502 A. staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt.. Bundesverfassung.

II. Eher-echt. Droit. au mariage.

86. Urteil vom 22. September 1904 in Sachen Siegfried gegen Siegfried.

Steigung des Beendesgerichtes bei staatsrechtlichen Zelt-aussen wegenVer
let-ungverfassuflgsmässigee Rechte, und Funktion dieser Beschwerde,
Art. 175 Zin". 3 OG. Möglich-keit der teilweisen Rechtskraft
eines Scheidnngsurtells und der Appellation nur meli Bezug anf
einzelnePemkte) nach Beendesrecht (Art. 49 Abs. 2 GBG) eran nach aarg.
Givilpmzessrecht. Aufhebung eines non den Parteien niche? angefochtenen
Scheidungszlispositivs durch. den Appellationsrichter; liegt hierin eine
Rechtseerweigerung ? Recht auf Ehescheidung. Art. 54
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 54 Auswärtige Angelegenheiten - 1 Die auswärtigen Angelegenheiten sind Sache des Bundes.
1    Die auswärtigen Angelegenheiten sind Sache des Bundes.
2    Der Bund setzt sich ein für die Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz und für ihre Wohlfahrt; er trägt namentlich bei zur Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie, zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen.
3    Er nimmt Rücksicht auf die Zuständigkeiten der Kantone und wahrt ihre Interessen.
BV. Bedeutung von
Art. 45 OEG. Wièikù'si-î'liche Auslegung non-Z 149 aarg. BGB, beendet-ed
um der Zlate-Zinny der Kinder im Ehe-Schei(lungspssrozess.

A. Die Parteien Walter Siegfried und Helene Siegfried geb. Aichele,
die sich im Jahre 1890 geheiratet und in dieser Ehe zwei noch lebende
Kinder, Helene und Margot, erzeugt haben, reichten im Juli 1903 beim
Bezirksgericht Zofingen, als am Heimatort des Ehemannes, ein gemeinsames
Begehren um Scheidung der Ehe ein, worin sie gestützt auf Art. 45 CEG
alsScheidungsgrund ohne nähere Angabe der Ursachen desselben, über
die sie sich, der Kinder wegen, gegenseitig Stillschweigen dersprochen
hätten tiefe, unheilbare Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses geltend
machten und bezüglich der Nebenfolgen der Scheidung der Zuteiluug
der Kinder und der Vermögensrechtlichen Auseinandersetzung mit
Einschluss der Prozesskosten aus eine am 29. Juni 1903 abgeschlossene
ausser-gerichtliche Vereinbarung verwiesen. Diesem Begehren entsprach
das Bezirks-gerichtZofingen durch Urteil vom 9. September 1903, indem
es aufgänzliche Scheidung erkannte (Dispositiv i) und im übrigen dem
angerufenen Vergleiche der Parteien in allen Punkten seine Genehmigung
erteilte, ohne ihn jedoch in seinem Wortlaut in die Dispositive des
Urteils auszunehmen Aus dem letztern Grunde appellierten beide Parteien
an das Obergericht des Kantons Aargan und verlangten eingehendere (von
jeder Partei in besondererIl. Eherecbt. N° 86. 503

Weise näher formulierte) Erwähnung des Vergleichsin den Dispositiven, um
die unmittelbare Vollsireckbarkeit der jedem Teile darin zugestandenen
Rechte sicher zu stellen. In der Parteiverhandlung vor Obergericht
erklärte dann aber der Ehemann, dass er infolge eingetretener
neuer Tatsachen vom Vergleiche hinsichtlich der Zuteilung der Kinder
zurücktrete, und stellte gleichzeitig hierdurch bedingte neue Begehren
(an gänzliche Zuweisung der Kinder an ihn, ec.), um sich sodann
-offenbar auf Anregung des Gerichts damit einverstanden zu erklären,
dass der Richter aus den Vergleich überhaupt nicht mehr abstelle und
den Prozess zur nachträglichen Instruktion Über die Schuldfrage und die
Scheidungsfolgen an die erste Instanz zurückweise. Die Ehefrau widersetzte
sich diesen Begehren. Hieran beschloss" das aargauische Obergericht am
26. Februar 1904:

In Aufhebung des bisherigen Verfahrens wird die Angelegenheit an die
Vorinstanz zur Instruktion des Prozesses im Sinne der CPO zurückgewiesen.

