BGE 69 III 89
24. Urteil der II. Zivilabteilung vom 16. Dezember 1943 i. S. Lehle gegen
Strickler.
Regeste:
Aberkennung einer Verlustscheinsforderung.
Der Pfändungsverlustschein schafft keine Vermutung für den Bestand der
Forderung; er ist nur ein Indiz hiefür. Änderung der Rechtsprechung.
Demande en libération de dette fondée sur un acte de défaut de biens délivré
après saisie. Cet acte ne fait pas présumer l'existence de la créance, il n'en
est qu'un indice. Changement de jurisprudence.
L'attestato di carenza di beni rilasciato in seguito a pignoramento
infruttuoso non crea la presunzione dell'esistenza del credito, ma costituisce
solo un indizio. Cambiamento di giurisprudenza.
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A. - Am 31. Oktober 1902 stellte das Betreibungsamt Zürich 3, II. Abteilung,
in der Betreibung Nr. 1827 des G. Strickler gegen Robert Lehle einen
Pfändungsverlustschein über Fr. 12667.60 aus, auf dem der für «Forderungstitel
nebst Datum oder Grund der Forderung» bestimmte Platz keine Bemerkung enthält.
Die Betreibungsakten aus dem Jahre 1902 sind nicht mehr vorhanden.
B. - Mit diesem Verlustschein erwirkte sich der Erbe Kaspar Jakob Strickler in
der Betreibung Nr. 6825 des Betreibungsamtes Zürich 3 am 23. Juni 1942 die
provisorische Rechtsöffnung, worauf Lehle auf Aberkennung der Forderung
klagte, indem er behauptet, G. Strickler nichts geschuldet zu haben. Wohl habe
er mit diesem näher bezeichnete Geschäfte abgeschlossen, doch habe er dafür
nie Geld erhalten und sei auch aus Garantiepflicht nichts schuldig geworden.
Der Beklagte bestreitet, dass die Verlustscheinsforderung aus den vom Kläger
angeführten Geschäften entstanden sei. Richtig sei, dass der heutige Beklagte
nicht wisse, worauf der Verlustschein beruhe.
C. - Das Bezirksgericht Zürich und das Obergericht haben die Klage mit
Urteilen vom 27. Januar und 2. Juni 1943 abgewiesen, weil es dem Kläger nicht
gelungen sei, die durch den Verlustschein für den Bestand der Forderung
geschaffene Vermutung zu entkräften.
D. - Hiegegen reichte der Kläger Berufung ans Bundesgericht ein mit dem
Antrag, die Klage sei zu schützen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Nach feststehender Praxis bewirkt die Parteirollenvertauschung im
Aberkennungsprozesse keine Umkehrung der Beweislast; es hat nicht der
Aberkennungskläger den Nichtbestand, sondern der Aberkennungsbeklagte den
Bestand der Forderung zu beweisen. Dieser Beweispflicht glaubt der Beklagte
mit Vorlegen des Verlustscheines zu genügen. Er beruft sich dabei auf BGE 26
II 485 ff., E. 3, wo dem Pfändungsverlustschein gemäss Art. 146
SR 281.1 Bundesgesetz vom 11. April 1889 über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG) SchKG Art. 146 - 1 Können nicht sämtliche Gläubiger befriedigt werden, so erstellt das Betreibungsamt den Plan für die Rangordnung der Gläubiger (Kollokationsplan) und die Verteilungsliste. |
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1 | Können nicht sämtliche Gläubiger befriedigt werden, so erstellt das Betreibungsamt den Plan für die Rangordnung der Gläubiger (Kollokationsplan) und die Verteilungsliste. |
2 | Die Gläubiger erhalten den Rang, den sie nach Artikel 219 im Konkurs des Schuldners einnehmen würden. Anstelle der Konkurseröffnung ist der Zeitpunkt des Fortsetzungsbegehrens massgebend. |
qualifizierte Beweiskraft beigemessen wurde, so dass es
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Aufgabe des Schuldners wäre, die durch den Verlustschein geschaffene Vermutung
zu beseitigen.
