S. 90 / Nr. 16 Doppelbesteuerung (d)

BGE 65 I 90

16. Urteil vom 28, April 1939 i. S. Sarasin gegen Solothurn und Basel-Stadt.

Regeste:
Steuerdomizil des Sommerbewohners. Einführung einer zeitlichen Grenze.
Domicile fiscal du contribuable qui fait un séjour de vacances. Introduction
d'une limite dans le temps,
Domicilio fiscale del contribuente a motivo di un soggiorno di vacanza.
Introduzione di un limite di tempo.

A. - Frau Sophie Sarasin-Warnery wohnt in Basel. Sie besitzt in der Gemeinde
Seewen, Kanton Solothurn, ein Hofgut, das ihr verstorbener Gatte im Jahr 1915
erworben hat. Hier verbrachten jeweilen die Eheleute Sarasin einen Teil des
Sommers, und seit dem Tode des Ehemannes pflegt auch Frau Sarasin in dieser
Jahreszeit -sich hierhin zu begeben. Sie wird in der Regel von einem bis zwei
Dienstboten und einem Chauffeur begleitet. Nach ihrer unbestrittenen
Darstellung betrug der Durchschnitt der Aufenthalte in Seewen während der
Jahre 1915 bis 1934 57 Tage. Im Jahr 1924 war sie nicht auf ihrem Landgut, und
verschiedene andere Jahre hielt sie sich hier nur 35 bis 39 Tage auf. 1935 und
1936 umfasste der Aufenthalt 126, bezw. 125 Tage. Sie hatte stets die
solothurnische Steuer von ihrem dortigen Grundbesitz zu entrichten. Ausserdem
liess sie sich 1936 in Seewen als sog. «Sommerbewohnerin» für vier Monate
inbezug auf das bewegliche Vermögen und das Einkommen daraus besteuern.
Im Jahr 1937 war Frau Sarasin 75 Tage in Seewen. Die solothurnischen
Steuerbehörden verlangten von ihr in

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diesem Jahr ausser der vollen Steuer auf dem Grundbesitz wiederum eine Steuer
für die genannten weiteren Werte, berechnet auf 2½ Monate. Eine Beschwerde,
die die Pflichtige gegen diese Erfassung ihres beweglichen Vermögens und des
entsprechenden Einkommens einreichte, wies die solothurnische
Oberrekurskommission mit Entscheid vom 28. Dezember 1938, zugestellt am 18.
Januar 1939 ab. Nach den Umständen bestehe auch bei nur 75 tägiger Dauer des
Aufenthaltes eine so enge Verbindung der Rekurrentin mit Seewen, dass der
Steuerort des Sommerbewohners begründet sei.
In Basel hat Frau Sarasin die Vermögens- und Einkommenssteuer 1937 und das
kantonale Krisenopfer 1937/38 unter «Doppelbesteuerungsvorbehalt» bezahlt und
zwar jeweilen für das ganze Jahr.
Für 1938, wo Frau Sarasin 63 Tage in Seewen war, wurde das dortige
Sonderdomizil von der Einschätzungsbehörde gleichfalls angenommen. Die
Veranlagung wurde aber, wie die Pflichtige mitteilt, als provisorisch
bezeichnet, damit sie noch nicht angefochten werden müsse.
B. - Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 16. Februar 1939 hat Frau Sarasin
beim Bundesgericht beantragt, die solothurnische Besteuerung für 1937 sei
wegen Verletzung von Art. 46 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 46 Umsetzung des Bundesrechts - 1 Die Kantone setzen das Bundesrecht nach Massgabe von Verfassung und Gesetz um.
1    Die Kantone setzen das Bundesrecht nach Massgabe von Verfassung und Gesetz um.
2    Bund und Kantone können miteinander vereinbaren, dass die Kantone bei der Umsetzung von Bundesrecht bestimmte Ziele erreichen und zu diesem Zweck Programme ausführen, die der Bund finanziell unterstützt.10
3    Der Bund belässt den Kantonen möglichst grosse Gestaltungsfreiheit und trägt den kantonalen Besonderheiten Rechnung.11
BV aufzuheben, soweit sie sich auf das
bewegliche Vermögen und dessen Ertrag bezieht. Die Beschwerde sucht darzutun,
dass ein Aufenthalt von bloss 75 Tagen nicht genüge, um den Steuerort des
Sommerbewohners zu begründen. Die Grenze liege bei 90 Tagen, was das
Bundesgericht schon angedeutet habe und welche Regel ein Gebot der
Rechtssicherheit sei. Die Rekurrentin hofft, das Bundesgericht werde in seinem
Urteil so Stellung nehmen, dass sich daraus auch die Lösung des Steuerstreites
für 1938 ergebe. Eventuell wird gegenüber Baselstadt das Begehren um teilweise
Rückerstattung der dort bezahlten Steuern gestellt.
C. - Der Regierungsrat und die Oberrekurskommission von Solothurn einerseits
und der Regierungsrat von Basel-Stadt

