S. 235 / Nr. 48 Staatsverträge (d)

BGE 62 I 235

48. Urteil vom 4. Dezember 1936 i. S. Nelson gegen Barret.

Regeste:
Art. 1 des Gerichtstandsvertrages mit Frankreich ist nicht anwendbar, wenn
beide Parteien Franzosen sind.
Bei Art. 5 des Gerichtstandsvertrages spielen die Nationalität und der Wohnort
der Parteien keine Rolle. Nach dieser Bestimmung ist der schweizerische
Richter unzuständig für eine Erbschaftsstreitigkeit, die Bezug hat auf die
Erbschaft eines an seinem französischen Domizil verstorbenen Franzosen.
Für blosse vorsorgliche Massnahmen in Beziehung auf bestimmte Gegenstände ist
nach Art. 2 bis des Gerichtstandsvertrages der Richter des Ortes zuständig, wo
die Gegenstände liegen.
Zum Entscheid darüber, ob gewisse Vermögensgegenstände, die die Witwe eines
Erblassers besitzt, zu der der Tochter des Erblassers zufallenden, mit dem
Nutzniessungsrecht der Witwe belasteten Hälfte der Errungenschaft gehören und
deshalb dem Ehevertrag gemäss zu inventarisieren sind, ist der Richter des
Ortes zuständig, wo sich die Gegenstände befinden.
Zulässigkeit der Anfechtung einer Klagefristansetzung wegen Unzuständigkeit
des Richters, bei dem die Klage erhaben werden soll.

A. - Nach Art. 326
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 326 Neue Anträge, neue Tatsachen und neue Beweismittel - 1 Neue Anträge, neue Tatsachenbehauptungen und neue Beweismittel sind ausgeschlossen.
1    Neue Anträge, neue Tatsachenbehauptungen und neue Beweismittel sind ausgeschlossen.
2    Besondere Bestimmungen des Gesetzes bleiben vorbehalten.
der bernischen ZPO kann der Richter eine einstweilige
Verfügung treffen, wenn ihm glaubhaft gemacht wird, dass deren Erlass aus
einem der im Gesetze genannten Gründe sich rechtfertigt. Solche Gründe sind:

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2) zum Schutze eines bedrohten Besitzstandes sowie zur Wiedererlangung eines
widerrechtlich entzogenen oder vorenthaltenen Besitzes;
3) zum Schutze von andern als auf Geld - oder Sicherheitsleistung gerichteten,
fälligen Rechtsansprüchen, wenn bei nicht sofortiger Erfüllung
a) ihre Vereitelung oder eine wesentliche Erschwerung ihrer Befriedigung zu
befürchten ist,
b) dem Berechtigten ein erheblicher oder nicht leicht zu ersetzender Schaden
oder Nachteil droht.
Nach Art. 327 Abs. 2 ist zuständig für solche Verfügungen, wenn kein Prozess
hängig ist, der Gerichtspräsident desjenigen Bezirkes, wo die örtliche
Zuständigkeit für die Hauptsache gegeben ist.
Nach Art. 29 Abs. 3 können dingliche Klagen betreffend Mobilien am Wohnsitze
des Beklagten oder am Orte der gelegenen Sache angebracht werden.
Nach Art. 30 sind erbrechtliche Klagen ausschliesslich am Wohnsitze des
Erblassers anzubringen.
Art. 25 Abs. 1 lautet:
Klagen aus vermögensrechtlichen Ansprüchen können gegen Personen, welche
keinen Wohnsitz in der Schweiz, aber Vermögen im Gebiete des Kantons Bern
besitzen, bei dem Richter angebracht werden, in dessen Bezirk das Vermögen
liegt.
B. - Am 10. November 1935 starb in Paris, dem Ort seines Wohnsitzes, der
französische Staatsangehörige Henri Alphonse Nelson. Er hinterliess eine
Witwe, die Rekurrentin, und eine Tochter, die Rekursbeklagte Frau Barret, die
beide ebenfalls das französische Staatsbürgerrecht besitzen. Die Eheleute
Nelson hatten unter dem «régime dotal» in Verbindung mit einer «société
d'acquêts» (einer Art Errungenschaftsgemeinschaft) gelebt. Nach dem Ehevertrag
erhielt die Witwe beim Tod des Erblassers ihr eingebrachtes Gut zurück und
bekam die Hälfte der Errungenschaft. Die Tochter erhielt als einzige Erbin die
andere Hälfte, unter Vorbehalt der letenslänglichen

