BGE 63 II 347
68. Urteil der II. Zivilabteilung vom 4. November 1937 i. S. Lehmann gegen
«Helvetia».
Regeste:
Art. 58 OG. Zum Begriffe des Haupturteils.
Art. 40 MFG (betreffend Fortdauer der Haftung des bisherigen Halters bis zur
Übertragung des Fahrzeugausweises):
bezieht sich auf einen für das betreffende bestimmte Fahrzeug ausgestellten,
mit ihm übertragbaren Ausweis und die einem solchen Ausweis zugrunde liegende
Versicherung;
-nicht auch auf einen kollektiven Händlerausweis im Sinne von Art. 26/27 der
Vollziehungsverordnung (gemäss Art. 69 lit. i MFGL).
A. - Am 27. Juli 1935 wurde der auf seinem Motorrad von Ostermundigen nach
Zollikofen zurückkehrende Kläger um 23 1/2 Uhr von einem Personenautomobil
Marke Buick angefahren und schwer verletzt. Der Führer und zugleich Eigentümer
des Buick-Wagens, Albrecht Linder, anerkannte im Strafverfahren, dem Kläger
als Schadenersatz und Genugtuung Fr. 63431.85 schuldig zu sein. Er hatte den
Wagen am Unfalltage mittags in der Garage «zum Klösterli» in Bern gekauft und
vom Inhaber der Garage sich zuführen lassen. Dieser besass für den Wagen
keinen ordentlichen Fahrzeugausweis, wohl aber eine für Personenwagen
(Automobile und Motorräder) verschiedener (beliebiger) Marken zu verwendende,
vom 20. bis zum 27. Juli 1935 (mit Ausnahme des 21., Sonntag) gültige
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«Bewilligung zum Ausprobieren, Vorführen oder Überführen eines
Motorfahrzeuges, gemäss Art. 28 der Vollziehungsverordnung...» mit den
Kontrollschildern BE 2424, die er denn auch bei der Zuführungsfahrt
verwendete, hernach aber vom Wagen abnahm, um sie anderweitig im Geschäft zu
benutzen. Linder brachte dann missbräuchlich die Schilder eines andern Wagens
an und begab sich so auf die Unglücksfahrt, ohne für den Buick-Wagen einen
Fahrzeugausweis mit zugrundeliegender Haftpflichtversicherung zu haben.
B. - Auf Grund von Art. 40 MFG, wonach der bisherige Halter eines
Motorfahrzeuges im Rahmen der zu seinen Gunsten abgeschlossenen
Haftpflichtversicherung bis zur amtlichen Übertragung des Fahrzeugausweises an
den neuen Halter weiterhaftet, belangt der Kläger, der von Linder nicht
Zahlung erlangt hat, drei Versicherungsgesellschaften als
Haftpflichtversicherer früherer Halter des Buick-Wagens; darunter die
«Helvetia», bei der der Inhaber der Klösterli-Garage gemäss der erwähnten
Bewilligung zu den in Art. 52 MFG vorgesehenen Mindestsummen versichert war
gegen die Folgen seiner Haftpflicht in «Schadensfällen, welche der Inhaber
dieser Probefahrtsbewilligung bei Fahrten verursacht».
Der Appellationshof des Kantons Bern hat die Klage gegen die «Helvetia» mit
Urteil vom 14. April 1937, zugestellt am 29. Juni, abgewiesen. Der Kläger hält
demgegenüber mit seiner Berufung an das Bundesgericht am Klagebegehren fest.
Soweit sich die Klage gegen die andern Versicherungsgesellschaften richtet,
war der Rechtsstreit bis zur Erledigung der Klage gegen die «Helvetia»
eingestellt worden.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Das kantonale Urteil, das die Ansprüche gegen die «Helvetia» vollständig
erledigt, ist als Haupturteil im Sinne von Art. 58 OG anzuerkennen (vgl. BGE
44 II 442 ff.), zumal sich die Einstellung des Verfahrens gegen
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die Mitbeklagten aus Rücksichten erklären lässt, die mit der Erteilung des
Armenrechts zusammenhängen (indem der Kläger, falls er gegenüber der
«Helvetia» obsiegen sollte, sich bezahlt machen könnte, worauf der «Helvetia»,
überlassen wäre, Rückgriffsansprüche gegen die Mitbeklagten geltend zu
machen). Bei dieser Prozesslage muss es sein Bewenden haben, obwohl eine
einheitliche Beurteilung der gegen die drei Versicherer erhobenen Ansprüche
wohl wünschbar und auch ohne beträchtlichen Mehraufwand für die
Rechtsverfolgung des Klägers möglich gewesen wäre.
