BGE 62 II 307
78. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 21. Oktober 1936 i. S.
Schweizerische National-Versicherungsgesellschaft gegen Leuzinger-Bruggmann
und Allgemeine Versicherungs-A. G. «Nordstern».
Regeste:
Motorfahrzeuggesetz.
1. Haftpflicht. Auf die Befreiungs- und Beschränkungsgründe des Art. 37 Abs.
2-4 können sich auch die gemäss Art. 38 solidarisch haftenden mehreren Halter
berufen, doch ist der eine Halter im Verhältnis zum andern nicht Dritter im
Sinne von Art. 37. Erw. 1.
2. Versicherung, Art. 48-50. Als versichert hat gegenüber dem Geschädigten im
Rahmen der Versicherungssumme die gesetzliche Halterhaftpflicht zu gelten. Die
Einrede des Versicherers, die Versicherung habe sich nur auf das Motorrad ohne
Soziussitz bezogen, ist ausgeschlossen. Erw. 2.
A. Am 19. August 1933 kam es in St.Gallen-Neudorf zu einem Zusammenstoss
zwischen dem Personenautomobil
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von Johann Zizelmann und dem Motorrad von Louis Frei, der auf dem Soziussitz
den Sohn der Kläger, Walter Leuzinger, mitführte. Frei und Leuzinger wurden
getötet.
Zizelmann hatte für das Automobil eine Haftpflichtversicherung bei der
«Nordstern», Allgemeine Versicherungs-A.-G. in Bern, Frei für das Motorrad
eine solche bei der Schweizerischen National-Versicherungsgesellschaft in
Basel eingegangen. Die Versicherung Freis lautete auf ein «Motorrad ohne
Soziussitz und ohne Seitenwagen».
B. Die Eltern Leuzingers reichten gegen die beiden
Versicherungsgesellschaften «National» und «Nordstern» vorliegende Klage ein,
mit der sie insgesamt Fr. 21012.15 Schadenersatz und Genugtuung verlangten.
Das Bezirksgericht St. Gallen wies die Klage ab, das Kantonsgericht hiess sie
durch Urteil vom 23./24. Juli 1936 grundsätzlich gut und verpflichtete die
beiden Beklagten, den Klägern unter Solidarhaft einen Betrag von Fr. 9178.15
zu bezahlen.
F. Gegen dieses Urteil hat die Beklagte «National» die Berufung ans
Bundesgericht ergriffen mit dem Antrag auf Abweisung der Klage.
Die Kläger haben Abweisung der Berufung beantragt.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Der Unfall hat sich infolge des Zusammenstosses zwischen Motorrad und
Automobil ereignet. Die Halter der beiden Fahrzeuge sind daher, unter
Vorbehalt der Befreiungs- und Reduktionsgründe des Art. 37 MFG für den Schaden
gemäss Art. 38 solidarisch haftbar, wobei die Geschädigten ihre Ansprüche nach
Art. 49 Abs. 1 unmittelbar gegen die Beklagten als Versicherer geltend machen
können.
Als Befreiungsgründe kommen nach Art. 37 Abs. 2 höhere Gewalt sowie grobes
Verschulden des Geschädigten oder eines Dritten in Betracht, unter der
Voraussetzung, dass den Halter oder Personen, für die er verantwortlich ist,
kein Verschulden trifft; unter der gleichen Voraussetzung
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hat der Richter, wenn dem Geschädigten oder dem Dritten nur ein leichtes
Verschulden zur Last fällt, die Ersatzpflicht des Halters unter Würdigung
aller Umstände festzusetzen. Bei konkurrierendem Verschulden des Geschädigten
oder Dritten und des Halters oder einer Person, für die er verantwortlich ist,
tritt gemäss Absatz 3 eine ebenfalls unter Würdigung aller Umstände
festzusetzende Reduktion der Ersatzpflicht ein.
Höhere Gewalt haben die Beklagten als Unfallursache nicht geltend gemacht.
Die Behauptung sodann, es treffe den verunglückten Walter Leuzinger selber ein
Verschulden, indem er als Kaufsinteressent für das Motorrad die übersetzte
Fahrgeschwindigkeit Freis gebilligt oder sogar provoziert habe, ist erledigt
durch die Feststellung der Vorinstanz, dass weder das angebliche
Kaufsinteresse Leuzingers für das Fahrzeug noch irgendein Einfluss seinerseits
auf das Fahrtempo nachgewiesen seien.