a) Die in diesem Präjudiz vertretene Ansicht kann nicht aufrecht erhalten
werden. Wie auch es anerkennt, ist der Pfändungsverlustschein bloss die
amtliche Bescheinigung darüber, dass im Zwangsvollstreckungsverfahren beim
Schuldner keine oder keine vollständige Deckung der Forderung erzielt werden
konnte (ebenso BGE 52 III 131, E. 3). Der Schuldner gibt bei der Ausstellung
des Verlustscheines, bei der er gar nicht mitwirkt, keine auf das materielle
Rechtsverhältnis bezügliche Willenserklärung ab. Die Ausstellung des
Verlustscheines bewirkt deshalb keine Neuerung im Sinne des Art. 116
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 116 - 1 Die Tilgung einer alten Schuld durch Begründung einer neuen wird nicht vermutet. |
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1 | Die Tilgung einer alten Schuld durch Begründung einer neuen wird nicht vermutet. |
2 | Insbesondere bewirkt die Eingehung einer Wechselverbindlichkeit mit Rücksicht auf eine bestehende Schuld oder die Ausstellung eines neuen Schuld- oder Bürgschaftsscheines, wenn es nicht anders vereinbart wird, keine Neuerung der bisherigen Schuld. |
schafft auch keinen neuen Schuldgrund, der neben dem alten ein selbständiges
Klagefundament abgeben würde. Um dem Verlustschein weitere Wirkungen beimessen
zu können, bedarf es positiver Gesetzesvorschriften. Diese erschöpfen sich,
wenn man von den betreibungsrechtlichen Folgen absieht, darin, dass die
Forderung unverjährbar und unverzinslich wird (Art. 149 Abs. 4
SR 281.1 Bundesgesetz vom 11. April 1889 über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG) SchKG Art. 149 - 1 Jeder Gläubiger, der an der Pfändung teilgenommen hat, erhält für den ungedeckten Betrag seiner Forderung einen Verlustschein. Der Schuldner erhält ein Doppel des Verlustscheins.290 |
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1 | Jeder Gläubiger, der an der Pfändung teilgenommen hat, erhält für den ungedeckten Betrag seiner Forderung einen Verlustschein. Der Schuldner erhält ein Doppel des Verlustscheins.290 |
1bis | Das Betreibungsamt stellt den Verlustschein aus, sobald die Höhe des Verlustes feststeht.291 |
2 | Der Verlustschein gilt als Schuldanerkennung im Sinne des Artikels 82 und gewährt dem Gläubiger die in den Artikeln 271 Ziffer 5 und 285 erwähnten Rechte. |
3 | Der Gläubiger kann während sechs Monaten nach Zustellung des Verlustscheines ohne neuen Zahlungsbefehl die Betreibung fortsetzen. |
4 | Der Schuldner hat für die durch den Verlustschein verurkundete Forderung keine Zinsen zu zahlen. Mitschuldner, Bürgen und sonstige Rückgriffsberechtigte, welche an Schuldners Statt Zinsen bezahlen müssen, können ihn nicht zum Ersatze derselben anhalten. |
5 | ...292 |
SR 281.1 Bundesgesetz vom 11. April 1889 über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG) SchKG Art. 149 - 1 Jeder Gläubiger, der an der Pfändung teilgenommen hat, erhält für den ungedeckten Betrag seiner Forderung einen Verlustschein. Der Schuldner erhält ein Doppel des Verlustscheins.290 |
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1 | Jeder Gläubiger, der an der Pfändung teilgenommen hat, erhält für den ungedeckten Betrag seiner Forderung einen Verlustschein. Der Schuldner erhält ein Doppel des Verlustscheins.290 |
1bis | Das Betreibungsamt stellt den Verlustschein aus, sobald die Höhe des Verlustes feststeht.291 |
2 | Der Verlustschein gilt als Schuldanerkennung im Sinne des Artikels 82 und gewährt dem Gläubiger die in den Artikeln 271 Ziffer 5 und 285 erwähnten Rechte. |
3 | Der Gläubiger kann während sechs Monaten nach Zustellung des Verlustscheines ohne neuen Zahlungsbefehl die Betreibung fortsetzen. |
4 | Der Schuldner hat für die durch den Verlustschein verurkundete Forderung keine Zinsen zu zahlen. Mitschuldner, Bürgen und sonstige Rückgriffsberechtigte, welche an Schuldners Statt Zinsen bezahlen müssen, können ihn nicht zum Ersatze derselben anhalten. |
5 | ...292 |
Allerdings braucht das Gesetz die Wendung, der Verlustschein gelte als
Schuldanerkennung, fügt aber bei, als Schuldanerkennung «im Sinne des Art.
