S. 53 / Nr. 12 Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr (d)

BGE 65 I 53

12. Urteil des Kassationshofs vom 6. Februar 1939 i. S. Wetterlé gegen Zürich,
Staatsanwaltschaft.

Regeste:
Strassenkreuzung ausserorts:
1. Mass der Vorsicht des Fahrzeugführers bezüglich die Strasse traversierender
Fussgänger im allgemeinen.
2. Fussgängerstreifen. a) Zulässigkeit ausserorts, Kenntlichmachung. b) Inhalt
und Begrenzung des Fussgängervorrechts auf dem Streifen; die entsprechende
besondere Rücksichtspflicht des Fahrzeugführers (Art. 45 Abs. 3 MFV, 36 MFG).
Croisée en dehors des agglomérations:
1. Quelles précautions le conducteur d'un véhicule automobile doit-il prendre,
en général, pour la sécurité des piétons qui traversent la route?
2. Passages de sécurité pour piétons. a) Peut-il en exister en dehors des
agglomérations? Manière de les rendre reconnaissables. b) En quoi consiste le
droit de priorité du piéton et, respectivement, le devoir de l'automobiliste
(art. 45 3 RLA, 35 LA)?
Crocevia fuori dell'abitato:
1. Precauzioni che il conducente di un'automobile deve prendere in generale
per la sicurezza dei pedoni che attraversano la strada.
2. Passaggi riservati al pedone: a) Ne possono esistere fuori dell'abitato,
modo di renderli riconoscibili, b) In che cosa consiste il diritto di
precedenza del pedone e relativo dovere dell'automobilista (art. 45 cp. 35
LCA; art. 35 LCA).


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A. - Auf der ausserhalb des Dorfes Schlieren gelegenen Kreuzung zwischen der
Industriestrasse und der Engstringerstrasse liegt im Schnittpunkt der beiden
Strassenachsen eine Verkehrsinsel, die in der Mitte einen Wegweiser mit vier
(nachts erleuchteten) Flügeln und einer weissen Lampenkugel an der Spitze und
je in der Achse der vier Strassen einen schwarz-weiss geringten Pfosten mit
(links) Fahrverbots- und (rechts) Fahrrichtungsscheibe und eigener Beleuchtung
aufweist. Über die Kreuzungsstelle sind in der Fortsetzung der je beidseitig
vorhandenen Trottoirs zwei Meter breite Verbindungsstreifen gezogen, deren
Kleinsteinpflästerung sich von der übrigen durch hellere Farbe abhebt.
Am 29. Juni 1937 stiess der mit seinem Personenauto auf der Industriestrasse
von Baden nach Zürich fahrende A. Wetterlé auf dieser Kreuzung mit der
19jährigen Margrit Müller zusammen, die zu Fuss auf der Engstringerstrasse von
Schlieren herkommend auf dem linken Verbindungsstreifen in der Nähe der
Verkehrsinsel angefahren und tödlich verletzt wurde.
B. - Alle drei kantonalen Instanzen haben Wetterlé der fahrlässigen Tötung
schuldig erklärt. Das zürcherische Kassationsgericht, gegen dessen Urteil vom
31. Oktober 1938 sich die vorliegende Nichtigkeitsbeschwerde richtet, geht
davon aus, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt des Zusammenstosses mit 60
km Geschwindigkeit fuhr und dass ihm die auf der Kreuzungsstelle angebrachten
Fussgängerstreifen bekannt waren. Es übernimmt sodann die obergerichtliche
Darstellung, wonach der Beschwerdeführer die Fussgängerin schon auf eine
erhebliche Entfernung erblickt und ihretwegen 100 m vor der Unfallstelle ein
Hupsignal gegeben habe. Auch an der obergerichtlichen Feststellung, wonach der
Beschwerdeführer die Fussgängerin dann für einige Augenblicke aus den Augen
verloren hat, weil er seine Aufmerksamkeit zwei aus der entgegengesetzten
Richtung heranfahrenden Automobilen zuwandte, wird im Urteil des
Kassationsgerichts nichts

