BGE 62 II 271
69. Urteil der II. Zivilabteilung vom 10. Dezember 1936 i. S. Dorizzi gegen
Guyer.
Regeste:
Eintritt der Rechtskraft eines kantonalen (Scheidungs-) Urteils hinsichtlich
der mit der kantonalen Berufung nicht angefochtenen Punkte: Von
bundesrechtswegen steht es dem kantonalen Prozessrecht frei zu bestimmen, dass
der Suspensiv- (und Devolutiv-) Effekt der kantonalen Berufung das ganze
erstinstanzliche Urteil ergreift, auch wenn sich die Berufung nur auf einen
Teil desselben bezieht.
A. Das Bezirksgericht Horgen sprach auf Klage der Ehefrau die Scheidung der
1910 geschlossenen Ehe der Parteien gestützt auf Art. 137 ZGB aus, auferlegte
dem Beklagten ein Eheverbot von einem Jahre «vom Datum der Rechtskraft dieses
Urteils an gerechnet» und sprach die drei Söhne der Klägerin zu; der Beklagte
wurde verpflichtet: (Disp. 4) zur Leistung von Unterhaltsbeiträgen an die drei
Söhne und (Disp. 5) zur Bezahlung von 10000 Franken,
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ausser den anerkannten Beträgen, als Ersatz des von ihm verbrauchten
Frauenguts.
B. Gegen dieses Urteil erhoben beide Parteien Berufung an das Obergericht
und zwar die Klägerin bezüglich Disp. 4, der Beklagte bezüglich Disp. 4 und 5
des bezirksgerichtlichen Urteils.
C. In den Erwägungen seines Urteils vom 16. September 1936 hat das
Obergericht nur diese beiden Punkte (Unterhaltsbeiträge an die Söhne,
Frauengutsersatzforderung) als noch streitig behandelt; im Dispositiv wird
jedoch unter Ziff. 1 neuerdings die Scheidung und unter Ziff. 2 das Eheverbot
«auf die Dauer eines Jahres von der Rechtskraft dieses Urteils an gerechnet»
ausgesprochen. In Disp. 5 wird die Frauengutsersatzforderung mit 10000 Fr.
bestätigt; Disp. 8 und 9 betreffen die rechtlichen und ausserrechtlichen
Kosten.
D. Gegen dieses Urteil richtet sich die vorliegende Berufung des Beklagten
mit den Anträgen:
«I. Dispositiv 1 und 2 seien aufzuheben in dem Sinne, dass festgestellt werde,
das Urteil des Bezirksgerichts Horgen vom 21. April 1936 sei mit dem
letztgenannten Datum in Rechtskraft erwachsen, soweit es die Scheidung
betrifft, und dass es vom Obergericht unzulässig war, eine bereits
rechtskräftig geschiedene Ehe nochmals zu scheiden.
II. Ferner seien Disp. 5, 8 und 9 ebenfalls aufzuheben.
III. Die Klägerin sei für das obergerichtliche und bundesgerichtliche
Verfahren kosten- und entschädigungspflichtig zu erklären.»