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Nutzniessung der Witwe, und eine Forderung auf Rückerstattung des Wertes des
eingebrachten Gutes ihres Vaters. Nach dem Ehevertrag war die Witwe in
Beziehung auf die der Tochter zukommende Hälfte der Errungenschaft nicht zur
Sicherheitsleistung, aber zur Inventaraufnahme verpflichtet. Infolgedessen
stellte die Rekursbeklagte bei den bernischen Gerichten ein Gesuch um Erlass
einer einstweiligen Verfügung gegen die Rekurrentin. Der Appellationshof des
Kantons Bern, II. Zivilkammer, erkannte hierüber am 27. August 1936:
«1. Das Gesuch wird zugesprochen und demgemäss bei der Kantonalbank von Bern
in Bern folgende Sperre verfügt:
a) Ein allfällig von der Gesuchsgegnerin ... gemietetes Tresorfach.
b) Ein allfällig von der Gesuchsgegnerin ... errichtetes offenes oder
geschlossenes Depot.
c) Allfällige Hinterlagen anderer Art, welche die Gesuchsgegnerin bei der Bank
errichtet hat, oder Guthaben irgendwelcher Art, welche ihr an die Bank
zustehen
2. Der Kantonalbank von Bern in Bern wird untersagt, die unter Ziffer 1 lit.
a-c erwähnten Werte und Guthaben an die Gesuchsgegnerin oder an irgend jemand
anders herauszugeben oder an diesen Werten und Guthaben irgendwelche
Veränderungen vorzunehmen oder vornehmen zu lassen, für so lange als die
verhängte Sperre vom Richter nicht ausdrücklich aufgehoben ist.
3. Der Gesuchstellerin wird eine Frist von drei Wochen angesetzt zur Anhebung
des Hauptprozesses gegen die Gesuchsgegnerin auf Aufnahme eines Inventars über
die dem verstorbenen Henri Alphons Nelson gehörende Hälfte der Errungenschaft
mit der Wirkung, dass bei Nichtbenützung dieser Frist die vorliegende
einstweilige Verfügung dahinfällt.»
In der Begründung wird im wesentlichen ausgeführt: Aus dem Wortlaut des Art.
327 Abs. 2
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 327 Verfahren und Entscheid - 1 Die Rechtsmittelinstanz verlangt bei der Vorinstanz die Akten.
1    Die Rechtsmittelinstanz verlangt bei der Vorinstanz die Akten.
2    Sie kann aufgrund der Akten entscheiden.
3    Soweit sie die Beschwerde gutheisst:
a  hebt sie den Entscheid oder die prozessleitende Verfügung auf und weist die Sache an die Vorinstanz zurück; oder
b  entscheidet sie neu, wenn die Sache spruchreif ist.
4    Wird die Beschwerde wegen Rechtsverzögerung gutgeheissen, so kann die Rechtsmittelinstanz der Vorinstanz eine Frist zur Behandlung der Sache setzen.
5    Die Rechtsmittelinstanz eröffnet ihren Entscheid mit einer schriftlichen Begründung.
ZPO folge logischerweise,