Die Begründung dieses Entscheides lautet wie folgt:

Eure solche Rückweisung des Prozesses zur materiellen Verhandlnng steht
nicht im Widerspruch mit dem Gesetze Dieses verlangt gegenteils, dass
der Tatbestand festgestellt und dass über die Folgen der Scheidung im
Anschluss an die Frage der Schuld entschieden werde. Es handelt sich,
speziell in Bezug auf den Zuspruch und die Erziehung der Kinder, um eine
Frage öffentIich-rechtlichen Charakters-, die von Parteikonventionen
unabhängig zu erledigen und nur gemäss der Schuldfrage und der
Rücksicht aus die Fürsorge für die Kinder zu beurteilen ist. Da es
aber nicht ausgeschlossen ist, dass diesbezüglich bei Abschluss der
Vereinbarung anderweitige Rücksichten obgewaltet haben, und nicht nur
die Erziehung der Kinder ausschlaggebend war, so ist es gerechtfertigt,
auf den Vergleich nicht mehr Bezug zu nehmen, das bisherige Verfahren
aufzuheben und die Sache zur Instruktion des ordentlichen Prozesses an
die Vorinstauz zurückzuweisen.

B. Gegen den Entscheid des Obergerichtes hat Frau Siegfried rechtzeitig
den staatsrechtlichen Rekurs ans Bundesgericht ergriffen mit folgenden
Anträgen:

504 A. Siaatsrechtiàche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

1. Es sei das angefochtene Urteil des Obergerichtes aufzuheben und es sei

2. die von der ersten Instanz ausgesprochene und rechtskräftig gewordene
gänzliche Scheidung der Ehe zu bestätigen,. eventuell sei die gänzliche
Scheidung vom Bundesgericht definitiv auszusprechen und zu verfügen,
und in beiden Fällen sei auch der mit Bezug aus die Folgen der Ehe
(betr. vermögensrechtliche Auseinandersetzung, Kinder-Erziehung
u. s. w.) von den beiden Parteien am 29. Juli 1908 abgeschlossen-e
Vergleich in allen seinen Teilen als Ganzes, nicht etwa nur teilweise,
gerichtlich zu genehmigen und zu bestätigen, und es seien die jeder
Partei nach diesem Abkommen zukommenden Rechte ihrem vollen Inhalte nach
in den Urteilstenor aufzunehmen

Eventuell, falls wider Erwarten auf die prinzipalen Begehren nicht
eingetreten würde, oder falls sie abgewiesen würden, wird beantragt:

1. Es sei das angefochtene Urteil des aargauischen Oberkierichtes
aufzuheben und zu annullieren und

L. es sei die vom Bezirksgericht Zofingen ausgesprochene, rechtskräftig
gewordene gänzliche Scheidung der Ehe zu bestätigen, eventnell vom
Bundesgerichte selbst endgültig auszusprechen, und in beiden Fällen sei
die Festsetzung bloss der Folgen der Scheidung mit Bezug auf die Erziehung
der Kinder, die Vermögensverhältnisse u. s. w. an das kantonale Gericht
zurückzuweisen. Auf alle Fälle sei das obergerichtliche Urteil, insoweit
es das rechtskräftig gewordene Dispositiv des bezirksgerichtlichen
Urteils, das Scheidung der Ehe verfügt, aufhebt, zu annnllieren.

Jn der Begründung wird ausgeführt: Dis-positiv 1 des bezirksgerichtlichen
Urteils, das die gänzliche Scheidung der Eheleute Siegfried auf Grund
von Art. 45 CEG ausspreche, sei dadurch rechtskräftig geworden, dass
keine Partei rechtzeitig dagegen appelliert habe (§§ 141 und 321 der
aarg. CPO); die Appellationsbegehren der Parteien hätten ja bloss
die Nebenfolgen der Scheidung und zwar nur hinsichtlich der Form zum
Gegenstand gehabt. Es sei aber zweifellos, dass nach aargauischem
Recht Differenzen über die Nebenfragen nicht hindern, dass das nicht
angefochtene Scheidungsdispositiv rechtskräftig werde. Der Rekursbe-
ll. Eherecht. N° 86. 505