Als Dritten im Sinne von Art. 37 Abs. 2 behandelt die Vorinstanz vom
Standpunkt des Automobilisten aus den Motorradfahrer und vom Standpunkt des
Motorradfahrers aus den Automobilisten. Demgemäss lehnt sie die Befreiung von
der Haftpflicht sowohl für den Motorradfahrer wie für den Automobilisten ab,
weil beide ein schweres Verschulden am Unfall treffe. Wenn aber die beiden
Führer unter dem Gesichtspunkte des Absatzes 2 von Art. 37 gegenseitig als
Dritte anzusehen sind, so gilt das folgerichtig auch für Absatz 3. Die Annahme
eines beidseitigen schweren Verschuldens hätte deshalb die Vorinstanz dazu
führen müssen, die Ersatzpflicht jedes der beiden Beteiligten (bezw. seines
Versicherers) mit Rücksicht auf das grobe Verschulden des andern
herabzusetzen. Das hat sie nicht getan, vielmehr wurden beide Versicherer
gegenüber den Klägern für den vollen Schaden solidarisch haftbar erklärt.
Allein es kann der grundsätzlichen Auffassung der Vorinstanz nicht zugestimmt
werden. Ohne Zweifel gelten
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die Haftbefreiungs- und Reduktionsgründe von Art. 37 Abs. 2-4 auch für die
gemäss Art. 38 solidarisch haftenden mehreren Halter. Insbesondere kann sich
jeder derselben zu seiner ganzen oder teilweisen Entlastung auf das
Verschulden Dritter berufen (STREBEL, Kommentar, Art. 38 N. 2). Der eine der
mehreren beteiligten Halter ist aber im Verhältnis zu den andern nicht Dritter
im Sinne von Art. 37. Das wäre schon mit dem Wesen der Solidarhaft nicht
vereinbar, die gerade darin besteht, dass sie die mehreren Pflichtigen zu
einer Haftungsgemeinschaft verbindet. Wer in diese Gemeinschaft einbezogen
ist, steht nicht gleichzeitig als Dritter ausserhalb derselben. So verhält es
sich auch im Recht der unerlaubten Handlung nach Art. 41 ff
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 41 - 1 Wer einem andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit, wird ihm zum Ersatze verpflichtet. |
|
1 | Wer einem andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit, wird ihm zum Ersatze verpflichtet. |
2 | Ebenso ist zum Ersatze verpflichtet, wer einem andern in einer gegen die guten Sitten verstossenden Weise absichtlich Schaden zufügt. |
dort das Verschulden Dritter als solches für die Haftung gegenüber dem
Geschädigten schlechthin keine Rolle, sofern nur der adäquate
Kausalzusammenhang zwischen dem eingetretenen Schaden und der Handlung des
Belangten nicht unterbrochen ist. Dagegen kann sich der Belangte unter
Umständen gemäss Art. 43
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 43 - 1 Art und Grösse des Ersatzes für den eingetretenen Schaden bestimmt der Richter, der hiebei sowohl die Umstände als die Grösse des Verschuldens zu würdigen hat. |
|
1 | Art und Grösse des Ersatzes für den eingetretenen Schaden bestimmt der Richter, der hiebei sowohl die Umstände als die Grösse des Verschuldens zu würdigen hat. |
1bis | Im Falle der Verletzung oder Tötung eines Tieres, das im häuslichen Bereich und nicht zu Vermögens- oder Erwerbszwecken gehalten wird, kann er dem Affektionswert, den dieses für seinen Halter oder dessen Angehörige hatte, angemessen Rechnung tragen.27 |
2 | Wird Schadenersatz in Gestalt einer Rente zugesprochen, so ist der Schuldner gleichzeitig zur Sicherheitsleistung anzuhalten. |
dann, wenn dadurch sein eigenes Verschulden gemindert erscheint (vgl. BGE 41
II 228). Auch diese Einrede ist jedoch ausgeschlossen, wenn der Belangte und
der Dritte gemäss Art. 50
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 50 - 1 Haben mehrere den Schaden gemeinsam verschuldet, sei es als Anstifter, Urheber oder Gehilfen, so haften sie dem Geschädigten solidarisch. |
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1 | Haben mehrere den Schaden gemeinsam verschuldet, sei es als Anstifter, Urheber oder Gehilfen, so haften sie dem Geschädigten solidarisch. |
2 | Ob und in welchem Umfange die Beteiligten Rückgriff gegeneinander haben, wird durch richterliches Ermessen bestimmt. |
3 | Der Begünstiger haftet nur dann und nur soweit für Ersatz, als er einen Anteil an dem Gewinn empfangen oder durch seine Beteiligung Schaden verursacht hat. |
Drittverschulden für die Haftung gegenüber dem Geschädigten mittelbar
ebensowohl wie unmittelbar gänzlich ausser Betracht; BGE 57 II 35 . Umsomehr
muss das auch gelten für die Haftung nach Art. 37/38 MFG, die ein Verschulden