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dass eine einstweilige Verfügung im Kanton Bern nicht erwirkt werden könne,
wenn der bernische Richter für die Beurteilung der Hauptsache nicht zuständig
sei. Diesen Schluss ziehe auch die herrschende Doktrin und nehme daher an, der
Kläger habe in jenem Fall beim zuständigen auswärtigen Richter zu klagen, und
das mit der einstweiligen Verfügung erstrebte Ziel sei dann durch die
Vollstreckung des ergangenen Urteils zu verfolgen. Bevor Art. 327 Abs. 2
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 327 Verfahren und Entscheid - 1 Die Rechtsmittelinstanz verlangt bei der Vorinstanz die Akten.
1    Die Rechtsmittelinstanz verlangt bei der Vorinstanz die Akten.
2    Sie kann aufgrund der Akten entscheiden.
3    Soweit sie die Beschwerde gutheisst:
a  hebt sie den Entscheid oder die prozessleitende Verfügung auf und weist die Sache an die Vorinstanz zurück; oder
b  entscheidet sie neu, wenn die Sache spruchreif ist.
4    Wird die Beschwerde wegen Rechtsverzögerung gutgeheissen, so kann die Rechtsmittelinstanz der Vorinstanz eine Frist zur Behandlung der Sache setzen.
5    Die Rechtsmittelinstanz eröffnet ihren Entscheid mit einer schriftlichen Begründung.
ZPO
einer kritischen Prüfung unterworfen werde, sei zu untersuchen, ob im
vorliegenden Falle der angegangene Richter in der Hauptsache zuständig wäre.
Hiefür sei zunächst festzustellen, welche Klage der Rekursbeklagten hier in
Betracht komme. Um eine Klage auf Herausgabe des vom Erblasser in die Ehe
gebrachten Gutes könne es sich nicht handeln, da die Rekursbeklagte in dieser
Beziehung nach dem Ehevertrag nur eine Forderung in der Höhe des eingebrachten
Vermögens an den Nachlass habe. Von der Errungenschaft komme zwar der
Rekursbeklagten die Hälfte zu; diese Hälfte sei aber belastet mit der
Nutzniessung der Rekurrentin. Die Rekursbeklagte verlange denn auch nur
Herausgabe zum Zwecke der Inventarisation. Dabei liege das Hauptgewicht nicht
auf der Herausgabe, sondern auf der Inventarisation. Die Rekurrentin habe
nicht etwa dieser Klage den Boden dadurch entzogen, dass sie sich freiwillig
zur gemeinsamen Aufnahme eines Inventars über die bei der Kantonalbank
liegenden Werte bereit erklärt hätte. Die Zulässigkeit eines derartigen
Inventarisationsanspruches, z. B. des Eigentümers von in Nutzniessung
stehenden Gegenständen, könne nicht in Abrede gestellt werden. Er könne auch
sehr wohl mit einer besondern Zivilklage verfolgt werden, für die hier nach
Art. 25
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 25 Feststellung und Anfechtung des Kindesverhältnisses - Für Klagen auf Feststellung und auf Anfechtung des Kindesverhältnisses ist das Gericht am Wohnsitz einer der Parteien zwingend zuständig.
, allenfalls Art. 29 Abs. 3
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 29 Grundstücke - 1 Für die folgenden Klagen ist das Gericht am Ort, an dem das Grundstück im Grundbuch aufgenommen ist oder aufzunehmen wäre, zuständig:
1    Für die folgenden Klagen ist das Gericht am Ort, an dem das Grundstück im Grundbuch aufgenommen ist oder aufzunehmen wäre, zuständig:
a  dingliche Klagen;
b  Klagen gegen die Gemeinschaft der Stockwerkeigentümerinnen und Stockwerkeigentümer;
c  Klagen auf Errichtung gesetzlicher Pfandrechte.
2    Andere Klagen, die sich auf Rechte an Grundstücken beziehen, können auch beim Gericht am Wohnsitz oder Sitz der beklagten Partei erhoben werden.
3    Bezieht sich eine Klage auf mehrere Grundstücke oder ist das Grundstück in mehreren Kreisen in das Grundbuch aufgenommen worden, so ist das Gericht an dem Ort zuständig, an dem das flächenmässig grösste Grundstück oder der flächenmässig grösste Teil des Grundstücks liegt.
4    Für Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, die sich auf Rechte an Grundstücken beziehen, ist das Gericht an dem Ort zwingend zuständig, an dem das Grundstück im Grundbuch aufgenommen ist oder aufzunehmen wäre.
ZPO ein bernischer Gerichtsstand gegeben
wäre (vorausgesetzt, die zu verhängende Sperre erfasse wirklich Vermögen). Man
könne nicht einwenden, der Anspruch könne nur auf Erbrecht gestützt werden. Es
sei genügend glaubhaft gemacht, dass er ebensowohl aus dem Ehevertrag oder den
schweizerischen