klagte sei auch nicht berechtigt gewesen, abweichend von
seiner Appellationserklärung und zudem im Widerspruch mit der
für ihn oerbindlichen Vereinbarung Dispositiv 1 in der mündlichen
Parteiverhandlung vor Obergericht anzufechten, und das Obergericht habe
sich einer Rechtsverweigerung und Willkür schuldig gemacht, indem es
unter Verletzung des Gesetzes die rechtskräftig ausgesprochene Scheidung
aufgehoben und die Angelegenheit zu nachträglicher Instruktion und neuer
Beurteilung an die Vormstanz zurückgewiesen habe. Die Rekurrentin habe
ein Recht darauf, dass, nachdem der Rekursbeklagte auf ein einseitiges
Scheidungsbegehren verzichtet habe und demgemäss die Scheidung definitiv
im Sinne der Vereinbarung der Parteien ausgesprochen sei, nun nicht
nachträglich wieder die Schuldfrage aufgerollt wei-de, und dieses Recht
sei durch die angefochtene Verfügung verletzt. Die Vereinbarung der
Parteien sei aber auch, soweit sie das Schicksal der Kinder und die
ökonomischen Folgen der Scheidung betreffe, sowohl für die Parteien als
auch für den Richter verbind-

_ lich gewesen; hinsichtlich der Kinder ergebe sich dies aus § 149

des aarg. BGB. Der Rekursbeklagte habe auch in dieser Beziehung vom
Vergleich nicht einseitig zurücktreten können; übrigens seien die
zur Begründung angeführten angeblichen neuen Tatsachen teils unwahr,
teils belanglos. Indem das Qbergericht statt die Vereinbarung einfach zu
genehmigen und sie gemäss den Anträgen der Rekurrentin ins Dis-positiv
aufzunehmen, die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen habe in der
Meinung, dass nach durchgeführter Instruktion über das Schicksal der
Kinder ohne Rücksicht auf die Parteikondention entschieden werde, habe
es sich eine weitere Rechtsverweigerung der Rekurrentin gegenüber zu
Schulden kommen lassen.

C. Der Rekursbeklagte hat auf Abweisung des Rekurses angetragen
und ausgeführt: Er habe der Rekurrentin den Ehebruch nie verziehen,
sondern sich nur zur Vermeidung von Skandal und der Kinder wegen dazu
herbeigelassen, diesen Scheidungsgrund im gemeinsamen Scheidungsbegehren
bloss anzudeuten, nicht zu erzählen Einen Scheidungsprozess in dieser den
Tatbestand nur ahnenlassenden Weise zu führen, wider-spreche eigentlich
dem Gesetz und lasse sich nur durch den guten Zweck unschuldigen Das

506 A. Slaatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

Verfahren sei auch nur möglich, so lange der schuldige Teil sich strikte
an die Vereinbarung halte. Nachdem nun aber die Rekurrentin durch ihr
Verhalten während des Prozesses den Vergleich gröblich gebrochen habe,
sei auch der Rekursbeklagte nicht mehr daran gebunden. Er habe daher
das Obergericht auf den bisherigen ungesetzlichen Gang des Prozesses,
derwegen des Schweigens der Parteien gar nicht instruiert gewesen sei,
aufmerksam gemacht und verlangt, dass das bisherige Verfahren aufgehoben
und der Fall zur Instruktion an die erste Instanz zurückgewiesen werde.
Das Obergericht habe dem Begehren entsprochen und es wäre zu seinem
Vorgehen sogar von Amtes wegen befugt gewesen, da im Scheidungsprozess der
Richter an die Anträge der Parteien und allfällige Vereinbarungen dieser
nicht gebunden sei. Es sei nicht richtig, dass das bezirksgerichtliche
Urteil in irgend einem Teile rechtskräftig gewesen sei.

