S. 74 / Nr. 12 Organisation der Bundesrechtspflege (d)

BGE 64 I 74

12. Beschluss der Anklagekammer vom 11. Februar 1938 i. S. X.


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Regeste:
Ist in einer Bundesstrafsache, die nicht zu den nach Bundesgesetz von den
kantonalen Behörden zu beurteilenden Angelegenheiten gehört, ein
Ermittlungsverfahren von der kantonalen Polizei durchgeführt und von der
Bundesanwaltschaft eingestellt worden, so hat über ein Entschädigungsbegehren
des Beschuldigten in allen Fällen die Anklagekammer des Bundesgerichts zu
befinden (Art. 122 BStrP).

Der Banklehrling X wurde im Juni 1937 von der baselstädtischen
Staatsanwaltschaft in einem Ermittlungsverfahren wegen versuchter Fälschung
von Banknoten als Beschuldigter einvernommen. Er hatte sich freiwillig von
seinem in der Ostschweiz gelegenen Wohnort nach Basel zur Einvernahme begeben.
Am 21. Juli 1937 verfügte die Bundesanwaltschaft auf Antrag der Basler
Staatsanwaltschaft, das Ermittlungsverfahren sei mangels Beweises eines
strafbaren Tatbestandes einzustellen.
Als X von der Einstellung des Verfahrens Kenntnis erhielt, verlangte er mit
einer Eingabe an die Überweisungsbehörde des Kantons Baselstadt, dass ihm die
in dieser Sache erwachsenen Kosten ersetzt würden. Die Überweisungsbehörde
trat auf das Gesuch nicht ein mit der Begründung, das Begehren sei nach Art.
122 Abs. 3 BStrP bei der Anklagekammer des Bundesgerichts anzubringen. Darauf
wandte sich X an diese Behörde. Die Bundesanwaltschaft beantragte, es sei die
Angelegenheit an die kantonale Überweisungsbehörde zurückzuweisen, die in der
Sache allein zuständig sei.
Die Anklagekammer entsprach dem Gesuch des X mit folgender Begründung:
«1. - X ist als Beschuldigter in ein Strafverfahren wegen versuchter Fälschung
von Banknoten einbezogen worden. Die Beurteilung dieses Vergehens unterliegt
der «Bundesstrafgerichtsbarkeit» (Art. 74 Abs. 3 des Bundesgesetzes über die
Nationalbank vom 7. April 1921, AS Bd. 37 S. 600); es gehört also nicht zu den

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Bundesstrafsachen, die nach Bundesgesetz von kantonalen Behörden zu beurteilen
sind (Art. 258 ff. BStrP), sondern zu den Bundesstrafsachen, die an sich in
die Zuständigkeit des Bundesstrafgerichts fallen, vom Bundesrat aber den
kantonalen Behörden zur Untersuchung und Beurteilung übertragen werden können
(Art. 10 Ziff. 1, 18, 254 ff. BStrP). Ob eine solche Übertragung erfolgen
soll, entscheidet der Bundestat nach Abschluss des «Ermittlungsverfahrens»
(Art. 107 BStrP). Im vorliegenden Fall kam es nicht zu einem solchen
Entscheid, da die Bundesanwaltschaft nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens
die Strafuntersuchung eingestellt hat (Art. 106 BStrP).
2.- Das durch diesen Einstellungsbeschluss abgeschlossene Verfahren unterstand
daher den vom Bundesstrafrechtspflegegesetz über das Ermittlungsverfahren
(Art. 100 ff.) aufgestellten Vorschriften. Hieran kann weder der Umstand etwas
ändern, dass die Untersuchung von einer kantonalen Behörde, der
baselstädtischen Staatsanwaltschaft, geführt wurde, noch dass diese tätig
wurde, ohne zuvor das Einverständnis oder den Auftrag der Bundesanwaltschaft
einzuholen. Die Verrichtungen der gerichtlichen Polizei im
Ermittlungsverfahren unterstehen dem Bundesstrafrechtspflegegesetz, auch wenn
sie durch die kantonale Polizei (Staatsanwaltschaft) vorgenommen werden (Art.
103 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 17 Abs. 2 BStrP), und diese darf, wenn bei
ihr eine Strafanzeige eingeht, von sich aus das Ermittlungsverfahren eröffnen,
d. h. die Spuren des Vergehens feststellen und sichern (Art. 102 BStrP). Sie
soll freilich dem Bundesanwalt über ihre Ermittlungen unverzüglich berichten
und seine Weisungen einholen. Ob die baselstädtische Staatsanwaltschaft im
vorliegenden Falle dieser Pflicht genau nachgekommen ist, braucht nicht
untersucht zu werden; denn auch wenn dies nicht der Fall sein sollte, bliebe
für das Ermittlungsverfahren das