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Bestimmungen über die Nutzniessung abgeleitet werden könne; die Erbenqualität
der Rekursbeklagten sei ja nicht bestritten. Sogar wenn man die Klage als
erbrechtliche ansehen wollte, würde Art. 30 1. c. der Kompetenz des bernischen
Richters kaum entgegenstehen, da diese Bestimmung, wie ZGB Art. 538, sich nur
auf Fälle beziehe, wo der Erbgang in der Schweiz eröffnet werde. Im übrigen
könne nicht zweifelhaft sein, dass es sich um eine Sache der streitigen
Gerichtsbarkeit handle; denn es werde ja die Herkunft der fraglichen
Vermögensgegenstände zu untersuchen sein, was leicht zu Streitigkeiten führen
könne. Die Rekursbeklagte habe also genügend glaubhaft gemacht, dass sie einen
im Kanton Bern einklagbaren Anspruch darauf habe, die Rekurrentin anzuhalten,
die Errungenschaft einer Inventaraufnahme zu unterbreiten.
C. - Gegen das Urteil des Appellationshofes hat Frau Nelson staatsrechtliche
und zugleich zivilrechtliche Beschwerde ergriffen und zwar wegen Verletzung
des Art. 5 des Gerichtsstandsvertrages mit Frankreich. Es wird ausgeführt:
Im kantonalen Verfahren habe die Rekurrentin die Einrede der Unzuständigkeit
des bernischen Richters auf Art. 30
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 30 Bewegliche Sachen - 1 Für Klagen, welche dingliche Rechte, den Besitz an beweglichen Sachen oder Forderungen, die durch Fahrnispfand gesichert sind, betreffen, ist das Gericht am Wohnsitz oder Sitz der beklagten Partei oder am Ort der gelegenen Sache zuständig.
1    Für Klagen, welche dingliche Rechte, den Besitz an beweglichen Sachen oder Forderungen, die durch Fahrnispfand gesichert sind, betreffen, ist das Gericht am Wohnsitz oder Sitz der beklagten Partei oder am Ort der gelegenen Sache zuständig.
2    Für Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit ist das Gericht am Wohnsitz oder Sitz der gesuchstellenden Partei oder am Ort der gelegenen Sache zwingend zuständig.
ZPO und Art. 538
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 538 - 1 Die Eröffnung des Erbganges erfolgt für die Gesamtheit des Vermögens am letzten Wohnsitze des Erblassers.
1    Die Eröffnung des Erbganges erfolgt für die Gesamtheit des Vermögens am letzten Wohnsitze des Erblassers.
2    ...522
ZGB gestützt.
Gleichzeitig sei aber darauf hingewiesen worden, dass auch der Staatsvertrag
diese Lösung bestätige. Der einzig vom Appellationshof in Betracht gezogene
Anspruch, derjenige auf Inventarisation, sei erbrechtlicher Natur und könne
nach richtiger Auslegung des Art. ô des Staatsvertrages nur in Paris
eingeklagt werden. Art. 5 beziehe sich auf alle Fragen, die mit der
Liquidation einer Erbschaft zusammenhängen. Das gelte auch für die Anordnung
eines Inventars über die Erbschaft oder Teile derselben. Auch Streitigkeiten
hierüber fallen in die ausschliessliche Kompetenz des heimatlichen Richters
des Erblassers. Die Rekurrentin habe freilich keine Erbenqualität; aber das
stehe der erbrechtlichen Natur der Klage nicht im Wege. Die Erbschaft

