BGE 60 II 132
24. Urteil der II. Zivilabteilung vom 1. März 1934 i. S. Schweizerische
Unfallversicherungsgesellschaft «Winterthur» gegen Keusen.
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Regeste:
Unfallversicherung.
Invaliditätsentschädigung und Taggeld für die Zeit vorübergehender
Arbeitsunfähigkeit kann nur dann und insoweit beansprucht werden, als die
versicherte Person durch den Unfall wirklich die Fähigkeit zu arbeiten
eingebüsst hat.
Durch den Unfall hervorgerufene funktionelle und psychische Störungen, die
eine Verminderung der Arbeitsfähigkeit bedingen, fallen ebenfalls in Betracht.
Ablehnung von Versicherungsansprüchen eines Verunfallten, dem nicht die
Fähigkeit, sondern nur der gute Wille zur Arbeit abgeht.
Ist die Unterscheidung zwischen echter traumatischer Neurose und
Begehrungsneurose rechtlich verwendbar (Erw. 3).
Können die Versicherungsleistungen wegen einer (angeblichen) Prädisposition
des Verunfallten gekürzt werden? (Erw. 4).
(Tatbestand gekürzt.)
A. - Der im Jahre 1873 geborene Landwirt Albert Keusen wurde am 10. Juni 1931
um halb sieben Uhr abends auf der Hauptstrasse in Oberdornach, beim
Wirtschaftsgebäude zur Schmiedstube, zwischen seinem Heufuhrwerk, neben dem er
links auf der Höhe der Vorderräder einherschritt, und einem entgegenfahrenden
Kieslastwagen eingezwängt und verletzt. Er vermochte sich zu befreien und
allein nach Hause zu gehen. Der Arzt, den er am folgenden Tag in der
Sprechstunde aufsuchte, stellte einen blutunterlaufenen, geschwollenen, etwa 2
cm breiten Striemen an der linken Stirnseite und zwei kleinere
Schürf-Quetschwunden am rechten Vorderarm und Kleinfinger fest. Seine Annahme,
Keusen habe bei der Kollision eine leichte
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Gehirnerschütterung erlitten, stützte sich lediglich darauf, dass Keusen über
Kopfschmerzen und Schwindel klagte. Er hielt dafür, Keusen werde acht Tage
lang ganz und dann eine Zeitlang noch halb arbeitsunfähig sein.
Das Befinden Keusens verschlimmerte sich nach einigen Wochen. Es traten
psychische Störungen auf. Am 26. Juli 1931 wurde der Arzt zweimal wegen
angeblich tobsuchtsähnlicher Anfälle dringend gerufen. Er fand ihn ziemlich
ruhig, aber völlig desorientiert, und ordnete am folgenden Tage die
Verbringung in einen Spital an, die jedoch daran scheiterte, dass Keusen wegen
Armut in Ermangelung einer Kostengutsprache zurückgeschickt wurde. Da sich die
Störungen in der Folge wiederholten, kam es dann am 19. September 1931 doch
zur Verbringung in die Heil- und Pflegeanstalt Friedmatt in Basel, wo Keusen
bis zum 25. Oktober 1931 zur Beobachtung und Behandlung weilte. Auf den
Anstaltsbefund ist später zurückzukommen.
B. - Keusen ist bei der Schweizerischen Unfallversicherungsgesellschaft in
Winterthur gegen Unfälle versichert. Er hat die Prämien stets pünktlich
bezahlt. Die Versicherung gewährt Anspruch auf folgende Leistungen:
a) im Todesfalle auf eine Entschädigung von 5000 Fr.;
b) im Invaliditätsfalle auf eine Entschädigung von 5000 Fr., bei bloss
teilweiser Invalidität auf einen entsprechenden Bruchteil dieser Summe;
c) bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit auf ein Taggeld von 5 Fr., bezw. je
«nach Massgabe der durch den Unfall bedingten Erwerbseinbusse» einen
entsprechend niedrigeren Betrag, vom ersten Tage nach dem Unfall an bis zum
Ablauf von zehn Monaten;
d) auf Ersatz der Heilungskosten bis zum Betrage von 2000 Fr.
C. - In dem im November 1931 auf Begehren Keusens eröffneten
Beweissicherungsverfahren erstattete die Anstalt Friedmatt am 27. Januar 1932
ein Gutachten, in dem zusammenfassend folgende Diagnose gestellt wird: «Bei
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dem deutlich geistesschwachen, früh gealterten Patienten hat der Unfall vom
10. Juni 1931 einen psychischen Schock ausgelöst, bei dem aber keinerlei
krankhafte Symptome im Sinne einer organischen Gehirnverletzung, wie wir sie
bei der sogenannten Korsakow'schen Psychose finden, festzustellen sind. Dieser
psychische Schock, um den sich jetzt schwere hypochondrische Klagen und
Begehrungsvorstellungen gruppieren, ist rein seelisch bedingt und hat mit
einer Gehirnverletzung nichts zu tun. Keusen bietet deshalb das klassische
Bild einer Versicherungsneurose, wozu die körperlichen Erscheinungen der
Vasolabilität ... durchaus passen.» Der Begutachter bezeichnet Keusen in
seinem damaligen Zustand als vollständig arbeitsunfähig, und er hält eine
vollständige Heilung für wenig wahrscheinlich, eine Besserung dagegen im Laufe
einiger Monate für möglich. Die Frage endlich: «Inwieweit glauben Sie, dass
der Unfall vom 10. Juni 1931 für die Störungen verantwortlich gemacht werden
muss?», wird dahin beantwortet, es habe bei Keusen sicher eine starke
seelische Disposition zu neurotischen Symptomen bestanden, «indem der
Schwachsinn, das frühe Altern und die relativ bedrängte soziale Lage vor dem
Unfall begünstigend auf die Entstehung der Neurose gewirkt haben». Eine
Reflexhysterie (unmittelbares, reflektorisches Auftreten eines neurotischen
Symptomenbildes infolge eines schweren Schrecks) sei bei Keusen nicht
nachgewiesen, «denn er war imstande, allein nach Hause zu gehen und kann sich
an den Unfallhergang genau erinnern, was den Reflexhysterikern nicht möglich
ist. Wenn die bei ihm anfänglich aufgetretenen Angstreaktionen (begleitet von
Schwindel und Kopfdruck) in eine chronische Unfallneurose übergingen, so
handelt es sich dabei um die Auswirkung von hypochondrischen und
Begehrungsvorstellungen, denen der schwachsinnige Keusen nicht genügend
widerstreben konnte.» Der Anteil der Disposition und des Unfalles an der
Entstehung der Neurose wird auf je 50% eingeschätzt.