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geändert. Dagegen lässt dieses dahingestellt, ob der Beschwerdeführer, wie das
Obergericht annahm, bereits im Moment, als er das Signal abgab, erkannte, dass
sich die Fussgängerin unaufmerksam benahm. Mit Bezug auf das Verhalten
derselben stellt die Vorinstanz lediglich fest, dass sie zu laufen anfing, um
noch vor dem Auto die Strasse überqueren zu können.
Das Kassationsgericht führt aus, der Beschwerdeführer hätte die Fussgängerin,
nachdem er sie auf die Distanz von 100 m erblickt hatte, nicht mehr ganz aus
den Augen verlieren dürfen. Es wäre seine Pflicht gewesen, seine
Fahrgeschwindigkeit so zu mässigen, dass die auf dem Fussgängerstreifen
befindliche und vortrittsberechtigte Passantin nicht gefährdet wurde. Entgegen
der Ansicht des Beschwerdeführers stehe Art. 45 Abs. 3 MFV zu Art. 35 Abs. 1
MFG nicht im Widerspruch. Die letztere Vorschrift handle nicht vom
Überschreiten der Strasse, sondern vom Gehen am Rande derselben auf
Fussgängerwegen oder Trottoirs. Es sei auch nicht richtig, dass die
Fussgängerstreifen nur innerorts anzubringen bezw. zu beachten seien. Im
Gegenteil sei die Einhaltung der Vorschrift des Art. 45 VO, wonach der
Autofahrer nötigenfalls anzuhalten habe, um den auf dem Streifen befindlichen
Personen die ungehinderte Überquerung der Strasse zu ermöglichen, im Weichbild
der Städte oft kaum durchführbar, sodass der Fussgänger an dem ihm
eingeräumten Vortrittsrecht nicht rücksichtslos festhalten dürfe; ausserorts
dagegen, wo der Fussgängerverkehr geringer sei, solle der Fussgänger sicher
sein, dass er bei Benützung des Streifens nicht gefährdet sei. Andernfalls
wäre die Anbringung solcher Streifen auf Überlandstrassen sinn- und zwecklos.
C. - Mit der vorliegenden Nichtigkeitsbeschwerde beantragt der Verurteilte
Aufhebung des Urteils und Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur
Freisprechung eventuell zu neuer Beurteilung. Die Staatsanwaltschaft Zürich
trägt auf Abweisung der Beschwerde an.

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Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.- Im allgemeinen kann einem Autofahrer, der auf einer gut ausgebauten,
geraden und als Hauptstrasse bezeichneten Strasse eine Geschwindigkeit von 60
km einhält, kein Vorwurf gemacht werden (BGE 62 I 196, 64 I 354). Man kann von
ihm auch nicht ohne weiteres verlangen, dass er dieses Tempo beim Heranfahren
an eine Strassenkreuzung herabsetze. Wenn, wie im vorliegenden Falle, das
Gelände eben und übersichtlich ist und das Fahrzeug infolgedessen von den
Seitenstrassen her gesehen werden kann, muss sich dessen Führer nicht von
vornherein darauf einstellen, dass ihm ein anderer Strassenbenützer den
Vortritt streitig machen könnte. Zur Herabsetzung der Geschwindigkeit ist er
allerdings dann verpflichtet, wenn Anzeichen dafür vorhanden sind, dass jemand
auf seine Fahrbahn vordringen will; denn wie sehr auch ein solches Vorhaben
den Regeln des Strassenverkehrs widersprechen mag, ist der Führer eines
Motorfahrzeugs doch gehalten, nach Möglichkeit zur Verhütung eines Unfalls
beizutragen. Die Akten enthalten nun aber nicht genügend Anhaltspunkte, um den
Beschwerdeführer wegen Nichtbeachtung dieses Grundsatzes verurteilen zu
können. Es steht zwar fest, dass er die Margrit Müller schon auf eine Distanz
von 100 m bemerkt hat, doch fehlt eine Feststellung darüber, wo sich die
Fussgängerin in jenem Moment befand. War sie schon im Begriffe, die
Industriestrasse zu überschreiten, dann musste sich der Beschwerdeführer
allerdings bewusst sein, dass eine gefährliche Situation bestand; er durfte
sich daher nicht mit der Abgabe eines Signals begnügen, sondern musste die
Fussgängerin im Auge behalten und seine Geschwindigkeit so einrichten, dass er
nötigenfalls vor der Kreuzung anhalten konnte. Befand sich die Müller hingegen
im Momente, als der Beschwerdeführer sie erblickte, noch auf dem Trottoir der
Engstringerstrasse, dann bestand kein Anlass zu besonderen
Vorsichtsmassnahmen; denn es