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Nelson sei schon längst in Paris eröffnet worden und befinde sich dort in
Liquidation.
D. - Mit Urteil vom 6. Oktober 1936 ist die II. Zivilabteilung auf die
zivilrechtliche Beschwerde nicht eingetreten.
E. - Der Appellationshof und die Rekursbeklagte haben die Abweisung der
Beschwerde beantragt.
Die Rekursbeklagte legt ein Doppel der Klage ein, die sie am 21. September
beim Richteramt in Bern eingereicht hat. Die Rechtsbegehren dieser Klage
lauten:
1. Es sei zu erkennen, dass die von der Beklagten
zur Kantonalbank von Bern verbrachten Vermögenswerte Bestandteil der Société
d'acquêts gemäss Ehevertrag vom 2. April 1892 bilden.
2. Die Beklagte sei zu verurteilen, binnen einer vom
Richter zu bestimmenden Frist zur Inventarisation dieser bei der Kantonalbank
von Bern befindlichen Vermögenswerte Hand zu bieten.
Die Rekursbeklagte bemerkt dazu:
«Es ergibt sich aus dieser Klage, dass Frau Barret von der Rekurrentin nichts
anderes verlangt als die Inventarisation der bei der Kantonalbank von Bern
befindlichen Vermögenswerte. Um diese Inventarisation durchzusetzen, ist es
erforderlich, darzutun, dass diese Vermögenswerte zu der Société d'acquêts
gemäss Ehevertrag vom 2. April 1892 gehören. Das Rechtsbegehren 1 der Klage
bildet daher lediglich die Grundlage für die Beurteilung des Rechtsbegehrens
2, mit welchem die Inventarisation verlangt wird.»
Der Anspruch sei nicht erbrechtlich, wird in der Antwort ferner ausgeführt,
und Art. 5 Gerichtsstandsvertrag treffe daher nicht zu. «Es handelt sich ja
nicht etwa um ein öffentliches oder um ein sonstiges Erbschaftsinventar,
sondern um eine Inventur, welche dem überlebenden Ehegatten im Ehevertrag vom
2. April 1892 vorgeschrieben wird. Frau Barret verlangt ja von Frau Nelson
keinerlei Erbschaftsgegenstände heraus, sie verlangt auch keine

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Erbschaftsteilung oder eine andere aus dem Erbrecht fliessende
Pflichterfüllung, sondern ihr Begehren geht einzig und allein dahin, dass der
Bestimmung des Ehevertrages Folge geleistet werde. Ihr Anspruch erhält nicht
etwa dadurch erbrechtlichen Charakter, dass sie sich für ihre Legitimation auf
ihr Erbrecht beruft. Diese Berufung bildet nur die Grundlage, auf welcher sie
ihre Legitimation aufbaut, um einen jeglichen erbrechtlichen Charakters
entblössten Anspruch geltend zu machen. Es handelt sich demgemäss nicht um
eine Erbschafts-, sondern um eine sog. erbschaftliche Singularklage im Sinne
von B. 45 (1) 308.»
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Die Rekurrentin beschwert sich wegen Verletzung von Art. 5 des
Gerichtsstandsvertrages mit Frankreich.
Die Rekurrentin und die Rekursbeklagte sind Franzosen, die in Frankreich
wohnen. Doch steht das der Anrufung des Art. 5 des Staatsvertrages nicht im
Wege. Die Nationalität und der Wohnort der Parteien spielen bei dieser
Bestimmung keine Rolle (BGE 1 S. 391; 50 I S. 415; AUJAY, Etudes sur le traité
franco-suisse, S. 214).
Nach dem Wortlaut müsste es sich, damit Art. 5 anwendbar ist, um den Nachlass
eines in Frankreich verstorbenen Schweizers oder eines in der Schweiz
verstorbenen Franzosen handeln, während man es im vorliegenden Fall mit dem
Nachlass eines in Frankreich, an seinem dortigen Domizil, verstorbenen
Franzosen zu tun hat. Die Doktrin versteht denn auch den Art. 5 in dem engen
dem Text entsprechenden Sinn (s. hierüber CHÂTENAY, Les successions en droit
franco-suisse, S. 31 ff.). Auch das Bundesgericht hat früher den Art. 5 so
angewendet (BGE 1 S. 391 3 , 14 S. 595), um dann aber später zu einer freieren
Auslegung überzugehen, nach der die Bestimmung für französische und
schweizerische Erblasser die Einheit der Erbfolge mit dem Gerichtsstand des
Heimatstaates allgemein statuiert gleichgültig, in welchem der beiden Staaten
der Erblasser