D. Das Obergericht des Kantons Aargau hat in seiner Vernehmlassung
den angefochtenen Entscheid dahin erläutert, dass dadurch das
bezirksgerichtliche Urteil in seiner Totaliiät mit Ein-

schluss von Dispositiv 1 aufgehoben sei, und zwar deshalb, weil '

das Obergericht das vom Bezirksgericht befolgte Verfahren als unzulässig
betrachtet habe.

E. Die Rekurrentin hat gleichzeitig mit ihrer staatsrechtlichen Beschwerde
die Berufung gegen das Urteil des Obergerirhts Aargau vom 26. Februar
1904 ans Bundesgericht erklärt. Doch ist das Bundesgericht auf die
Berufung nicht eingetreten, weil es sich nicht um ein Hanpturteil im
Sinne des Art· 58 Abs. 1 OG handelt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Die staatsrechtliche Beschwerde nach Art. 175 Ziff. 3
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 54 Auswärtige Angelegenheiten - 1 Die auswärtigen Angelegenheiten sind Sache des Bundes.
1    Die auswärtigen Angelegenheiten sind Sache des Bundes.
2    Der Bund setzt sich ein für die Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz und für ihre Wohlfahrt; er trägt namentlich bei zur Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie, zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen.
3    Er nimmt Rücksicht auf die Zuständigkeiten der Kantone und wahrt ihre Interessen.
OG hat eine rein
kassatorische Funktion Ihr Ziel kann nur die Aufhebung eines kantonalen
Erlasses oder Entscheides wegen Verletzung eines verfassungsmässigen
Rechtes sein. Es kann sich daher auch vorliegend für das Bundesgericht
nur fragen, ob der angefochtene Entscheid des aargauischen Obergerichtes
wegen eines solchen Verstosses ganz oder teilweise zu kassieren sei,
während das Bundesgericht als Staatsgerichtshof auf die Übrigen auf
positive Verfügungen gehenden Anträge der Reknrrentin nicht eintreten
kann.II. Ehe recht. N° 86. 507

2. Es steht fest, dass gegen Dispositiv 1 des bezirksgerichtlichen
Urteils, das die Scheidung der Eheleute Siegfried auf Grund von Art. 45
CEG ausspricht, von keiner Partei die Appellation erklärt worden ist;
die Appellationsanträge beziehen sich ausschliesslich auf die Nebenfolgen
der Scheidung in Bezug auf die Kinder und die ökonomischen Verhältnisse
Trotzdem hat das Obergericht auch Dispositiv 1 des erstinstanzlichen
Urteils aufgehoben. Aus dem obergerichtlichen Urteil selber ergibt
sich dies zwar nicht mit Deutlichkeit; doch kann darüber angesichts
der nachträglichen Erklärung des Obergerichtes kein Zweifel sein.
Nun enthält die aargauische CPO die Vorschrift (EUR 321), dass
die appellierende Partei ihre Begehren in der binnen 10 Tagen von
der Zustellung eines Urteils an abzugebenden Appellationserklärung
genau zu formulieren hat. Dass keine neuen Begehren in der mündlichen
Appellationsverhandlung vor Qbergericht gestellt werden können, ist
zwar nirgends ausdrücklich gesagt, folgt jedoch zwingend aus der an die
Spitze der CPO gestellten allgemeinen Regel der Verhandlungsmaxime (gg
1 und 2), die zweifellos auch für das Appellationsverfahren gilt, sowie
aus dem weitern, aus § 134 sich ergebenden Satz, dass (in appellabeln
Streitsachen) neue Begehren nicht einmal in der mündlichen Verhandlung
vor erster Instanz zulässig sind. Wenn daher (in § 141) bestimmt ist,
dass ein erstinstanzliches Urteil rechtskräftig wird, falls binnen
10 Tagen von der Zustellung an kein Rechtsmittel ergriffen wird, so
ist dies zweifellos dahin zu Verstehen, dass nicht nur ein Urteil in
seiner Totalität, sondern auch selbständige Teile eines solchen mangels
rechtzeitiger Appellation in Rechtskraft erwachsen. Dass diese Grundsätze
der aarg. CPO nicht auch für Ehescheidungsurteile, speziell für den Fall
gelten, dass nicht die Scheidung selber, sondern nur die Nebenfolgen durch
Appellation angefochten sind, ist in keiner Weise ersichtlich und vom
Rekursbeklagten auch nicht ausdrücklich behauptet Ebensowenig kann etwa
aus bundesrechtlichen Bestimmungen über die Ehescheidung gefolgert werden,
dass ein die Scheidung aussprechendes Urteilsdispositiv für so lange nicht
rechtskräftig werden könne, als nicht auch über die Nebenfolgen definitiv
entschieden ist; denn Art. 49 Abs. 2 {EEG, wonach das Gericht über die
Folgen zu gleicher Zeit, wie über die Scheidungsklage, entscheidet,
aus welcher Bestimmung