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war anzunehmen, dass die Passantin, wenn sie überhaupt die Kreuzung überqueren
wollte, nicht blindlings auf die Strasse hinaustreten werde. Dass an ihr eine
auffällige und auch dem Beschwerdeführer sichtbare Unaufmerksamkeit zu
bemerken gewesen sei, hat die Vorinstanz, im Gegensatz zum Obergericht, nicht
festgehalten. Es kann somit dahingestellt bleiben, inwieweit ein solches
Verhalten der Fussgängerin den Beschwerdeführer zu besonderer Vorsicht
verpflichtet hätte.
2.- Bei der bestehenden Aktenlage kann daher die von den kantonalen Instanzen
ausgesprochene Verurteilung nur dann aufrechterhalten werden, wenn der
Beschwerdeführer wegen der auf der Kreuzungsstelle angebrachten
Fussgängerstreifen besondere Vorsichtspflichten zu beobachten hatte. Der
Beschwerdeführer bestreitet dies mit der Begründung, Fussgängerstreifen mit
dem Privileg gemäss Art. 45 Abs. 3 MFV gebe es nur innerorts, und zudem seien
die an der Kreuzung in Schlieren angebrachten Streifen mit ihrer von der Regel
abweichenden technischen Ausführung - ganze Fläche in hellerer - nicht als
Fussgängerstreifen im Sinne der MFV kenntlich.
a) Dass die Vorschriften in Art. 35 MFG und 45 Abs. 3 MFV nur für die
innerorts angebrachten Fussgängerstreifen Geltung haben, bezw. dass solche nur
innerorts angebracht werden können, lässt sich aus dem Wortlaut von Gesetz und
Verordnung nicht ableiten. Es kommt für diese Frage nicht auf die rechtliche
Unterscheidung zwischen Innerorts und Ausserorts an, sondern lediglich auf die
Beschaffenheit der Übergangsstelle. Die Kreuzung in Schlieren ist so
ausgebaut, dass sie sich nach allen vier Strassen hin, und zwar nach der
Hauptstrasse auf Hunderte von Metern, dem Blick des Strassenbenützers mit
nicht zu übersehender Auffälligkeit als wichtiger Verkehrsknotenpunkt und
Übergang ankündigt, an welchem mit dem Vorhandensein von Fussgängerstreifen
gerechnet werden muss. Es handelt sich um einen Platz mit Kreiselverkehr,

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wie sie im Stadtinnern vorkommen und bei denen in der Regel Fussgängerstreifen
vorhanden sind. Angesichts eines derartigen Ausbaus einer Kreuzungsstelle,
befinde sie sich nun inner- oder ausserorts, muss der Fahrzeugführer sich auf
das Vorhandensein von Fussgängerstreifen gefasst machen und sich hinsichtlich
seiner Geschwindigkeit rechtzeitig darauf einstellen. Ob in Schlieren die
Streifen selber auf genügende Distanz sichtbar sind, spielt im vorliegenden
Falle keine Rolle' da der Beschwerdeführer nach der Feststellung der
Vorinstanz von ihrem Vorhandensein Kenntnis hatte. Dass es sich bei denselben,
trotz ihrer von der Regel abweichenden Ausführung, um Fussgängerstreifen im
Sinne von Gesetz und Verordnung handelt, konnte nicht zweifelhaft sein, denn
es ist schlechterdings nicht einzusehen, was die von Trottoir zu Trottoir
führenden Streifen sonst bedeuten könnten. MFG und zugehörige Erlasse
schreiben nirgends vor, w i e die Fussgängerstreifen kenntlich gemacht sein
müssen, etwa nur in gelben Linien oder mit Metallnägeln.
b) Der Beschwerdeführer war demnach an der fraglichen Stelle zu der besonderen
Rücksichtnahme gemäss Art. 45 Abs. 3 MFV verpflichtet, wonach «vor
Fussgängerstreifen die Motorfahrzeugführer die Geschwindigkeit zu mässigen und
nötigenfalls anzuhalten haben, um den sich schon darauf befindlichen
Fussgängern die ungehinderte Überquerung der Fahrtahn zu ermöglichen». Wenn
dabei die Vorinstanzen von einem Vortrittsrecht des die Streifen benutzenden
Fussgängers sprechen, ist zu betonen, dass es sich nicht um ein Vortrittsrecht
in dem Umfange handeln kann, wie es Art. 27 MFG dem von rechts kommenden bezw.
dem auf der Hauptstrasse fahrenden Fahrzeug einräumt und das soweit geht, dass
der Vortrittsberechtigte dem Unberechtigten gegenüber Anspruch auf
ungehinderte Fortsetzung seiner Bewegung hat (BGE 62 I 195). Wollte man dem
Fussgänger auf dem Sicherheitsstreifen ein solches Vorrecht einräumen, dann
würde das an Übergängen mit starkem Verkehr zu einer absoluten

