diebstahl begeht, seine besondere Gefährlichkeit offenbart.194
4    Der Diebstahl zum Nachteil eines Angehörigen oder Familiengenossen wird nur auf Antrag verfolgt.
StGB. Vollendeter Raub setzt in allen Fällen voraus, dass der
Angegriffene zum Widerstand vollständig unfähig gemacht worden sei.
Art. 139 ch. 1 CP. Pour être consommé, le brigandage suppose dans tous les cas
que la personne attaquée soit mise tout à fait hors d'état de résister.
Art. 139, cifra 1 CP. Per essere consumata, la rapina presuppone in tutti i
casi che la persona attaccata sia stata messa nell'impossibilità di resistere.

A. ­ Arnold Gygax und Karl Leuenberger lockten in der Nacht vom 20. auf den
21. Dezember 1944 Alfred Blum in Bern an das Bord der Aare. Sie
beabsichtigten, ihm sein Geld zu stehlen. Leuenberger umfasste ihn mit beiden
Armen, und Gygax schlug auf ihn ein. Blum wehrte sich, konnte sich losmachen
und rannte davon. Leuenberger setzte ihm nach, erwischte ihn und hieb ihm mit
dem Stock, den die Angreifer ihm vorher entrissen hatten, über den Kopf. Blum
befreite sich zum zweitenmal und eilte gegen die Stadt, was Gygax und
Leuenberger veranlasste, sich davonzumachen.
B. ­ Am 26. März 1945 erklärte die Kriminalkammer des Kantons Bern Gygax und
Leuenberger des vollendeten Raubes im Sinne des Art. 139 Ziff. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 139 - 1. Wer jemandem eine fremde bewegliche Sache zur Aneignung wegnimmt, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
1    Wer jemandem eine fremde bewegliche Sache zur Aneignung wegnimmt, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
2    ...193
3    Der Dieb wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft, wenn er:
a  gewerbsmässig stiehlt;
b  den Diebstahl als Mitglied einer Bande ausführt, die sich zur fortgesetzten Verübung von Raub oder Diebstahl zusammengefunden hat;
c  zum Zweck des Diebstahls eine Schusswaffe oder eine andere gefährliche Waffe mit sich führt oder eine Explosion verursacht; oder
d  sonst wie durch die Art, wie er den Diebstahl begeht, seine besondere Gefährlichkeit offenbart.194
4    Der Diebstahl zum Nachteil eines Angehörigen oder Familiengenossen wird nur auf Antrag verfolgt.
StGB schuldig
und bestrafte sie.

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C. ­ Beide Verurteilten fechten das Urteil mit der Nichtigkeitsbeschwerde an.
Sie beantragen, die Tat gegenüber Blum sei bloss als versuchter statt als
vollendeter Raub zu würdigen und demgemäss die Sache zur Herabsetzung der
Strafe an die Vorinstanz zurückzuweisen.
D. ­ Der Staatsanwalt des bernischen Mittellandes beantragt die Abweisung der
Beschwerde.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. ­ Nach Art. 139 Ziff. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 139 - 1. Wer jemandem eine fremde bewegliche Sache zur Aneignung wegnimmt, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
1    Wer jemandem eine fremde bewegliche Sache zur Aneignung wegnimmt, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
2    ...193
3    Der Dieb wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft, wenn er:
a  gewerbsmässig stiehlt;
b  den Diebstahl als Mitglied einer Bande ausführt, die sich zur fortgesetzten Verübung von Raub oder Diebstahl zusammengefunden hat;
c  zum Zweck des Diebstahls eine Schusswaffe oder eine andere gefährliche Waffe mit sich führt oder eine Explosion verursacht; oder
d  sonst wie durch die Art, wie er den Diebstahl begeht, seine besondere Gefährlichkeit offenbart.194
4    Der Diebstahl zum Nachteil eines Angehörigen oder Familiengenossen wird nur auf Antrag verfolgt.
StGB wird wegen Raubes bestraft, «wer in der
Absicht, einen Diebstahl zu begehen, oder wer, auf einem Diebstahl betreten,
an einer Person Gewalt verübt, sie mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib
oder Leben bedroht oder sie in anderer Weise zum Widerstand unfähig macht».
Aus dieser Umschreibung ergibt sich, dass nach dem Strafgesetzbuch im
Gegensatz zu verschiedenen ehemaligen kantonalen Rechten der Raub schon vor
Begehung des beabsichtigten Diebstahls vollendet sein kann (so auch Protokoll
2. ExpK 2 303, Votum GAUTIER). Der Umstand, dass die Beschwerdeführer dem
Überfallenen das Geld nicht wegnehmen konnten, steht daher der Annahme
vollendeten Raubes nicht im Wege.
Damit der Raub vollendet ist, muss indes der Täter ff an einer Person Gewalt
verübt, sie mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben bedroht oder
sie in anderer Weise zum Widerstand unfähig gemacht haben». Die Worte «in
anderer Weise» (das Gesetz sagt nicht «in irgend einer Weise») zeigen, dass
auch die Verübung von Gewalt und die Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib
oder Leben den Angegriffenen beziehungsweise Bedrohten zum Widerstand unfähig
machen müssen. Diese Wirkung haben alle drei Gruppen von Angriffen gemeinsam.
Der Raub richtet sich nicht nur gegen das Vermögen, sondern auch gegen die
persönliche Freiheit, ist Nötigung zur Duldung eines Diebstahls oder eines auf
Diebstahl abzielenden Verhaltens. Diese Duldung wird erreicht entweder durch
materiellen (vis absoluta) oder durch psychischen