508 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

jene Konsequenz vielleicht gezogen werden könnte, hat nur den

Charakter einer Ordnungsvorschrift und kann jedenfalls nicht hin -

dern, dass ein Scheidungsurteil nach Massgabe der kantonalen CPO zum
Teil, d. h. hinsichtlich der Scheidung selber, rechtskräftig wird, wie
jene Bestimmung auch nicht im Wege steht, dass das Bundesgericht die
Scheidung ausspricht und die Akten zutn Entscheid über die Nebenfolgen an
das kantonale Gericht zurückweist (s. Amtl. Samml. d. bundesg. Entsch.,
Bd. XXIV, 2. Teil, Nr. 42; Bd. XXVIII, 2. Teil, Nr. 44, Erw. il u. 2).

Aus dem Gesagten folgt, dass das Dispositiv 1 des Urteils
des Bezirksgerichtes Zosingen betreffend Scheidung zur Zeit der
Appellationsverhandlung vor Qbergericht bereits rechtskräftig war und
dass das Obergericht, indem es Dis-positiv 1 mit dem übrigen Urteil -sei
es auf mündlichen Antrag des Rekursbeklagten, sei es ohne solchen --
aufhob, die aargauische CPO verletzt hat. Ob, wie der Rekursbeklagte
und das Obergericht in feiner Vernehmlasfung geltend machen, die erste
Instanz dadurch, dass sie die Scheidung ohne nähere Untersuchung des
Tatbestandes aussprach, Art. 45 CEG missachtet hat war hiebei ohne
Belang, weil damit lediglich die materielle Richtigkeit des Urteils,
von der die Rechtskraft selbstverständlich nicht abhängt, in Frage
gestellt war. Allein eine Rechtsverweigerung im bundesrechtlichen Sinn,
die allerdings, da es sich um eine der Kognition des Bundesgerichts als
eventuelle künftige Berufungsinstanz in der Sache entzogene Frage des
kantonalen Prozessrechtes handelt, durch staatsrechtlichen Rekurs gerügt
werden könnte (s. auch Amtl. Samml. der bundesger. Entsch., Bd. XXVIII,
i. Teil, Nr. 9), kann in dem Vorgehen des Obergerichtes doch nicht wohl
erblickt werden; denn eine ausdrückliche Bestimmung, dass ein Urteil,
soweit nicht durch Appellation angefochten, rechtskräftig werde, ist
immerhin in der aargauischen CPO nicht enthalten und es ist auch die
Annahme ausgeschlossen, dass das Obergericht nicht in guten Treuen und
aus andern als den angeführten sachlichen Motiven so entschieden habe.

Trifft nun aber auch der Vorwurf der Willkür, was die Aufhebung des
Scheidungsdispositives durch das Obergericht anlangt, nicht zu, so bildet
der angefochtene Entscheid doch in diesem Punkteil. Eherecht. N° 86. 509

