S. 358 / Nr. 80 Prozessrecht (d)
BGE 61 II 358
80. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 8. Oktober 1935 i. S.
Keller und Keller & Co. gegen Seger.
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Regeste:
Rückweisung, Art. 82 u . 84 OG.
Das Bundesrecht verbietet nicht, dass nach Rückweisung einer Sache an die
kantonale Instanz neue Behauptungen und neue Beweismittel im Rahmen des
zurückgewiesenen Streitpunktes zugelassen werden; darüber entscheidet
ausschliesslich das kantonale Recht.
Die vorliegende Klage geht auf Nichtigerklärung des schweizerischen Patentes
Nr. 110.893, das eine Lamelle für Hohlkörperdecken zum Gegenstande hat.
Das Bundesgericht hat am 30. Mai 1934 das die Klage gutheissende Urteil des
Obergerichtes des Kantons Thurgau vom 6. Februar 1934 aufgehoben und die Sache
an die kantonale Instanz zurückgewiesen mit der Weisung, eine Ergänzung der
Expertise darüber durchzuführen, ob die patentierte Erfindung durch die in der
Klage angerufenen Lamellensysteme anderer Fabriken, nämlich das System
Fischer-Reydellet und die im Böhm'schen Werk aufgeführten Konstruktionen,
vorweggenommen sei.
Nach der Rückweisung haben die Kläger in einer Eingabe an das Obergericht auf
verschiedene weitere Lamellensysteme, namentlich auf das System Frazzi,
hingewiesen, die der Neuheit der Erfindung des Beklagten entgegenstünden. Zum
Beweise dafür haben sie Kataloge und andere Schriftstücke eingelegt.
Die gerichtlichen Experten, denen dieses neue Material vom Präsidenten des
Obergerichtes unterbreitet worden ist, sind in ihrem Nachtragsgutachten zum
Schlusse gekommen,
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dass zwischen der Lamelle Frazzi und derjenigen des Beklagten kein Unterschied
bestehe; dagegen haben sie die Neuheit gegenüber dem System Fischer-Reydellet
und den im Böhm'schen Werk aufgeführten Konstruktionen bejaht.
Das Obergericht hat darauf durch Urteil vom 14. Mai 1935 die Klage abgewiesen,
ohne auf das neue Material einzutreten.
Das Bundesgericht hat dieses Urteil aufgehoben und die Klage gutgeheissen.
Aus den Erwägungen:
Die Vorinstanz hat die von den Klägern nach der Rückweisung geltend gemachten
Tatsachen übergangen, das dafür beigebrachte Beweismaterial aus dem Recht
gewiesen und auf den Teil der Nachtragsexpertise, der darauf Bezug hatte,
nicht abgestellt. Das wird damit begründet, dass diese Tatsachen und
Beweismittel neu seien und nicht dem vom Bundesgericht formulierten
Beweisthema entsprechen.
An dieser Auffassung ist grundsätzlich soviel richtig, dass die kantonale
Instanz, an welche eine Sache zurückgewiesen wird, gemäss Art. 84 OG ihrer
neuen Entscheidung die rechtliche Beurteilung des Bundesgerichtes zu Grunde zu
legen hat. Damit ist aber von Bundesrechts wegen die Berücksichtigung neuer
Tatsachen und neuer Beweismittel, soweit sie den zurückgewiesenen Punkt des
Rechtsstreites betreffen, nicht ausgeschlossen. Durch die Rückweisung wird der
Prozess in die Lage zurückversetzt, in welcher er sich vor Erlass des
aufgehobenen Urteils befunden hat. Das Verfahren, welches von da an wieder
einzuschlagen ist, richtet sich daher nach kantonalem Prozessrecht. Das gilt -
im Rahmen des der Rückweisung unterliegenden Streitpunktes - insbesondere auch
für die Zulassung neuer Tatsachen und neuer Beweismittel. Mit dem Novenverbot
des Art. 81 OG hat die Frage nichts zu tun; dieses Verbot findet erst wieder
Anwendung auf die
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Berufung, die gegebenenfalls gegen das neue Urteil der kantonalen Instanz
ergriffen wird.
Wenn das Bundesgericht im Rückweisungsentscheid eine Ergänzung der Expertise
darüber angeordnet hat, ob die Konstruktion des Beklagten im Verhältnis zu den
von den Klägern schon im ersten Verfahren angerufenen Systemen (System
Fischer-Reydellet und «Neuere Hohlkörperdecken» nach Böhm) als neu zu
betrachten sei, so hatte das daher keineswegs die Bedeutung, dass das neue
Beweisverfahren auf diese Systeme beschränkt bleiben müsse. Die rechtliche
Streitfrage, um derentwillen zurückgewiesen wurde, war die Neuheit der
Erfindung; in diesem Rahmen stand daher von Bundesrechts wegen nichts
entgegen, dass neue Tatsachen und neue Beweismittel berücksichtigt würden.
Gebunden war die Vorinstanz lediglich insoweit, als sie die
Aktenvervollständigung auf jeden Fall in dem Umfange durchführen musste, in
welchem sie vom Bundesgericht angeordnet worden war. Ob aber darüber hinaus
Nova zuzulassen seien, blieb ihr zur Entscheidung nach kantonalem Prozessrecht
anheimgestellt. Vgl. hiezu BGE 33 II. 144 f. Erw. 3 und 57 II 551; WEISS,
Berufung, 317 ff. lit. b.
Es kann sich somit nur fragen, ob Nova durch das kantonale Recht
ausgeschlossen sind. Das ist nach dem angefochtenen Urteil zu verneinen. Die
Vorinstanz gibt unmissverständlich zu erkennen, dass sie auf Grund des
kantonalen Prozessrechtes die Nova zugelassen hätte; was sie davon abhielt,
war einzig die unrichtige Auffassung, dass die Formulierung des Beweisthemas
im bundesgerichtlichen Rückweisungsentscheid die Zulassung nicht gestatte.
Demgemäss erklärt sie denn auch ausdrücklich, dass es dem Bundesgericht auf
Berufung hin überlassen bleibe, das neue Material zu berücksichtigen. Das
könnte nicht geschehen, wenn der Weg dazu durch das kantonale Recht
verschlossen wäre.
Unter diesen Umständen sind also diese neuen Behauptungen und Beweismittel in
die Beurteilung einzubeziehen,
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ohne dass die Vorinstanz durch Rückweisung veranlasst werden müsste, nochmals
nach kantonalem Recht dazu Stellung zu nehmen.