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Bundesstrafrechtspflegegesetz massgebend. Kantonale Vorschriften können auf
diesem Gebiet höchstens insoweit anwendbar sein, als sie dem Bundesrecht nicht
entgegenstehen (Stämpfli, BStrP Art. 103 Anm. 2).
3.- Das Bundesstrafrechtspflegegesetz regelt für das durch Einstellung
erledigte Ermittlungsverfahren sowohl die Frage, unter welchen Voraussetzungen
der Beschuldigte einen Anspruch auf Entschädigung hat, wie auch die Frage,
welche Behörde über ein solches Entschädigungsbegehren befindet.
Art. 122 BStrP enthält nämlich in den Absätzen 1, 3 und 4 folgende
Bestimmungen:
«Dem Beschuldigten, gegen den die Untersuchung eingestellt wird, ist auf
Begehren eine Entschädigung für die Untersuchungshaft und für andere
Nachteile, die er erlitten hat, auszurichten. Die Entschädigung kann
verweigert werden, wenn der Beschuldigte die Untersuchungshandlungen durch ein
verwerfliches oder leichtfertiges Benehmen verschuldet oder erschwert hat.
Der Anzeiger...
Der Untersuchungsrichter legt die Akten mit seinem Antrag der Anklagekammer
zur Entscheidung vor. Der Bundesanwalt und die beteiligten Personen erhalten
Gelegenheit zur Vernehmlassung.
Diese Bestimmungen sind auch auf das Ermittlungsverfahren anzuwenden.»
Steht auch dieser Artikel unter dem Titel «Voruntersuchung», so lässt doch der
letzte Satz keine Zweifel darüber bestehen, dass der ganze Artikel, auch bei
Einstellung des Ermittlungsverfahrens anwendbar ist, wie dies übrigens in den
Beratungen noch besonders hervorgehoben wurde (vgl. Protokoll der
Verhandlungen der nationalrätlichen Kommission I. Session, S. 38 zu Art. 124
des Entwurfes).
4.- Die Bundesanwaltschaft vertritt die Auffassung, dass Art. 122 BStrP oder
doch wenigstens sein dritter

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Absatz, d. h. die Vorschrift über die Zuständigkeit der Anklagekammer, bei der
Einstellung des Ermittlungsverfahrens nur dann anwendbar sei, wenn die
Bundesanwaltschaft selbst oder eine kantonale Polizeibehörde
(Staatsanwaltschaft) im speziellen Auftrag der Bundesanwaltschaft oder mit
ihrem Einverständnis das Verfahren durchgeführt habe. Geht die kantonale
Polizeibehörde (Staatsanwaltschaft) von sich aus und selbständig vor, so hat
nach Auffassung der Bundesanwaltschaft die kantonale Behörde zwar nicht über
die Einstellung des Verfahrens, wohl aber über ein allfälliges
Entschädigungsbegehren zu entscheiden und zwar auf Grund des kantonalen Rechts
oder vielleicht auch - die Bundesanwaltschaft äusserte in dieser Hinsicht
Zweifel - auf Grund von Art. 122 Abs. 1 und 2 BStrP. Auf diese Weise sucht die
Bundesanwaltschaft zu bewirken, dass bei Einstellung eines von der kantonalen
Polizeibehörde selbständig durchgeführten Ermittlungsverfahrens eine
allfällige Entschädigung an den Beschuldigten nicht aus der Bundeskasse,
sondern aus der Kantonskasse bezahlt werden muss. Die Anklagekammer kann
nämlich, wie die Bundesanwaltschaft zutreffend annimmt (vgl. hiezu unten Erw.
6 lit. e), eine Entschädigung nur zu Lasten der Bundeskasse zusprechen;
dagegen wäre eine durch die kantonale Behörde zugesprochene Entschädigung -
wie wenigstens die Bundesanwaltschaft glaubt - durch die Kantonskasse zu
bezahlen und vom Bund nur im Rahmen von Art. 106 Abs. 2, d. h. wenn es sich um
eine «ausserordentliche» Leistung handeln sollte, dem Kanton zu vergüten.
Für diese von der Bundesanwaltschaft in Vorschlag gebrachte Regelung lassen
sich vielleicht gesetzgebungspolitische Gründe anführen. Doch ist dies nicht
die Ordnung der geltenden Gesetzgebung. Art. 122 BStrP unterscheidet nicht, ob
das Ermittlungsverfahren von einer eidgenössischen oder kantonalen
Polizeibehörde durchgeführt wurde und ob letztere im Einverständnis mit der
Bundesanwaltschaft gehandelt hat oder nicht,