eine bundesrechtlich unzulässige Erschwerung der Verfolgung des
Rechts auf Ehescheidung Die Bedeutung von Art. 45 CEG liegt darin,
dass die Parteien, die sich auf ein gemeinsames Scheidung-sbegehren
geeinigt haben, von den Verhältnissen des ehelichen Lebens nur soviel
mitzuteilen haben, als notwendig ist, um im Gericht die Überzeugung,
dass ein serneres Zusamtnenleben der Ehegatten mit dem Wesen der Ehe
unvereinbar wäre, zu begründen und dass somit schwere Verletzungen der
ehelichen Pflichten seitens des einen oder andern Teils zur Vermeidung
von Skandal und insbesondere im Interesse der Kinder verschwiegen
werden können, immer vorausgesetzt natürlich, dass der bekannt gegebene
Tatbestand für jene richterliche Überzeugung genügt. Die Parteien lauer
dabei höchstens die Gefahr, dass die Scheidungsklage wegen ungenügender
Substanziierung abgewiesen wird; denn auch der Richter ist bei einem
gemeinsamen Begehren aus Art. 45 nicht berechtigt, nach weiteren als
den angegebenen Gründen zu forschen. Vorliegend haben die Parteien
vor erster Instanz von dieser Fakultät, die Art. 45 leg. cit. bietet,
Gebrauch gemacht, indem sie die tieferen Ursachen der Ehezerrüttung,
offenbar im Hinblick auf die Kinder, unerwähnt gelassen haben, und das
Bezirksgericht hat auch ohne dies sich von der Unerträglichkeit eines
weitern Zusammenlebens der Parteien mit dem Wesen der Ehe überzeugt und
demgemäss die Scheidung auf Grund von Art. 45 leg. cit. ausgesprochen
Die Rekurrentin hat nunmehr, nachdem dieses Urteil, wie ausgeführt, in
Rechtskraft erwachsen ist, einen Anspruch darauf, dass nicht nachträglich
auch für die Scheidung selber was zwar im angefochtenen Entscheid des
Obergerichts nicht deutlich gejagt, aber doch offenbar dessen Meinung
ist die Schuldfrage eingehend erörtert und erforscht und ihr dergestalt
die Verfolgung der Ehescheidung erschwert werde· Dieser Anspruch aber
steht als Ausfluss des Jndividualrechts auf Ehescheidung, das seinerseits
auf dem in Ausführung des Art. 54
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 54 Auswärtige Angelegenheiten - 1 Die auswärtigen Angelegenheiten sind Sache des Bundes.
1    Die auswärtigen Angelegenheiten sind Sache des Bundes.
2    Der Bund setzt sich ein für die Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz und für ihre Wohlfahrt; er trägt namentlich bei zur Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie, zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen.
3    Er nimmt Rücksicht auf die Zuständigkeiten der Kantone und wahrt ihre Interessen.
BV erlassenen Bundesgesetze betreffend
Civilstand und Ehe beruht, unter dem Schutze des Bundesgerichtes (Art. i7ò
Ziff. 3 OG), und-der Rekurrentin muss gegen dessen Verletzung durch den
obergerichtlichen Entscheid der staats-rechtliche Rekurs deshalb schon
gegen- wärtig offen stehen, weil ihr ein anderes wirksames Rechtsnnttel

510 A. Staats-rechtliche Entscheidungen I. Abschnitt. Bundesverfassung.

zur Wahrung jenes Rechtes nicht zu Gebote steht; denn die Berufung ans
Bundesgericht nach Art. 56 ff
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 54 Auswärtige Angelegenheiten - 1 Die auswärtigen Angelegenheiten sind Sache des Bundes.
1    Die auswärtigen Angelegenheiten sind Sache des Bundes.
2    Der Bund setzt sich ein für die Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz und für ihre Wohlfahrt; er trägt namentlich bei zur Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie, zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen.
3    Er nimmt Rücksicht auf die Zuständigkeiten der Kantone und wahrt ihre Interessen.
. OG ist erst gegen ein künftiges kantonales
Endurteil in der Scheidungssache der Parteien zulässig und daher nicht
geeignet, die Erörterung und Erforschung der Schuldfrage sals Grundlage
der Scheidung durch die kantonalen Gerichte zu verhindern. Freilich
soll nach dem obergerichtlichen Urteil die Frage nach dem Verschulden
an der Ehezerrüttung auch in Bezug auf die Zuteilung der Kinder geprüft
werden, wogegen, wie sich aus der nachfolgenden Erwägung ergeben wird,
bundesrechtlich nichts einzuwenden ist. Allein das kann kein Grund
sein, der Rekurrentin den Schutz des Bundesgerichtes wegen Verletzung
jenes Jndividualrechtes zu versagen; denn wenn danach auch die ehelichen
Verhältnisse der Parteien im Prozess wohl ohnehin noch untersucht werden,
so braucht dies einmal nicht nach denselben Gesichtspunkten und nicht im
selben Umfang, wie es für die Frage der Scheidung selber der Fall wäre,
zu geschehen, und sodann kann die Rekurrentin eben unter allen Umständen
verlangen, dass, nachdem die Scheidung rechtskräftig ausgesprochen
ist, eine Erörterung der Schnldfrage wenigstens im letztern Sinn
unterbleibe. Es ist daher der Rekurs jedenfalls insofern gutzuheissen,
als der angefochtene obergerichtliche Entscheid, soweit er Dis-positiv
1 des erstinstanzlichen Urteils aufhebt, kassiert werden muss (s. auch
Amtl. Santini. d. bundesg. Entsch Bd. VII, S. 272).