2.- Art. 40 MFG lautet: «Wird ein Motorfahrzeug auf einen neuen Halter
übertragen, so haftet bis zur amtlichen Übertragung des Fahrzeugausweises
neben dem neuen auch der alte Halter, jedoch nur bis zu den in seinem
Versicherungsvertrag vorgesehenen Summen. Der neue Halter, der für den Schaden
aufgekommen ist, hat bis zum Betrage der Versicherungssumme ein
Rückgriffsrecht gegen den alten Halter oder dessen Versicherer.» Grundlage
dieser Bestimmung ist einerseits die in Art. 37 MFG vorgesehene Haftung des
Halters des Fahrzeuges und anderseits die in den Art. 5-8 MFG getroffene
Ordnung über den ordentlichen Fahrzeugausweis, der sich auf ein bestimmtes
Fahrzeug zu beziehen hat, auf den Namen des Halters auszustellen ist und bei
Wechsel des Halters auf den neuen Halter übertragen werden soll. Voraussetzung
eines solchen Fahrzeugausweises ist neben der durch Prüfung festzustellenden
Eignung des Fahrzeuges der Nachweis einer die Haftung des Halters deckenden
Haftpflichtversicherung, bei deren Wegfall der Fahrzeugausweis zu entziehen
ist (Art. 16 MFG). Die dem Fahrzeugausweis zugrunde liegende
Haftpflichtversicherung geht von Gesetzes wegen (abweichend von Art. 54
SR 221.229.1 Bundesgesetz vom 2. April 1908 über den Versicherungsvertrag (Versicherungsvertragsgesetz, VVG) - Versicherungsvertragsgesetz VVG Art. 54 - 1 Wechselt der Gegenstand des Vertrages den Eigentümer, so gehen die Rechte und Pflichten aus dem Versicherungsvertrag auf den neuen Eigentümer über. |
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1 | Wechselt der Gegenstand des Vertrages den Eigentümer, so gehen die Rechte und Pflichten aus dem Versicherungsvertrag auf den neuen Eigentümer über. |
2 | Der neue Eigentümer kann den Übergang des Vertrags durch eine Erklärung schriftlich oder in einer anderen Form, die den Nachweis durch Text ermöglicht, bis spätestens 30 Tage nach der Handänderung ablehnen.107 |
3 | Das Versicherungsunternehmen kann den Vertrag innert 14 Tagen nach Kenntnis des neuen Eigentümers schriftlich oder in einer anderen Form, die den Nachweis durch Text ermöglicht, kündigen.108 Der Vertrag endet frühstens 30 Tage nach der Kündigung. |
4 | Ist mit der Handänderung eine Gefahrserhöhung verbunden, so gelten die Artikel 28-32 sinngemäss. |
nicht ohne weiteres mit der Handänderung, sondern) mit der Übertragung des
Fahrzeugausweises auf den neuen Halter über, unter Vorbehalt des diesem wie
auch dem Versicherer zustehenden Rücktrittes binnen vierzehn
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Tagen nach Kenntnis des Übergangs (Art. 48 Abs. 2 MFG). Art. 40 MFG ergänzt
diese Bestimmungen nun in der Weise, dass er die Haftung des bisherigen
Halters nach Massgabe seiner Haftpflichtversicherung fortbestehen lässt, bis
der Fahrzeugausweis auf den neuen Halter übertragen wird, womit dieser ohne
weiteres in die Versicherung eintritt.
Art. 40 MFG bezieht sich somit auf den Fahrzeugausweis, der nach Art. 5-8 für
das betreffende Fahrzeug ausgestellt wurde und mit ihm an einen Erwerber
übertragbar ist, samt der gleichfalls für den Betrieb eben desselben
Fahrzeuges bestehenden Haftpflichtversicherung, die mit dem Ausweis an den
neuen Halter übergehen soll. Hier ist zunächst zweifelhaft, ob der Inhaber der
Klösterli-Garage als allfälliger Verkaufsbeauftragter überhaupt Halter im
Sinne des Gesetzes war. Jedenfalls aber bezog sich die bei der «Helvetia»
abgeschlossene Versicherung nicht auf einen für den Buick-Wagen ausgestellten
ordentlichen Ausweis, sondern auf eine Sonderbewilligung, die einem solchen
Fahrzeugausweis, wie ihn Art. 40 im Auge hat, nicht gleichgestellt werden
kann.