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seinen letzten Wohnsitz gehabt hat (24 I S. 308, 29 I S.335). Nach dieser
Praxis, die den Staatsvertrag sehr ausdehnend auslegt, von der abzugehen aber
doch kein genügender Anlass besteht, ist der schweizerische Richter
staatsvertraglich unzuständig für eine Erbschaftsstreitigkeit, die Bezug hat
auf die Erbschaft eines an seinem französischen Domizil verstorbenen
Franzosen. Es fragt sich, ob der angefochtene Entscheid gegen diese Regel
verstosse.
2.- Der Entscheid ist eine vorsorgliche Massnahme im Sinne des Art. 326
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 326 Neue Anträge, neue Tatsachen und neue Beweismittel - 1 Neue Anträge, neue Tatsachenbehauptungen und neue Beweismittel sind ausgeschlossen.
1    Neue Anträge, neue Tatsachenbehauptungen und neue Beweismittel sind ausgeschlossen.
2    Besondere Bestimmungen des Gesetzes bleiben vorbehalten.
der
kantonalen ZPO. Er verhängt eine Sperre über Werte und Guthaben bei der
bernischen Kantonalbank, über die der Rekurrentin der Bank gegenüber die
Verfügung zusteht. Die provisorische Massnahme soll der Sicherung eines
Rechtsanspruches der Rekursbeklagten dienen. Nach kantonalem Recht (Art. 327
1. c.) war der Richter in Bern zur Anordnung der vorsorglichen Massnahme
kompetent, wenn er auch für jenen Rechtsanspruch der Rekursbeklagten örtlich
zuständig ist. Im Entscheid des Appellationshofes wird diese Zuständigkeit
bejaht und dann auch der Rekursbeklagten aufgegeben, den Hauptprozess innert
Frist anzuheben und zwar, wie das zweifellos die Meinung des Entscheides ist,
in Bern. Die Rekursbeklagte hat die Klage in Bern erhoben. Diese Klage geht
darauf, dass die Rekurrentin innert einer vom Richter zu bestimmenden Frist
zur Inventarisation der bei der Kantonalbank Bern befindlichen Vermögenswerte
Hand zu bieten habe. Die Rekursbeklagte verlangt ausserdem noch, und zwar in
erster Linie, die Feststellung, dass die fraglichen Vermögenswerte Bestandteil
der Société d'acquêts der Eheleute Nelson gemäss Ehevertrag vom 2. April 1892
bilden. Das ist aber, wie in der Rekursantwort der Rekursbeklagten erklärt
wird, doch bloss Motiv, Vorfrage für den Inventarisationsanspruch. Der
Rekursbeklagten ist es darum zu tun, dass die Vermögenswerte in Bern unter
ihrer Mitwirkung inventarisiert werden.
Nach der Auffassung der Rekurrentin fällt der Klageanspruch der
Rekursbeklagten als erbrechtlicher unter

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Art. 5 I des Staatsvertrages, sodass zu dessen Beurteilung nur der Richter in
Paris als dem letzten Domizil des Erblassers, wo die Erbschaft auch eröffnet
ist und liquidiert wird, zuständig wäre. Zunächst handelt es sich aber darum,
ob der bernische Richter zur provisorischen Verfügung der Sperre inbezug auf
die in Bern befindlichen Vermögenswerte zuständig war. Wenn schon das nach
bernischem Recht von der Kompetenz für den Inventarisationsstreit abhängt und
selbst wenn der letztern Art. 5 des Staatsvertrages entgegenstehen sollte, so
war doch der bernische Richter für die blosse vorsorgliche Massnahme zuständig
nach Art. 2 bis des Staatsvertrages, der am 29 Juni 1936 als Bestandteil der
Zusatzakte vom 4. Oktober 1935 in Kraft getreten ist und lautet: «Die in der
Gesetzgebung eines der beiden Staaten vorgesehenen vorläufigen oder sichernden
Massnahmen können bei den Behörden dieses Staates nachgesucht werden, welches
immer auch die Gerichtszuständigkeit zur Entscheidung über die Sache selbst
sei.» (AS 52 S. 443).
Nach dem Entscheid des Appellationshofes ist indessen die provisorische
Verfügung in ihrer Wirkung bedingt durch die rechtzeitige Klage in Bern, und
der Rekursbeklagten wird darin aufgegeben, die Klage zu erheben, die sie dann
in der Form der Inventarisationsklage eingereicht hat. Insofern stellt sich
hier doch auch die Frage nach der Kompetenz des bernischen Richters für diese
Klage vom Standpunkt des Staatsvertrages aus. Zwar wird der Richter im
Hauptprozess seine Zuständigkeit selbständig zu prüfen haben, ohne an die
Auffassung des angefochtenen Entscheides gebunden zu sein. Doch muss schon
eine solche Auflage der Klageerhebung in der Schweiz wegen Verletzung des
Staatsvertrages angefochten werden können mit der Behauptung, der französische
Richter sei allein für die Klage zuständig (vgl. BGE 51 I S. 337).
3.- Art. 5 des Staatsvertrages spricht von Klagen zwischen Erben (und
Legataren). Die Rekursbeklagte ist Erbin, und zwar Alleinerbin, ihres Vaters.
Die Rekurrentin,

