S. 69 / Nr. 11 Organisation der Bundesrechtspflege (d)

BGE 66 I 69

11. Auszug aus dem Urteil vom 9. Februar 1940 i. S. Protekta gegen St. Gallen.


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Regeste:
Frist zur Erhebung der staatsrechtlichen Beschwerde (Art. 178 Ziff. 3 OG): Sie
beginnt für die Anfechtung allgemein verbindlicher Erlasse mit der amtlichen
Bekanntmachung des Erlasses oder des Ergebnisses der Abstimmung über ihn,
nicht erst mit der Vollziehbarkeit, selbst wenn der Erlass den Beginn seiner
Anwendbarkeit hinausschiebt.
Délai pour former le recours de droit public (art. 178 ch. 3 OJ): S'agissant
de décisions d'une portée générale, le délai court dès la publication
officielle de la décision elle-même ou du résultat de la votation y relative
et non pas dès l'entrée en vigueur, alors même que la décision litigieuse
prévoit, pour son entrée en vigueur, une date postérieure à la publication.
Termine per inoltrare ricorso di diritto pubblico (art. 178 cifra 3 OGF):
Trattandosi di decreti di carattere obbligatorio generale, il termine decorre
dalla pubblicazione officiale del decreto o del risultato della relativa
votazione e non dall'entrata in vigore, anche se il decreto stabilisce che
entrerà in vigore ad una data posteriore alla sua pubblicazione.

Mit dem 1. Januar 1940 gelangt im Kanton St. Gallen das Gesetz über die
Zivilrechtspflege vom 7. Februar 1939 zur Anwendung. Die Protekta
Prozesskostenversicherung A.G. in Bern hat gegen eine die Einschränkung der
freien Anwaltswahl durch Rechtsschutzversicherungen betreffende Bestimmung
dieses Gesetzes wegen Verstosses gegen Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
und 31
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 31 Freiheitsentzug - 1 Die Freiheit darf einer Person nur in den vom Gesetz selbst vorgesehenen Fällen und nur auf die im Gesetz vorgeschriebene Weise entzogen werden.
1    Die Freiheit darf einer Person nur in den vom Gesetz selbst vorgesehenen Fällen und nur auf die im Gesetz vorgeschriebene Weise entzogen werden.
2    Jede Person, der die Freiheit entzogen wird, hat Anspruch darauf, unverzüglich und in einer ihr verständlichen Sprache über die Gründe des Freiheitsentzugs und über ihre Rechte unterrichtet zu werden. Sie muss die Möglichkeit haben, ihre Rechte geltend zu machen. Sie hat insbesondere das Recht, ihre nächsten Angehörigen benachrichtigen zu lassen.
3    Jede Person, die in Untersuchungshaft genommen wird, hat Anspruch darauf, unverzüglich einer Richterin oder einem Richter vorgeführt zu werden; die Richterin oder der Richter entscheidet, ob die Person weiterhin in Haft gehalten oder freigelassen wird. Jede Person in Untersuchungshaft hat Anspruch auf ein Urteil innert angemessener Frist.
4    Jede Person, der die Freiheit nicht von einem Gericht entzogen wird, hat das Recht, jederzeit ein Gericht anzurufen. Dieses entscheidet so rasch wie möglich über die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs.
BV am 26. Januar 1940
staatsrechtliche Beschwerde erhoben. In Bezug auf die Wahrung der
Beschwerdefrist wird geltend gemacht, das genannte Gesetz sei am 1. Januar
1940 «in Wirksamkeit getreten» sodass die Beschwerde innert 30 Tagen seit der
«Inkraftsetzung» des Erlasses und damit rechtzeitig erhoben worden sei.
Das Bundesgericht ist auf die Beschwerde nicht eingetreten

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aus folgenden Gründen:
Nach Art. 178 Ziff. 3 OG beträgt die Frist zur staatsrechtlichen Beschwerde an
das Bundesgericht 30 Tage von der Eröffnung oder Mitteilung der angefochtenen
Verfügung oder des angefochtenen Erlasses an. Massgebend ist danach zwar nicht
schon die Tatsache der Annahme eines Gesetzes oder einer Verordnung durch
Abstimmung des zuständigen Staatsorgans oder des Erlasses einer bestimmten
Einzelverfügung. Vielmehr muss eine auf die Eröffnung, Kundmachung an die
Beteiligten gerichtete und dazu geeignete amtliche Handlung hinzutreten. Sie
liegt bei allgemein verbindlichen Erlassen (Gesetzen, Verordnungen), wo eine
individuelle Mitteilung an alle dadurch (möglicherweise) Betroffenen der Natur
der Sache nach nicht in Betracht kommt, in der verbindlichen amtlichen
allgemeinen Bekanntmachung des angenommenen Erlasses oder doch des Ergebnisses
der Abstimmung über diesen. Geschieht die Bekanntmachung durch ein amtliches
Blatt, so kommt es ferner nicht auf die Bekanntmachungshandlung als solche an,
sondern auf die Möglichkeit der Kenntnisnahme davon, also nicht auf das Datum
der betreffenden Nummer des Blattes, sondern auf den Zeitpunkt, wo sie
wirklich ausgegeben wurde und nach dem ordentlichen Laufe der Dinge zur
Verteilung kam (BGE 7 S. 711 Erw. 1; 13 S. 123 Erw. 4; 15 S. 184 Erw. 1;
GIACOMETTI S. 194). Von diesem Tage an läuft aber alsdann auch die Frist zur
staatsrechtlichen Beschwerde und nicht erst von demjenigen, wo der Erlass
vollziehbar wurde (in diesem Sinne «in Kraft trat»). Dies ist denn auch bisher
in den zahlreichen Fällen nicht bezweifelt worden, wo der im Gesetz nicht
bestimmte Zeitpunkt seines Inkrafttretens von der Vollziehungsbehörde im
Bekanntmachungsbeschluss auf einen von diesem verschiedenen, späteren Tag
festgesetzt worden war, und kann nach dem klaren Wortlaut des OG nicht
zweifelhaft sein. Es muss aber auch dann gelten, wenn der Erlass selbst den
Beginn seiner Anwendbarkeit