grundsätzlich gar nicht voraussetzt. Der Geschädigte soll sich im Falle, wo
mehrere Motorfahrzeughalter am Schadensereignis beteiligt sind, in gleicher
Weise auf die Kausalhaftung verlassen können, wie wenn es sich im ganzen nur
um ein einziges Fahrzeug und einen einzigen Halter handeln würde. Das wäre
aber nicht mehr der Fall, wenn er vor der Klageeinreichung die Verteilung des
Verschuldens zwischen den verschiedenen Haltern untersuchen müsste, zumal die
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Verteilung in diesem Stadium oft noch recht unsicher erscheint und der
Geschädigte infolgedessen leicht riskieren würde, in unrichtiger Weise
vorzugehen. Den beteiligten Haltern muss es daher überlassen bleiben, sich
gemäss Art. 38 Abs. 2 auf dem Regresswege über die Verschuldensverteilung
auseinanderzusetzen. Zu dem nämlichen Ergebnis gelangt auch die Doktrin:
STREBEL, Art. 38 N. 10, BUSSY, Art. 38 N. 4, Abs. 2 lit. b.
Die beiden beklagten Versicherungsgesellschaften haben somit den Klägern
solidarisch für den vollen Schaden einzustehen, ohne dass zu prüfen wäre, in
welcher Weise das Verschulden auf ihre Versicherten, den Automobilisten und
den Motorradfahrer, verteilt ist.
3. Die «National», welche gegen das vorinstanzliche Urteil allein die
Berufung erklärt hat, wird von ihrer Haftung auch nicht durch den Umstand
befreit, dass ihr Versicherungsvertrag mit Frei nur auf das Motorrad «ohne
Soziussitz» gelautet hat.
Dem Geschädigten steht nach Art. 49 Abs. 1 MFG aus der vom Halter
abgeschlossenen Haftpflichtversicherung im Rahmen der vertraglichen
Versicherungssumme ein direktes Forderungsrecht gegenüber dem Versicherer zu,
und zwar gemäss Art. 50 Abs. 1 in der Weise, dass ihm Einreden aus dem
Versicherungsvertrag und aus dem Bundesgesetz über den Versicherungsvertrag,
welche die Deckung des Schadens schmälern oder aufheben würden, nicht
entgegengehalten werden können. Als versichert hat demnach zu Gunsten des
Geschädigten, wie die Vorinstanz zutreffend ausführt, im Rahmen der
Versicherungssumme die gesetzliche Haftpflicht des Halters zu gelten. Diese
Regelung bezweckt, für den Geschädigten den Erfolg der
Haftpflichtversicherung, so wie sie durch Art. 48 vorgeschrieben ist, zu
gewährleisten und nicht an Beschränkungen, die sich aus dem
Versicherungsvertrag oder dem Versicherungsvertragsgesetz ergeben könnten,
ganz oder teilweise scheitern zu lassen.
Der von den Klägern erlittene Schaden fällt, wie oben
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dargelegt wurde, unter die gesetzliche Halterhaftpflicht. Demgegenüber stellt
sich daher die Berufung der «National» auf den Umstand, dass sich die
Versicherung nur auf das Motorrad ohne Soziussitz bezogen habe, als eine
Einrede aus dem Versicherungsvertrag im Sinne von Art. 50 Abs. 1 MFG dar, die
nicht gehört werden kann. Anders würde es sich nur dann verhalten, wenn das
Motorrad wegen des aufmontierten Soziussitzes nicht als identisch zu
betrachten wäre mit dem Fahrzeug, für welches die Versicherung abgeschlossen
wurde. Dann hätte man es nicht mit einer Einrede aus dem Versicherungsvertrag
und überhaupt nicht mit einer Einrede zu tun, sondern mit der Bestreitung
einer klägerischen Behauptung: bestritten würde, dass hinsichtlich des
Fahrzeuges, welches den Unfall verursacht bezw. mitverursacht hat, überhaupt
eine Versicherung vorliege. Davon kann aber hier nicht die Rede sein. Der
Soziussitz hat das Motorrad keineswegs derart verändert, dass das Resultat als
völlig neues Fahrzeug anzusprechen wäre. Hinzugekommen ist nur eine Zugehör,
welche die Identität des Fahrzeuges nicht berührt hat. Das am Unfall
beteiligte Fahrzeug ist daher kein anderes als dasjenige, für welches die
Versicherung abgeschlossen wurde; was die Berufungsklägerin geltend macht, ist
der vertragliche Ausschluss des mit der Mitführung eines Sozius verbundenen
Risikos, also eine Einrede gemäss Art. 50 Abs. 1. Ob der Soziussitz schon vor
oder erst nach Abschluss des Versicherungsvertrages aufmontiert wurde, ist
dabei nach dem Gesagten gleichgültig. Ebensowenig spielt eine Rolle, dass der
polizeiliche Fahrzeugausweis nur für ein Motorrad ohne Soziussitz ausgestellt
und auch die Verkehrssteuer nur für ein solches entrichtet worden war; das
sind administrative Verhältnisse, mit welchen die zivilrechtliche Haftung des
Versicherers nichts zu tun hat.