82», d. h. als provisorischer Rechtsöffnungstitel (BGE 52 III 131; 26 II 486
/7). Wäre er eine materielle Schuldanerkennung, so käme ihm nicht nur im
Rechtsöffnungsverfahren, sondern in jedem Prozesse erhöhte Bedeutung zu. Diese
Wirkung verleiht aber das Gesetz dem Verlustschein nicht; es beschränkt sie
ausdrücklich auf Art. 82
SR 281.1 Bundesgesetz vom 11. April 1889 über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG) SchKG Art. 82 - 1 Beruht die Forderung auf einer durch öffentliche Urkunde festgestellten oder durch Unterschrift bekräftigten Schuldanerkennung, so kann der Gläubiger die provisorische Rechtsöffnung verlangen. |
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1 | Beruht die Forderung auf einer durch öffentliche Urkunde festgestellten oder durch Unterschrift bekräftigten Schuldanerkennung, so kann der Gläubiger die provisorische Rechtsöffnung verlangen. |
2 | Der Richter spricht dieselbe aus, sofern der Betriebene nicht Einwendungen, welche die Schuldanerkennung entkräften, sofort glaubhaft macht. |
ordentlichen Zivilklage der materielle Bestand der Forderung geprüft wird, die
Parteien sich in die Sache einlassen müssen, wäre es schwer verständlich, wenn
einer Urkunde wie dem Pfändungsverlustschein, der selber kein Rechtstitel ist
und auch keine Erklärung des Schuldners über die Existenz der Forderung
enthält, qualifizierte Beweiskraft beigelegt würde. - Die in BGE 26 II 488
enthaltene Verweisung auf Art. 86
SR 281.1 Bundesgesetz vom 11. April 1889 über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG) SchKG Art. 86 - 1 Wurde der Rechtsvorschlag unterlassen oder durch Rechtsöffnung beseitigt, so kann derjenige, welcher infolgedessen eine Nichtschuld bezahlt hat, innerhalb eines Jahres nach der Zahlung auf dem Prozesswege den bezahlten Betrag zurückfordern.170 |
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1 | Wurde der Rechtsvorschlag unterlassen oder durch Rechtsöffnung beseitigt, so kann derjenige, welcher infolgedessen eine Nichtschuld bezahlt hat, innerhalb eines Jahres nach der Zahlung auf dem Prozesswege den bezahlten Betrag zurückfordern.170 |
2 | Die Rückforderungsklage kann nach der Wahl des Klägers entweder beim Gerichte des Betreibungsortes oder dort angehoben werden, wo der Beklagte seinen ordentlichen Gerichtsstand hat. |
3 | In Abweichung von Artikel 63 des Obligationenrechts (OR)171 ist dieses Rückforderungsrecht von keiner andern Voraussetzung als dem Nachweis der Nichtschuld abhängig.172 |
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durchschlagend, weil der Schuldner durch Rückforderung des bereits bezahlten
Betrages die fordernde Partei wird, die nach der allgemeinen Regel des Art. 8
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 8 - Wo das Gesetz es nicht anders bestimmt, hat derjenige das Vorhandensein einer behaupteten Tatsache zu beweisen, der aus ihr Rechte ableitet. |
ZGB den Nichtbestand der Forderung zu beweisen hat, aus der sie ihren
Rückforderungsanspruch ableitet; im Aberkennungsprozesse stützt hingegen der
Gläubiger seinen Anspruch auf den Bestand der Forderung.
b) Damit ist aber nicht gesagt, dass der Pfändungsverlustschein überhaupt
keine Beweiskraft besitzt. Er verurkundet, dass der Schuldner in einer
früheren Betreibung keinen Rechtsvorschlag erhoben hat, oder dass dieser durch
Rechtsöffnung oder Urteil beseitigt wurde. In diesem Sinne ist der
Verlustschein zwar kein direkter Beweis, aber ein Indiz für den Bestand der
Forderung, dem der Richter dann entscheidende Bedeutung beimessen wird, wenn
sich der Gläubiger infolge eines langen Zeitablaufes oder ähnlicher Gründe in
die Unmöglichkeit versetzt sieht, von anderen Beweismitteln Gebrauch zu
machen. In solchen Fällen hat der Schuldner, der keinen Rechtsvorschlag
erhoben oder keine Aberkennungsklage angestrengt hat, die Folgen dafür, dass
über die streitige Forderung nicht rechtzeitig gerichtlich entschieden wurde,
selber zu tragen.
2.- Im vorliegenden Falle kann aber diese Konsequenz nicht gezogen werden,
weil der Beklagte seiner Behauptungspflicht nicht nachkam. Über die Entstehung
der Forderung erklärt Strickler überhaupt nichts zu wissen, und der von ihm
ins Recht gelegte Verlustschein gibt nicht einmal «Forderungstitel nebst Datum
oder Grund der Forderung» an, wie es das in Art. 22 der Verordnung Nr. 1 des
Bundesrates über Schuldbetreibung und Konkurs vom 18. Dezember 1891 und auch
das gegenwärtig vorgeschriebene obligatorische Formular Nr. 15 bezw. Nr. 36
verlangt (AS Bd. 12, S. 429). Zu Unrecht wird vom Bezirksgericht der Schuldner
hiefür verantwortlich gemacht; ihm wurde der Verlustschein nicht ausgehändigt;
aber selbst wenn er diesen Mangel gekannt hätte, so wäre es nicht an ihm
gewesen, durch dessen Behebung die künftige
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Zwangsvollstreckung gegen sich zu erleichtern. Da die Klageantwort nicht
substanziiert ist, müsste der Schuldner gegen den Verlustschein den
unmöglichen Beweis antreten, dass keiner der praktisch denkbaren Titel oder
Schuldgründe den streitigen Anspruch zu begründen vermöchte. Darauf hat der
Gläubiger kein Anrecht; es muss ihm vielmehr zugemutet werden, seine Forderung
so zu substanziieren, dass der Schuldner erfährt, auf welchen konkreten
Sachverhalt sich diese stützt.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung ist begründet, das angefochtene Urteil wird aufgehoben und die
Aberkennungsklage gutgeheissen.