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(Vollziehbarkeit) derart hinausschiebt, wie es häufig bei grösseren
Gesetzesvorlagen geschieht, deren Durchführung besondere
Vorbereitungsmassnahmen erfordert (Steuer-, Justizgesetze usw.). Die
bundesgerichtliche Rechtsprechung fordert deshalb auch für die
Beschwerdelegitimation gegenüber allgemein verbindlichen Erlassen keinen
aktuellen Eingriff in die persönliche Rechtsstellung des Beschwerdeführers,
seine rechtlich geschützten Interessen, sondern lässt es genügen, dass ein
solcher Eingriff infolge der als verfassungswidrig bezeichneten kantonalen
Norm künftig einmal eintreten kann (BGE 48 I 265 Erw. 1; 594 Erw. 1; 55 I 110
Erw. 2). Die Interessen desjenigen, der erst nach dem von der Bekanntmachung
verschiedenen späteren Termin der Vollziehbarkeit eines Erlasses wahrnimmt,
dass dieser seine Rechtsstellung beeinträchtigt, sind dadurch hinlänglich
gewahrt, dass die Verfassungswidrigkeit kantonaler allgemein verbindlicher
Normen nach feststehender Rechtssprechung nicht nur im Anschluss an ihren
Erlass geltend gemacht werden kann, sondern auch noch bei der Anwendung im
einzelnen Falle durch Beschwerde des durch die Anwendungsverfügung Betroffenen
gegen diese, mit der Folge, dass gegebenenfalls zwar nicht der Erlass als
solcher aufzuheben ist, aber jene Einzelverfügung.
Im vorliegenden Falle ist das angefochtene kantonale Gesetz (über die
Zivilrechtspflege), nach der Annahme durch den Grossen Rat in der Sitzung vom
7. Februar 1939, am 17. Februar 1939 im kantonalen Amtsblatt bekanntgemacht
worden mit der Eröffnung, dass die Referendumsfrist bis zum 19. März 1939
laufe. Durch Beschluss vom 24. März 1939 hat der Regierungsrat festgestellt,
dass es infolge unbenützten Ablaufs dieser Frist «in Kraft getreten» (richtig:
zustandegekommen) sei und hat diesen Beschluss wiederum im Amtsblatt vom 31.
März 1939 (S. 479) bekanntgemacht. In der Folge ist der ganze Erlass auch noch
in die kantonale Gesetzessammlung N.F. Bd. 16 S. 397-517 aufgenommen worden.
Nach der

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bezüglichen Anzeige im Amtsblatt vom 5. Mai 1939 (S. 611) sind die
betreffenden Bogen der Gesetzessammlung Anfang Mai an die Amtsstellen und
Postabonnenten versendet worden. Die Rekurrentin behauptet denn auch nicht,
dass die Beschwerde innert 30 Tagen seit irgend einer auf die amtliche
Bekanntmachung des Gesetzes gerichteten Handlung erhoben werde; vielmehr nimmt
sie irrtümlich an, dass zur Wahrung der Beschwerdefrist die Erhebung binnen 30
Tagen seit dem Inkrafttreten der Vollziehbarkeit des Erlasses genüge.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 66 I 69
Datum : 01. Januar 1940
Publiziert : 09. Februar 1940
Quelle : Bundesgericht
Status : 66 I 69
Sachgebiet : BGE - Verwaltungsrecht und internationales öffentliches Recht
Gegenstand : Frist zur Erhebung der staatsrechtlichen Beschwerde (Art. 178 Ziff. 3 OG): Sie beginnt für die...


Gesetzesregister
BV: 4 
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
31
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 31 Freiheitsentzug - 1 Die Freiheit darf einer Person nur in den vom Gesetz selbst vorgesehenen Fällen und nur auf die im Gesetz vorgeschriebene Weise entzogen werden.
1    Die Freiheit darf einer Person nur in den vom Gesetz selbst vorgesehenen Fällen und nur auf die im Gesetz vorgeschriebene Weise entzogen werden.
2    Jede Person, der die Freiheit entzogen wird, hat Anspruch darauf, unverzüglich und in einer ihr verständlichen Sprache über die Gründe des Freiheitsentzugs und über ihre Rechte unterrichtet zu werden. Sie muss die Möglichkeit haben, ihre Rechte geltend zu machen. Sie hat insbesondere das Recht, ihre nächsten Angehörigen benachrichtigen zu lassen.
3    Jede Person, die in Untersuchungshaft genommen wird, hat Anspruch darauf, unverzüglich einer Richterin oder einem Richter vorgeführt zu werden; die Richterin oder der Richter entscheidet, ob die Person weiterhin in Haft gehalten oder freigelassen wird. Jede Person in Untersuchungshaft hat Anspruch auf ein Urteil innert angemessener Frist.
4    Jede Person, der die Freiheit nicht von einem Gericht entzogen wird, hat das Recht, jederzeit ein Gericht anzurufen. Dieses entscheidet so rasch wie möglich über die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs.
OG: 178
BGE Register
48-I-262 • 55-I-105 • 66-I-69
Stichwortregister
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