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Zwang vis compulsiva). Der eine oder der andere oder das Zusammenwirken des
einen und des andern muss das Opfer zum Widerstand unfähig, und zwar, wie das
Bundesgericht es bei der Nötigung zu einer unzüchtigen Handlung (Art. 188
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 188 - 1. Wer mit einer minderjährigen Person von mehr als 16 Jahren, die von ihm durch ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis oder auf andere Weise abhängig ist, eine sexuelle Handlung vornimmt, indem er diese Abhängigkeit ausnützt,
1    Wer mit einer minderjährigen Person von mehr als 16 Jahren, die von ihm durch ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis oder auf andere Weise abhängig ist, eine sexuelle Handlung vornimmt, indem er diese Abhängigkeit ausnützt,

StGB) fordert (BGE 70 IV 207), zum Widerstand vollständig unfähig machen. Ist
das nicht der Fall, hat also der Täter mit Handlungen, welche den Widerstand
des andern brechen oder vereiteln sollen, bloss begonnen, so liegt nur Versuch
vor. Eine andere Auslegung würde den Begriff des vollendeten Raubes noch mehr
ausdehnen, als es das Gesetz entgegen dem allgemeinen Sprachgebrauch, nach
welchem der Raub erst nach der Wegnahme der geraubten Sache als vollendet
gilt, ohnehin schon tut.
2. ­ Dass Blum durch materiellen Zwang ganz wehrlos gemacht worden sei, hat
die Vorinstanz mit Recht verneint. Wenn sie dagegen annimmt, er sei unter
psychischem Zwang zum Widerstand vollständig unfähig gewesen, weil er aus
Furcht für sein Geld und sein Leben die Nutzlosigkeit des Widerstandes
eingesehen und seine Rettung in der Flucht gesucht habe, so verkennt sie, dass
von psychischem Zwang nur gesprochen werden kann, wenn der Genötigte in einen
seelischen Zustand gerät, der ihn zwingt, sich dem Willen des Täters zu
beugen. In diesen Zustand haben die Beschwerdeführer Blum nicht gebracht. Ihr
Angriff brachte ihn nicht so weit, dass er aus Furcht für sein Leben bereit
gewesen wäre, sich ihnen zu fügen, den Diebstahl zu dulden. Blum hinderte sie
daran im Gegenteil aus eigener körperlicher und seelischer Kraft durch die
Flucht. Das war Widerstand so gut wie die vorherige Abwehr ihres Zugriffes und
ihrer Schlage im Handgemenge. Zum Widerstand unfähig ist nicht schon, wer sich
mit dem Angreifer nicht mehr mit Aussicht auf Erfolg schlagen kann, sondern
nur, wer genötigt ist, sich ihm zu unterwerfen.
Die Beschwerdeführer sind somit des Raubversuchs, nicht. des vollendeten
Raubes schuldig.

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Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil
aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an die
Vorinstanz zurückgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 71 IV 121
Datum : 01. Januar 1945
Publiziert : 28. Juni 1945
Quelle : Bundesgericht
Status : 71 IV 121
Sachgebiet : BGE - Strafrecht und Strafvollzug
Gegenstand : Art. 139 Ziff. 1 StGB. Vollendeter Raub setzt in allen Fällen voraus, dass der Angegriffene zum...


Gesetzesregister
StGB: 139 
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 139 - 1. Wer jemandem eine fremde bewegliche Sache zur Aneignung wegnimmt, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
1    Wer jemandem eine fremde bewegliche Sache zur Aneignung wegnimmt, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
2    ...193
3    Der Dieb wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft, wenn er:
a  gewerbsmässig stiehlt;
b  den Diebstahl als Mitglied einer Bande ausführt, die sich zur fortgesetzten Verübung von Raub oder Diebstahl zusammengefunden hat;
c  zum Zweck des Diebstahls eine Schusswaffe oder eine andere gefährliche Waffe mit sich führt oder eine Explosion verursacht; oder
d  sonst wie durch die Art, wie er den Diebstahl begeht, seine besondere Gefährlichkeit offenbart.194
4    Der Diebstahl zum Nachteil eines Angehörigen oder Familiengenossen wird nur auf Antrag verfolgt.
188
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 188 - 1. Wer mit einer minderjährigen Person von mehr als 16 Jahren, die von ihm durch ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis oder auf andere Weise abhängig ist, eine sexuelle Handlung vornimmt, indem er diese Abhängigkeit ausnützt,
1    Wer mit einer minderjährigen Person von mehr als 16 Jahren, die von ihm durch ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis oder auf andere Weise abhängig ist, eine sexuelle Handlung vornimmt, indem er diese Abhängigkeit ausnützt,
BGE Register
70-IV-205 • 71-IV-121
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
raub • blume • diebstahl • leben • vorinstanz • geld • kassationshof • strafgesetzbuch • flucht • duldung • staatsanwalt • widerstand • körperliche integrität • druck • persönliche freiheit • wegnahme • sprachgebrauch • opfer • weiler • wille
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