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gegen die sich die Klage richtet, ist nicht Erbin und behauptet auch nicht, es
zu sein. Das schliesst indessen nach der Praxis des Bundesgerichtes, die auch
in diesem Punkt über den Wortlaut des Vertrages hinausgeht, nicht unbedingt
aus, dass die Klage Erbschaftsklage im Sinne des Art. 5 ist. Dass der Streit
unter Erben oder Erbprätendenten sich abspielt, ist danach nur der Regelfall;
auch die Klage gegen den Nichterben gehört in den Rahmen des Art. 5, wenn der
Anspruch materiell erbrechtlicher Natur ist (BGE 50 I S. 413 ff., vgl. 4,) I
S. 310).
Die Errungenschaft der Eheleute Nelson fiel nach dem Tode des Ehemanns kraft
Erbrechtes zur Hälfte an die Tochter, die Rekursbeklagte. Kraft ehelichen
Güterrechtes gehört die andere Hälfte der Ehefrau, der Rekurrentin, und hat
diese auch die Nutzniessung an der Hälfte der Tochter. Als Eigentümerin an der
Hälfte der Errungenschaft erhebt die Rekursbeklagte den vorliegenden
Inventarisationsanspruch, wie denn ja auch die Rekurrentin nach dem Ehevertrag
verpflichtet ist, «de faire bon et fidèle inventaire» über das
Nutzniessungsgut. Dem Inventarisationsanspruch kann sich die Rekurrentin
materiell nur mit der Behauptung widersetzen, dass die in Bern befindlichen
Werte Bestandteil ihres Eigengutes und nicht der Errungenschaft seien, dass
sie ihr demnach allein gehören und nicht in diejenige Nachlassmasse fallen,
von der der Rekursbeklagte die Hälfte zukommt. Es ist die Frage nach der
Frauenguts - oder Errungenschaftsqualität jener Objekte, die sich nach
ehelichem Güterrecht, nicht nach Erbrecht, entscheidet. Das Erbrecht der
Rekursbeklagten auf die Hälfte der Errungenschaft ist nicht im Streit. Wenn
sie sich darauf beruft, so geschieht es nur, um ihre Klagelegitimation
darzutun, während der eigentliche Streitpunkt im ehelichen Güterrecht liegt.
Der Anspruch auf Feststellung der richtigen Qualität der Berner Objekte hätte
denn auch schon vom Erblasser geltend gemacht werden können. Diese Gründe
sprechen dafür, der Klage als einer blossen sog. erbrechtlichen Singularklage