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anderseits beantragen je die Abweisung der Beschwerde, soweit sie sich gegen
den betreffenden Kanton richtet.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Das Steuerdomizil des sog. Sommerbewohners bedeutet eine Ausnahme vom
Grundsatz, wonach die natürliche Person für ihr bewegliches Vermögen und das
Einkommen daraus am Wohnsitz steuerpflichtig ist. Es wird begründet, wenn sich
jemand ausserhalb seines Wohnortes in einem andern Kanton auf eigener
Liegenschaft aufhält und dabei so feste Beziehungen zum Aufenthaltsort
entstehen, dass der Zusammenhang mit dem ordentlichen Wohnsitz vorübergehend
in den Hintergrund tritt (BGE 20 S. 4 ff., 33 I S. 718 ff., 39 I S. 326 ff.,
47 I S. 68 ff.).Ob die letztere Voraussetzung im einzelnen Fall zutrifft, ist
bisher nach der Dauer des Aufenthaltes in Verbindung mit den gesamten
Umständen entschieden worden (vgl. bes. BGE 33 I S. 722). Doch hat sich in der
Praxis in zunehmendem Masse gezeigt, dass das Abstellen auf eine
Gesamtwürdigung des Tatbestandes eine grosse Rechtsunsicherheit mit sich
bringt. Gerade Fälle wie der vorliegende, in welchen zwar alle sachlichen
Merkmale des Sommeraufenthaltes vorhanden sind, die Aufenthaltsdauer aber von
Jahr zu Jahr beträchtlichen Schwankungen unterliegt, bieten beim genannten
Vorgehen fast unlösbare Schwierigkeiten. Entweder müssen auch verhältnismässig
sehr kurze Aufenthalte als genügend angesehen werden, oder es ist irgendwie
eine zeitliche Grenze zu ziehen, die, wenn sie nur anhand des gegebenen
Tatbestandes gefunden wird und nicht als Anwendung einer allgemeinen
Richtlinie erscheint, rein zufälligen Charakter hat. Offenbar in Anbetracht
solcher Schwierigkeiten haben die Entwürfe zu einem Bundesgesetz gegen die
Doppelbesteuerung den Steuerort des Sommerbewohners ausser vom Aufenthalt auf
eigener Liegenschaft nicht mehr von einer Gesamtheit von Umständen, sondern
nur noch von einer einfürallemal

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geltenden zeitlichen Grenze abhängig gemacht, so der Entwurf SPEISER vom Jahr
1901, Art. 4 (Zeitschrift für schweizerisches Recht, n. F. 21 S. 589), der
Entwurf BLUMENSTEIN von 1914, Art. 3 Abs. 2, und der Entwurf, den das
Bundesgericht im Jahr 1916 ausgearbeitet hat. Dieser lautet in Art. 4: «Hält
sich jemand ohne Unterbruch wenigstens 90 Tage lang auf eigener Liegenschaft
ausserhalb seines Wohnsitzes in einem andern Kanton auf, so geht dieser
Aufenthalt für die Besteuerung des beweglichen Vermögens, wie auch des
Einkommens daraus, dem Wohnsitz vor». Auf das Bedürfnis nach einer einfachen,
klaren Umschreibung des fraglichen Sonderdomizils hat das Bundesgericht auch
in seinem Entscheid Bd. 47 I S. 70/71 hingewiesen, und schon damals ist
erklärt worden, dass gegen die Ordnung der Entwürfe keine Bedenken bestünden.
Wenn jenes Urteil die Frage schliesslich offen liess, so geschah es, weil
damals die Entscheidung auf Grund der hergebrachten Merkmale ohnehin nicht
anders lauten konnte als beim Abstellen auf den Gedanken der Entwürfe. Heute,
wo der vorliegende Fall den Mangel der bisherigen Begriffsbestimmung besonders
fühlbar macht, rechtfertigt es sich, die zeitliche Grenze der Entwürfe in die
Rechtsprechung zu übernehmen und damit auf dem Wege der Praxis den Zustand
herbeizuführen, der sich bei einer gesetzlichen Regelung der Frage als
richtige Lösung aufdrängen würde.
Demnach hat die Rekurrentin, die im Jahr 1937 nur 75 Tage in Seewen zubrachte,
an diesem Ort kein Steuerdomizil des Sommerbewohners begründet, und es
erscheint die angefochtene solothurnische Besteuerung für bewegliches Vermögen
und dessen Ertrag als verfassungswidrig.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gegenüber dem Kanton Solothurn gutgeheissen und der
Entscheid der solothurnischen Oberrekurskommission vom 28. Dezember 1938
aufgehoben.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 65 I 90
Datum : 01. Januar 1938
Publiziert : 28. April 1939
Quelle : Bundesgericht
Status : 65 I 90
Sachgebiet : BGE - Verwaltungsrecht und internationales öffentliches Recht
Gegenstand : Steuerdomizil des Sommerbewohners. Einführung einer zeitlichen Grenze.Domicile fiscal du...


Gesetzesregister
BV: 46
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 46 Umsetzung des Bundesrechts - 1 Die Kantone setzen das Bundesrecht nach Massgabe von Verfassung und Gesetz um.
1    Die Kantone setzen das Bundesrecht nach Massgabe von Verfassung und Gesetz um.
2    Bund und Kantone können miteinander vereinbaren, dass die Kantone bei der Umsetzung von Bundesrecht bestimmte Ziele erreichen und zu diesem Zweck Programme ausführen, die der Bund finanziell unterstützt.10
3    Der Bund belässt den Kantonen möglichst grosse Gestaltungsfreiheit und trägt den kantonalen Besonderheiten Rechnung.11
BGE Register
33-I-718 • 65-I-90
Stichwortregister
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