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Verhinderung des Autoverkehrs führen; denn da sich die Passanten ohne
Unterbruch folgen können, wäre es den Motorfahrzeugen u. U. nicht möglich,
einen Augenblick auszuwählen, wo sie vorfahren können, ohne jemanden in der
Bewegung zu hindern. Ein so verstandenes Vortrittsrecht des Fussgängers liesse
sich auch nicht mit Art. 35 MFG in Einklang bringen, welcher den Fussgänger
anhält, die Strasse vorsichtig zu überschreiten. Die letztgenannte
Vorschrift-die entgegen der Annahme der Vorinstanz sich auch auf Personen
bezieht, die die Strasse auf einem Fussgängerstreifen überqueren - zeigt, dass
den Fussgängern kein unbedingtes Anrecht auf ungehindertes Passieren der ihnen
angewiesenen Streifen zusteht. Nach Art. 45 haben nur diejenigen Personen
Anspruch auf ungehinderte Fortsetzung ihrer Bewegung, welche sich beim
Erscheinen des Motorfahrzeugs vor dem Übergang bereits auf dem Streifen
befinden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass beim Herannahen eines Autos der
Fussgänger nach Belieben noch rasch den Fussgängerstreifen betreten dürfe mit
der Wirkung, dass er in dem Moment, da das Auto dem Streifen ganz nah gekommen
ist, als ein «sich schon darauf befindender» jenes zum Anhalten oder brüsken
Abbremsen zwingen dürfte. Wenn ein Auto bereits so nahe an den
Fussgängerstreifen herangekommen ist, dass der in diesem Momente am Rande der
Strasse befindliche Fussgänger die Fahrbahn nicht mehr überqueren könnte, ohne
das Fahrzeug zum Anhalten oder brüsken Abbremsen zu zwingen, dann darf er
trotz Fussgängerstreifen sich nicht mehr auf die Fahrbahn begeben, sondern
muss vor derselben warten, bis jenes vorbeigefahren ist. Diese Pflicht des
Fussgängers ergibt sich eben aus der Vorschrift des Art. 35 MFG, dass er die
Strasse vorsichtig zu überschreiten hat.
Die Verpflichtung des Motorfahrzeugführers, die auf dem Streifen befindlichen
Personen vorbeizulassen, er fordert nun aber zum vornherein eine so
weitgehende Herabsetzung der Geschwindigkeit beim Heranfahren, dass

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Zusammenstösse mit den bereits im Überschreiten der Übergangsstelle
begriffenen Personen vermieden werden können. Mit einer derart gemässigten
Geschwindigkeit darf der Fussgänger bei der Überlegung, ob er angesichts des
sich nähernden Autos noch den Streifen betreten dürfe, rechnen. Diese
Vorsichtsmassnahme hat der Beschwerdeführer ausser Acht gelassen, als er mit
60 km an den Sicherheitsstreifen heranfuhr. Dabei hätte er umso eher Anlass
zur Vorsicht gehabt, als er die Fussgängerin Müller auf eine Distanz von 100 m
bemerkt hatte, womit-auch wenn sich jene noch nicht auf dem Streifen befand -
die Möglichkeit bereits näher rückte, dass jemand den Fussgängerstreifen vor
seinem Herankommen betreten und ihn zur Gewährung des Vortrittsrechts
verpflichten könnte. Auf alle Fälle hätte der Beschwerdeführer unter diesen
Umständen den Fussgängerstreifen im Auge behalten müssen, um sich in jedem
Momente zu vergewissern, ob die Fahrbahn, auf welche allfällige Passanten ein
Vorrecht hatten, für ihn frei sei. In dieser Beziehung hat es der
Beschwerdeführer an der pflichtgemässen Aufmerksamkeit fehlen lassen.
Über das Strafmass hat sich der Kassationshof nicht auszusprechen, da der
Beschwerdeführer wegen fahrlässiger Tötung verurteilt worden ist und
infolgedessen für die Bemessung der Strafe kantonales Recht den Ausschlag gibt
(Art. 65 Abs. 4 MFG).
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 65 I 53
Datum : 01. Januar 1938
Publiziert : 06. Februar 1939
Quelle : Bundesgericht
Status : 65 I 53
Sachgebiet : BGE - Verwaltungsrecht und internationales öffentliches Recht
Gegenstand : Strassenkreuzung ausserorts:1. Mass der Vorsicht des Fahrzeugführers bezüglich die Strasse...


Gesetzesregister
MFV: 45
BGE Register
62-I-193 • 62-I-196 • 64-I-350 • 65-I-53
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
vorinstanz • distanz • ausserorts • innerorts • trottoir • kassationshof • automobil • hauptstrasse • sorgfalt • strassenkreuzung • vortritt • vorrecht • fahrender • verhalten • verurteilter • verurteilung • verkehrsinsel • kantonsgericht • fahrzeugführer • warnsignal
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