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sondern bestimmt ganz allgemein, dass bei Einstellung des
Ermittlungsverfahrens die Anklagekammer über ein allfälliges
Entschädigungsbegehren des Beschuldigten zu entscheiden habe und eine
Entschädigung für erlittene Nachteile nur ablehnen dürfe, wenn der
Beschuldigte die Untersuchungshandlungen durch ein verwerfliches oder
leichtfertiges Benehmen verschuldet oder erschwert habe.
5.- Eine Einschränkung dieser Regelung ergibt sich auch nicht aus den übrigen
von der Bundesanwaltschaft angeführten Gesetzesvorschriften.
a) Aus der Vorschrift, dass die Bundeskasse bei der Einstellung eines
Ermittlungsverfahrens den Kantonen nur die «ausserordentlichen Kosten» der
polizeilichen Verfolgung vergütet (Art. 106 Abs. 2 BStrP), glaubt die
Bundesanwaltschaft folgern zu können: auch die bei Einstellung des
Ermittlungsverfahrens an den Beschuldigten zu leistende Entschädigung sei in
der Regel, d. h. soweit sie nicht eine «ausserordentliche» sei, von der
Kantonskasse zu tragen und folglich nicht von der Anklagekammer des
Bundesgerichts, sondern von einer kantonalen Behörde festzusetzen. Allein
diese Folgerung lässt sich aus Art. 106 Abs. 2 BStrP schon deshalb nicht
ziehen, weil die «Entschädigung» nicht zu den «Kosten» im Sinne von Art. 106
Abs. 2 BStrP gehört, wie dies dem Text der Art. 121 und 122 BStrP zu entnehmen
ist. Die Bundesanwaltschaft zieht auch gar nicht die Konsequenzen aus der von
ihr dem Art. 106 Abs. 2 BStrP gegebenen Auslegung. Würde dieser Artikel
besagen, dass eine Entschädigung an den Beschuldigten in der Regel durch die
Kantonskasse zu tragen und durch eine kantonale Behörde festzusetzen sei, so
wäre die Zuständigkeit der Anklagekammer stets ausgeschlossen, wenn eine
kantonale Polizeibehörde das Ermittlungsverfahren durchgeführt hätte. So weit
will aber auch die Bundesanwaltschaft nicht gehen; sie anerkennt die
Zuständigkeit der Anklagekammer, wenn die kantonale Polizeibehörde im
speziellen Auftrag der Bundesanwaltschaft oder mit deren Einverständnis
gehandelt hat.