3. Das Obergericht hat das erstinstanzliche Urteil auch in Bezug auf die
Nebenfolgen der Scheidung aufgehoben, und zwar nicht nur als Konsequenz
der Aufhebung des ScheidungsdispoWives, sondern mit der selbständigen
Begründung, dass die Frage der Kinderznteilung öffentlich-rechtlicher
Natur sei und auf Grund der Schuldfrage unabhängig von Parteikonventionen
unter Berücksichtigung der wahren Interessen der Kinder zu lösen sei;
die Rekurrentin erblickt auch hierin eine Rechtsverweigerung Da beide
Parteien in Bezug auf die Nebenfolgem wenn auch nur aus formellen Gründen,
appelliert haben, so war das erstinstanzliche Urteil in diesen Punkten
jedenfalls nicht rechtskräftig Wohl aber hat der Rekursbeklagte in seinem
Appellationsbegehren die Übereinkunft der Parteien über die Kinder und
die ökonomischenH. Ehm-echt. N° 86. _ 511

Verhältnisse noch nicht angefochten, sondern erst in der Verhandlung
vor Obergericht, gestützt auf neue Tatsachen vom Vergleiche materiell
abweichende Anträge in dieser Hinsicht gestellt. Die Frage ist daher die,
ob darin, dass das Gericht trotz den anders lautenden Appellationsbegehren
des Rekursbeklagten und trotz des Vergleichs der Parteien hierauf
eingetreten ist, eine Rechtsverweigerung liegt, d. h. ob die Auffassung
des Obergerichts über die Stellung des Richters in Bezug auf die Frage
der Kinderzuteilung im Ehescheidungsprozess willkürlich ist. Und zwar
kann hier auf die Beschwerde wegen Rechtsverweigerung deshalb eingetreten
werden, weil nach der neuern Praxis das Bundesgericht als Berufungsinsianz
sich mit den nach kantonalem Recht zu beurteilenden Folgen der
Ehescheidung nicht zu befassen hat (Amtl. Samml. d. bundesg. Entsch.,
Bd. XXVHI, 2. Teil, Nr. 44, Erw. 1 und 2) und somit die Rekurrentin gegen
die angebliche Rechtsverweigerung nicht auf dem Wege einer künftigen
Berufung Schutz suchen kann. Nun ist für jene Frage, ob der Richter im
Scheidungsprozess über die Kinder von Amtes wegen ohne Rücksicht auf
Parteivereinbarungen verfügen könne, § 149 des aarg. BGB massgebend,
der bestimmt, dass die Kinder dem unschuldigen Teil Überlassen werden
follett, sofern sich die Ehegatten nicht anders darüber verständigen,
oder es nicht vom Gericht aus erheblichen Ursachen für die Kinder selbst
vorteilhafter erachtet wird, sie dem andern Teil oder einer dritten
Person anzuvertrauen. Wenn aus dieser Bestimmung die richterliche Befugnis
abgeleitet wird, über die Kinder-, soweit deren Interessen es verlangen,
von Amtes wegen zu disponieren, so kann einer solchen Auslegung der
Vorwurf der Willkür jedenfalls nicht gemacht werden. Damit ist aber
auch gesagt, dass das Obergericht vorliegend trotz der Konvention der
Parteien und trotz des Mangels von bezüglichen Appellationsbegehren
des Rekursbeklagten die Frage der Kinderzuteilung, ohne sich einer
Rechtsverweigerung schuldig zu machen, zu neuer Instruktion an die
Vorinstanz im Sinne seiner Erwägungen zurückweisen konnte. Diese Massregel
musste dann auch zur Folge haben, dass im übrigen, d. h. hinsichtlich der
Regelung der ökonomischen Verhältnisse, das Urteil gleichfalls aufgehoben
wurde; denn die ökonomischen Fragen lassen sich von derjenigen der Kinder
kaum trennen. Auch