Die Berufungsbeklagte trägt auf Abweisung der Berufung an.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Ob das Obergericht in seinem Dispositiv die Scheidung seinerseits
neuerdings aussprechen konnte und musste, hängt davon ab, ob das
bezirksgerichtliche Urteil in denjenigen Punkten, auf die sich die Berufungen
nicht
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bezogen, in Rechtskraft erwachsen ist oder nicht. Dies ist eine Frage des
kantonalen Prozessrechts. Wenn die Vorinstanz mit ihrem Disp. 1 über die
bereits rechtskräftig entschiedene Scheidungsfrage nochmals entschieden hätte,
so hätte sie damit höchstens gegen kantonales Prozessrecht, nicht aber gegen
Bundesrecht verstossen. Die einzige in Frage kommende Bestimmung
eidgenössischen Rechts, Art. 150 ZGB betreffend die Wartefrist, wäre dadurch
nicht verletzt. Diese bundesrechtliche Bestimmung enthält in dieser Beziehung
lediglich den Rechtssatz, dass die Wartefrist von der Rechtskraft des
Scheidungsurteils an läuft. Wann aber die Rechtskraft eintritt, wird vom
kantonalen Prozessrecht bestimmt (§§ 103, 316 zürch. ZPO). Es steht diesem
frei zu bestimmen, dass der Suspensiv- und der Devolutiveffekt der kantonalen
Berufung das ganze erstinstanzliche Urteil ergreift, auch wenn sich die
Berufung nur auf einen Teil desselben bezieht (vgl. BGE 30 I 502 ff.). Ob dies
im zürcherischen Prozessrecht der Fall ist wie es nach dem vorliegenden
Urteil und nach der Praxis wenigstens bezüglich des Suspensiveffekts den
Anschein hat (Komm. STRÄULI, N. 1 zu § 316) kann vom Bundesgericht nicht
überprüft werden, da es sich, wie gesagt, um einen Satz des kantonalen
Prozessrechts handeln würde, der nicht gegen Bundesrecht verstösst. Kann daher
das Bundesgericht auf das Berufungsbegehren I betreffend Disp. 1 und 2 nicht
eintreten, so liegt anderseits darin auch nicht etwa eine bundesgerichtliche
Bestätigung des Inhalts von Disp. 1, dass die Wartefrist mit der Rechtskraft
des obergerichtlichen Urteils beginne. Der Berufungskläger könnte, falls ihm
wegen Nichtablaufs der Wartefrist eine neue Eheverkündung verweigert (Art. 107
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 107 - Ein Ehegatte kann verlangen, dass die Ehe für ungültig erklärt wird, wenn er: |
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1 | bei der Trauung aus einem vorübergehenden Grund nicht urteilsfähig war; |
2 | sich aus Irrtum hat trauen lassen, sei es, dass er die Ehe selbst oder die Trauung mit der betreffenden Person nicht gewollt hat; |
3 | die Ehe geschlossen hat, weil er über wesentliche persönliche Eigenschaften des anderen absichtlich getäuscht worden ist; |
4 | ... |
ZGB) bezw. gegen die erfolgte Verkündung Einspruch erhoben würde (Art. 108
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 108 - 1 Die Ungültigkeitsklage ist innerhalb von sechs Monaten seit Kenntnis des Ungültigkeitsgrundes oder seit dem Wegfall der Drohung einzureichen, in jedem Fall aber vor Ablauf von fünf Jahren seit der Eheschliessung. |
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1 | Die Ungültigkeitsklage ist innerhalb von sechs Monaten seit Kenntnis des Ungültigkeitsgrundes oder seit dem Wegfall der Drohung einzureichen, in jedem Fall aber vor Ablauf von fünf Jahren seit der Eheschliessung. |
2 | Das Klagerecht geht nicht auf die Erben über; ein Erbe kann jedoch an der bereits erhobenen Klage festhalten. |
seinen gegenteiligen Standpunkt im Beschwerde- bezw. Klageverfahren immer noch
geltend machen (Art. 43 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 43 - Die Zivilstandsbehörden beheben von Amtes wegen Fehler, die auf einem offensichtlichen Versehen oder Irrtum beruhen. |
3; Art. 111
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 111 - 1 Verlangen die Ehegatten gemeinsam die Scheidung und reichen sie eine vollständige Vereinbarung über die Scheidungsfolgen mit den nötigen Belegen und mit gemeinsamen Anträgen hinsichtlich der Kinder ein, so hört das Gericht sie getrennt und zusammen an. Die Anhörung kann aus mehreren Sitzungen bestehen. |
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1 | Verlangen die Ehegatten gemeinsam die Scheidung und reichen sie eine vollständige Vereinbarung über die Scheidungsfolgen mit den nötigen Belegen und mit gemeinsamen Anträgen hinsichtlich der Kinder ein, so hört das Gericht sie getrennt und zusammen an. Die Anhörung kann aus mehreren Sitzungen bestehen. |
2 | Hat sich das Gericht davon überzeugt, dass das Scheidungsbegehren und die Vereinbarung auf freiem Willen und reiflicher Überlegung beruhen und die Vereinbarung mit den Anträgen hinsichtlich der Kinder genehmigt werden kann, so spricht das Gericht die Scheidung aus. |
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
Auf die Berufung wird bezüglich des Begehrens I (Disp. 1 und 2 des
angefochtenen Urteils) nicht eingetreten; im übrigen wird die Berufung
abgewiesen.