3.- In Ergänzung von Art. 5-8 weist nämlich Art. 69 MFG dem Bundesrat die
Befugnis zum Erlass von Vorschriften zu über: «... i. besondere Ausweise und
Kontrollschilder für Motorfahrzeughändler, sowie kurzfristige Fahrzeugausweise
für besondere Zwecke». Demgemäss sieht die Vollziehungsverordnung einerseits
in Art. 26/27 die an Motorfahrzeughändler zu erteilende Kollektivbewilligung
mit Händlerschild oder (zu beschränkter Verwendung) mit Versuchschild vor,
anderseits in Art. 28 die zum Ausprobieren, Vorführen oder Überfuhren eines
bestimmten Fahrzeugs für einen oder sieben Tage zu erteilende
«Tagesbewilligung» Die auch für die Sonderbewilligungen beider Arten verlangte
«Haftpflichtversicherung im Sinne des Gesetzes» hat dem Inhalt der Bewilligung
gerecht zu werden, soll sie doch die mit deren Gebrauch verbundenen
Haftpflichtrisiken decken. Diesen
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Sonderbewilligungen ist gemeinsam, dass sie gemäss festgesetzten Bedingungen
den Gebrauch eines Fahrzeuges gestatten, für das kein ordentlicher Ausweis
besteht, durch den das Fahrzeug allgemein zum Verkehr zugelassen wäre.
Die Kollektivbewilligung nun bezieht sich gar nicht auf ein bestimmtes
Fahrzeug, auch nicht auf mehrere bestimmte Fahrzeuge. Sie kann vom
Geschäftsinhaber, dem sie erteilt ist, wie auch von seinen Angestellten und
Arbeitern für beliebige Fahrzeuge verwendet werden, wobei als Ausübung der
Kollektivbefugnis nur der jeweilige Betrieb eines Fahrzeugs mit dem
Kollektivausweis und den damit abgegebenen Schildern zu gelten hat.
Entsprechend dem jeweiligen Gebrauch ist auch der mit der Kollektivbewilligung
verbundene Haftpflichtversicherungsschutz sachlich und zeitlich beschränkt.
Für ein Fahrzeug, das mittels Kollektivausweises einem Käufer zugeführt worden
ist, entfallt daher der dem Ausweise entsprechende Versicherungsschutz, sobald
der Händler die Schilder zu anderweitiger Verwendung an sich nimmt und damit
das Fahrzeug dem Bereich der Kollektivbewilligung entrückt. Der Wagen ist
fortan dieses Schutzes sowenig mehr teilhaftig, wie wenn sich der
Halterwechsel ohne Verwendung eines Kollektivausweises vollzogen hätte. Von
der Übertragung der Kollektivbewilligung an den Käufer eines Fahrzeugs kann
keine Rede sein, ganz abgesehen davon, dass sie sich bei Verwendung zum
Zuführen einer Mehrzahl von Wagen an verschiedene Käufer nicht vervielfachen
liesse; wie denn die die Bewilligung deckende Versicherung ebenfalls nur je
die Verwendung des Kollektivausweises durch den Händler, dem allein er zusteht
(und dessen Personal), zu decken bestimmt ist. Auf eine solche
Kollektivbewilligung, die nicht geeignet ist, ein bestimmtes Fahrzeug über die
Dauer der Verwendung dafür hinaus zu einem mit Ausweis versehenen Fahrzeug zu
stempeln, ist Art. 40 MFG nicht anwendbar.
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Ob demgegenüber die gemäss Art. 28 der Verordnung für ein bestimmtes Fahrzeug
zu erteilende Tagesbewilligung während ihrer Gültigkeitsdauer übertragbar sei
und im Rahmen des bewilligten Zweckes die Anwendung von Art. 40 MFG
rechtfertige, ist hier nicht zu entscheiden. Wie der Appellationshof
zutreffend ausführt, kennzeichnet sich die vorliegende für eine unbeschränkte
Anzahl von Motorfahrzeugen verschiedener Marken erteilte Bewilligung als
Kollektivbewilligung, was eine Fortdauer der Haftung für irgendein bestimmtes
Fahrzeug im Sinne von Art. 40 MFG ausschliesst. Dem steht nicht entgegen, dass
die Bedingungen der Bewilligung verordnungswidrig nach dem Muster einer
Tagesbewilligung gestaltet waren, wie sie nach Art. 28 VV nur für ein
bestimmtes Fahrzeug erteilt werden soll. Entsprechend dem kollektiven
Charakter des Ausweises des Garageinhabers, auf Grund dessen der Kläger die
«Helvetia» (gemäss Art. 49 MFG unmittelbar) belangt, erweist sich die Klage
nach dem Ausgeführten als unbegründet, weil der von Linder geführte Wagen im
Zeitpunkt des Unfalles nicht mehr unter dem Schutze jenes Ausweises und der
dessen Verwendung deckenden Haftpflichtversicherung stand.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Appellationshofes des Kantons
Bern vom 14. April 1937 bestätigt.
Vgl. III. Teil No. 38. - Voir III e partie no 38.