512 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

enthält das obergerichtliche Urteil eine bestimmte Weisung, in welchem
Sinn die erste Instanz bei der Regelung der ökonomischen Verhältnisse zu
verfahren habe, richtig verstanden, wohl nicht, weshalb die Rekurrentin
hinsichtlich dieses Punktes zur Zeit auch keinen Anlass zu Beschwerde
haben kann. Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Der Rekurs wird als teilweise begründet erklärt und das Urteil des
Obergerichtes des Kantons Aargau vom 26. Februar 1904 insofern kassiert,
als dadurch Dispositiv i des Urteils des Bezirksgerichts Zofingen
vom 9. September 1903 aufgehoben ist. Im übrigen wird der Rekurs
abgewiesen.lll. Organisation der Bundesrechtspflege. N° 87. 513

Zweiter Abschnitt. Seconde section.

Bundesgesetze. Lois iédérales.

M

I. Civflstand und Ehe. Etat civil et. mariage.

Vergl. Nr. 86.

II. Haftpflicht für den

Fabrikund. Gewerbebetrieb. Responsabilité pour l'exploitation des
fabriques.

Vergl. Nr. 87.

III. Organisation der Bundesrechtspflege. Organisation judiciaire
fédérale.

87. Urteil vom 16. September 1904 in Sachen Caprez gegen Baugeschäft
und Chaletfabrik Davids

Zeiten-s wegen Verweigre-rang des Asirmenrechts in Haftpflichtsachm ;
Nov. z. FHG, ATE. 6 Z 277°. 1. Inkompetenz des Bendesgerickts, Art. 189
Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 54 Auswärtige Angelegenheiten - 1 Die auswärtigen Angelegenheiten sind Sache des Bundes.
1    Die auswärtigen Angelegenheiten sind Sache des Bundes.
2    Der Bund setzt sich ein für die Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz und für ihre Wohlfahrt; er trägt namentlich bei zur Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie, zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen.
3    Er nimmt Rücksicht auf die Zuständigkeiten der Kantone und wahrt ihre Interessen.
OG.

Das Bundesgericht hat, da sich ergeben:

A. Wegen eines ihrem Gatten und Vater als Arbeiter der Aktiengesellschaft
Baugeschäft und Chaletsabrik Davos zugestossenen Unfalls mit tötlichem
Ausgange erhoben die Witwe Agnes Caprez und ihre Kinder, in Trias,
die heutigen Rekurrenten, gegen jene Gesellschaft eine Haftpflichtklage,
nachdem ihnen zuvor, auf ihr Gesuch, der Kleine Rat des Kantons Graubünden
für die Prozess-
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 30 I 502
Datum : 22. September 1904
Publiziert : 31. Dezember 1904
Quelle : Bundesgericht
Status : 30 I 502
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : 502 A. staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt.. Bundesverfassung. II. Eher-echt.


Gesetzesregister
BV: 54
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 54 Auswärtige Angelegenheiten - 1 Die auswärtigen Angelegenheiten sind Sache des Bundes.
1    Die auswärtigen Angelegenheiten sind Sache des Bundes.
2    Der Bund setzt sich ein für die Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz und für ihre Wohlfahrt; er trägt namentlich bei zur Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie, zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen.
3    Er nimmt Rücksicht auf die Zuständigkeiten der Kantone und wahrt ihre Interessen.
OG: 56  175  189
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
bundesgericht • frage • ehe • aargau • erste instanz • bundesverfassung • weiler • ehegatte • von amtes wegen • vorinstanz • richtigkeit • staatsrechtliche beschwerde • charakter • funktion • scheidungsklage • erwachsener • tag • entscheid • weisung • kantonales rechtsmittel
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