Die Berufungsklägerin verweist auf Art. 11 Abs. 3 des Automobilkonkordates,
das die gleiche Regelung enthalten habe wie heute Art. 50 Abs. 1 MFG. Dennoch
sei in der Gerichtspraxis, z. B. vom zürcherischen Obergericht in
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einem Urteil vom 24. Februar 1931 und vom bernischen Appellationshof in einem
Urteil vom 3. November 1931, die Haftung des Versicherers abgelehnt worden in
Fällen, wo der Versicherungsvertrag ein Ergebnis unzweideutig von der
Versicherung ausgeschlossen habe. Diese Darstellung ist unrichtig. Wenn Art.
11 Abs. 3 des Konkordates vorschrieb, die Versicherung müsse alle Unfälle
decken, die das Fahrzeug verursache, so handelte es sich dabei gleich wie nach
Art. 48 Abs. 1 MFG um eine Verpflichtung des Fahrzeughalters bezw.
-Eigentümers, eine Haftpflichtversicherung in diesem Sinne abzuschliessen.
Eine dem Art. 50 Abs. 1 MFG entsprechende Vorschrift, dass sich der
Versicherer dem Geschädigten gegenüber nicht auf Klauseln des
Versicherungsvertrages berufen könne, welche die Deckung des Schadens
schmälern oder aufheben würden, bestand dagegen nicht. Das erklärt sich schon
daraus, dass dem Geschädigten vor Inkrafttreten des MFG ein direktes
Forderungsrecht gegenüber dem Versicherer nicht zustand. Ausserdem wäre eine
Konkordatsvorschrift, welche dem Versicherer Einreden aus dem
Versicherungsvertrag hätte entziehen wollen, unzulässig gewesen, weil sie
einen Einbruch in Bundesrecht, nämlich in das Bundesgesetz über den
Versicherungsvertrag, bedeutet hätte (vgl. hiezu BGE 54 II 213 ff. und 56 II
217 Erw. 2). Tatsächlich ist Art. 11 Abs. 3 des Konkordates denn auch in den
von der Berufungsklägerin angerufenen Urteilen des zürcherischen Obergerichtes
und des bernischen Appellationshofes nicht so ausgelegt worden.
Schliesslich nimmt die Berufungsklägerin noch den Standpunkt ein, dass bei der
klaren Formulierung des Versicherungsvertrages keinesfalls die Haftpflicht
gegenüber dem Soziusfahrer selbst als versichert gelten könne. Die Eltern des
verunglückten Soziusfahrers Leuzinger klagen jedoch aus eigenem Rechte und
nicht als Rechtsnachfolger ihres Sohnes. Abgesehen hievon wäre die Haftung
höchstens dann abzulehnen, wenn sich der
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Soziusfahrer hätte bewusst sein müssen, dass sie im Versicherungsvertrag
ausgeschlossen sei, wofür alle Anhaltspunkte fehlen.
Die Haftung der Berufungsklägerin ist daher auch unter diesem Gesichtspunkt zu
bejahen. Insofern sie gemäss Versicherungsvertrag zur Ablehnung der Leistung
befugt gewesen wäre, steht ihr nach Art. 50 Abs. 2 MFG der Rückgriff auf den
Versicherungsnehmer bezw. dessen Erben zu.
4. (Quantitativ: Bestätigung des durch die Vorinstanz zugesprochenen
Betrages).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Kantonsgerichtes St. Gallen
vom 23./24. Juli 1936 bestätigt.