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erbrechtlichen Charakter im Sinne des Art. 5 des Staatsvertrages abzusprechen
(s. BGE 50 I S. 413 ff., vgl. 45 I S. 308 ff.; s. auch 9 S. 505 3 , ferner
ROGUIN, Conflits des lois S. 408 f., 425, CURTI, Gerichtsstandsvertrag, S. 85
ff.).
Wollte man aber auch Zweifel haben über die Natur des Streites betreffend die
Frauenguts - oder Errungenschaftsqualität der in Bern befindlichen
Vermögensobjekte, so würde doch folgende Erwägung gegen die Unzuständigkeit
des Berner Richters nach Art. 5 des Staatsvertrages sprechen. Der eigentliche
Gegenstand der Klage ist, wie schon oben bemerkt, die Inventarisation von
Gegenständen, die in Bern sich befinden. Die Inventarisation ist auch
ihrerseits eine blosse sichernde Massnahme, die in der Regel an dem Orte
stattfindet, wo die Objekte sind. Der Richter soll, das ist das Ziel der
Klage, die Rekurrentin verhalten, gemeinsam mit der Rekursbeklagten die
Inventarisation in Bern vorzunehmen. Art. 5 des Staatsvertrages stand nun aber
nie im Wege, dass am Orte, wo Nachlassobjekte oder Objekte, die als solche
angesprochen werden, sich befinden, Massnahmen von bloss konservierender Natur
getroffen werden (so die Doktrin: ROGUIN, a.a.O. Nr. 302, CURTI, a.a.O. S. 89,
AUJAY, a.a.O. Nr. 216, CHÂTENAY, a.a.O. S. 84). Zudem wird das nun von Art. 2
bis des Staatsvertrages ausdrücklich als zulässig erklärt. Das Bundesgericht
hat freilich in BGE 54 I Nr. 30 ausgesprochen, dass die Heimatbehörde nach
Art. 5 des Staatsvertrages zuständig sei, das öffentliche Inventar über den
Nachlass eines in Frankreich an seinem dortigen Domizil verstorbenen
Schweizers anzuordnen. Es handelte sich aber um das öffentliche Inventar über
den Nachlass als solchen mit Rechnungsruf, und in der Begründung wurde diese
Kompetenz daraus hergeleitet, dass der Nachlass nach Art. 5 materiell dem
heimatlichen Recht untersteht, auch wurde bemerkt, dass, wenn man angesichts
der Unklarheiten und Dunkelheiten des Art. 5 nicht so weit gehen wolle, die
fragliche Zuständigkeit aus dem Staatsvertrag

Seite: 246
positiv herzuleiten, dieser ihr doch auch nicht entgegenstehe. Für den
vorliegenden Tatbestand, wo es sich nur um die Inventarisation von in Bern
liegenden Objekten als sichernde Massnahme handelt, wird man nicht sagen
können, dass die Erbschaftseröffnung in Paris und die Anwendbarkeit des
materiellen französischen Rechtes auf den Nachlass Momente seien, die nach dem
Staatsvertrag die Kompetenz des Berner Richters? gegebenenfalls diese
Inventarisation zu bewilligen, ausschliessen würden.
Dass der Berner Richter nach Art. 1 des Staatsvertrages unzuständig sei, wird
nicht geltend gemacht. Es kann übrigens schon deshalb nicht der Fall sein,
weil beide Parteien Franzosen sind (BGE 56 I S,. 184 2 ).
Demnach erkennt das Bundesgericht: Der Rekurs wird abgewiesen.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 62 I 235
Date : 01. Januar 1936
Published : 04. Dezember 1936
Source : Bundesgericht
Status : 62 I 235
Subject area : BGE - Verwaltungsrecht und internationales öffentliches Recht
Subject : Art. 1 des Gerichtstandsvertrages mit Frankreich ist nicht anwendbar, wenn beide Parteien Franzosen...


Legislation register
ZGB: 538
ZPO: 25  29  30  326  327
BGE-register
50-I-408 • 51-I-335 • 62-I-235
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acquisition • action by the heir for recovery of the deceased's estate • bar • behavior • cantonal bank • cantonal law • cantonal proceeding • cantonal remedies • character • coincidence • component • controversial jurisdiction • correctness • damage • death • decision • defendant • devolution of a deceased person • district • doctrine • doubt • ensuring • estate • estate brought in • evaluation • father • federal court • france • hamlet • heir • home country • inventory • judicial agency • law of succession • legal demand • legatee • legitimation • main issue • marriage • meeting • money • nationality • object • objection • partition among coheirs • planned goal • property • provisional measure • purpose • question • replacement • residence • residence in switzerland • securing measure • sentencing • spouse • statement of reasons for the adjudication • subsidiary question • swiss citizenship • testator • time limit • treaty • value • widow