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b) Auch aus den Art. 253 und 257 BStrP läset sich nichts zu Gunsten der von
der Bundesanwaltschaft vertretenen Auffassung ableiten. Diese Artikel beziehen
sich auf das Verfahren, das platzgreift, wenn eine Bundesstrafsache nach
Bundesgesetz von den kantonalen Behörden zu beurteilen ist (Art. 253) oder vom
Bundesrat den kantonalen Behörden zur Untersuchung und Beurteilung übertragen
wird (Art. 257 in Verbindung mit Art. 253). Selbst wenn in diesen Fällen, wie
dies die Bundesanwaltschaft annimmt, ein Entschädigungsbegehren des
Beschuldigten durch die kantonalen Behörden nach kantonalem Recht zu
beurteilen ist (vgl. bezüglich der Verurteilung des Angeschuldigten zur
Bezahlung von Kosten: BGE 63 I S. 207), so folgt daraus nicht, dass das
Entschädigungsbegehren auch dann durch die kantonale Behörde oder nach
kantonalem Recht zu beurteilen ist, wenn ein Straffall vorliegt, der der
Bundesstrafgerichtsbarkeit unterliegt und noch nicht zur Untersuchung und
Beurteilung an die kantonalen Behörden gewiesen ist. In einem solchen Falle
entspricht es vielmehr der Natur der Sache, dass, geradeso wie der
Einstellungsbeschluss (Art. 106 BStrP), auch der Entscheid über das
Entschädigungsbegehren von einer Bundesbehörde ausgeht. Die allgemeinen
Erwägungen des bundesgerichtlichen Entscheides in Sachen Eidgenossenschaft
gegen Kanton Schwyz (BGE 54 I S. 182) können hier schon deshalb nicht
herangezogen werden, weil damals nicht ein Entschädigungsbegehren des
Beschuldigten, sondern die Tragung der Prozesskosten streitig war.
6.- Die Anklagekammer hat somit das Entschädigungsbegehren des X auf Grund von
Art. 122 BStrP zu beurteilen. Darnach sind ihm die Nachteile, die er infolge
der Untersuchung erlitten hat, nur dann nicht zu vergüten, wenn er die
Untersuchungshandlungen durch ein verwerfliches oder leichtfertiges Benehmen
verschuldet oder erschwert hat.
a) X ist ohne ein ihn belastendes Benehmen in die

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Strafuntersuchung einbezogen worden, wie auch die Bundesanwaltschaft
anerkennt.
b) Als «Nachteile» im Sinne von Art. 122 BStrP sind anzuerkennen die dem X
wegen der Untersuchung erwachsenen Auslagen, also die Reisekosten, Porti und
Telephontaxen. Er verlangt überdies noch ein «Taggeld». Unter diesem Titel
kann, da ein Verdienstausfall nicht nachgewiesen und auch nicht wahrscheinlich
ist, nur eine Entschädigung für die Verpflegung am Reisetage in Betracht
fallen. X hat demnach Anspruch auf Vergütung von Fr. 30.-.
c) Die Entschädigungspflicht des Staates fällt im vorliegenden Falle auch
nicht deshalb dahin, weil X «freiwillig» nach Basel zur Einvernahme fuhr, um
eine Einvernahme am Wohn- und Arbeitsort zu verhüten. Eine solche hätte für X
als Banklehrling Nachteile zur Folge haben können, die die Reisekosten nach
Basel um ein Vielfaches überstiegen hätten. Für die Vermeidung dieser
Nachteile hatte die Untersuchungsbehörde zu sorgen.
d) ......
e) Die Entschädigung ist aus der Bundeskasse zu leisten. Auch die
Bundesanwaltschaft nimmt dies für den Fall an, dass die Anklagekammer die
Entschädigung gemäss Art. 122 BStrP festzusetzen hat. Es ergibt sich dies
speziell auch aus Absatz 2 dieses Artikels, d. h. aus der Vorschrift, dass der
Anzeiger und der Geschädigte, die das Verfahren durch Arglist oder grobe
Fahrlässigkeit veranlasst haben, dem Bund gegenüber zum ganzen oder teilweisen
Ersatz der Entschädigung verurteilt werden können. Diese Vorschrift setzt
voraus, dass der Bund eine allfällige Entschädigung an den Beschuldigten
ausbezahlt.»
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 64 I 74
Datum : 01. Januar 1937
Publiziert : 11. Februar 1938
Quelle : Bundesgericht
Status : 64 I 74
Sachgebiet : BGE - Verwaltungsrecht und internationales öffentliches Recht
Gegenstand : Ist in einer Bundesstrafsache, die nicht zu den nach Bundesgesetz von den kantonalen Behörden zu...


BGE Register
54-I-182 • 63-I-206 • 64-I-74
Stichwortregister
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