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D. - Mit Klage vom 17./21. März 1932 belangte Keusen die «Winterthur» auf
Bezahlung von 7126 Fr., eventuell 4626 Fr. (richtig je 100 Fr. weniger;
Additionsfehler), ganz eventuell auf Bezahlung eines nach gerichtlichem
Ermessen zu bestimmenden Betrages, nebst Zins zu 5% seit Klageanhebung.
Die geforderte Summe wird wie folgt spezifiziert:
Fr. 634.- für Behandlung (Fr. 324.- Arztrechnung von Dr. Imobersteg;
Fr. 262.- Rechnung der Anstalt Friedmatt; Fr. 48.- Rechnung
des Bürgerspitals Basel für zwei Schädelaufnahmen).
» 1392.- Tagesentschädigung für zehn Monate = Fr. 1500.-, wovon Fr.
3.- pro Tag während des Aufenthaltes in der Anstalt Friedmatt
(in den Spitalkosten enthaltene Unterhaltskosten), also für 36
Tage Fr. 108.- abgezogen werden.
» 5000.- Invaliditätsentschädigung.
Fr. 7026.-
Der eventuell geforderte um 2500 Fr. geringere Betrag ergibt sich bei
Halbierung der Invaliditätsentschädigung.
E. - Die Beklagte erklärte sich in der Antwort auf die Klage vorerst bereit,
freiwillig und nur für den Fall der gütlichen Erledigung 600 Fr. zu bezahlen,
welches Angebot der Kläger als völlig ungenügend ablehnte. Ihre Anträge gingen
auf gänzliche Abweisung der Klage, eventuell auf Abweisung, soweit der Kläger
mehr als 600 Fr. verlangt.
F. - Im amtsgerichtlichen Verfahren wurde nach Durchführung weiterer
Einvernahmen eine neue Begutachtung durch Dr. Tramer, Direktor der Heil- und
Pflegeanstalt Rosegg in Solothurn, angeordnet. Dessen Gutachten vom 23.
Februar 1933 kommt im wesentlichen zu den nämlichen Ergebnissen wie das
frühere: Als unmittelbare Folgen des Unfalles sind einzig festzustellen die
äusserlichen Verletzungen, die keine nennenswerte
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Beeinträchtigung nach sich zogen, und die Schreckwirkungen wie Sturmsein,
Blässe, Zittern, die aber von so kurzer Dauer und von so wenig beunruhigender
Art waren, dass Keusen selber damals erklärte, es mache nichts; er wurde denn
auch in den dem Unfall folgenden Tagen in Wirtschaften gesehen, ohne dass
etwas Besonderes aufgefallen wäre. Die Verschlimmerung begann erst einige
Wochen später. Auch nach Dr. Tramer sind die Anfälle von Verwirrtheit und
Desorientierung gleich wie die alsdann in der Friedmatt anfänglich noch
beobachteten «Affektstürme» nicht Folgen einer organischen Gehirnverletzung
oder -erschütterung, wofür gar nichts vorliegt; solche Anfälle sind übrigens
seit dem September 1931 nicht mehr aufgetreten, oder sie haben sich doch, wenn
man den wenig bestimmten Angaben der Ehefrau des Klägers folgt, auf Ausbrüche
von Zorn oder eines ähnlichen Affektes reduziert. Die subjektiven Klagen des
Klägers aber sind mit Vorsicht aufzunehmen. Bei der Untersuchung klagte er
zuerst nur über Schmerzen im Kopf, dann nach längerem Zaudern auch über solche
im Kreuz, und schliesslich tut ihm auch noch der Arm weh, wobei er nicht recht
weiss, ob er den rechten oder den linken zeigen soll. Anfänglich war er bei
der Untersuchung regungslos und murmelte nur; wurde er abgelenkt, so konnte er
dann aber gut und verständlich sprechen. Oft verhielt er sich gegen die
Untersuchung ablehnend. Bezeichnend ist, dass er bei lebhafter Schilderung des
Unfalles, der Röntgenaufnahme, der Lumbalpunktion, seine Steifheit, sein
Kreuzweh, seine Armschmerzen vergass und sich so bewegte, als wäre nichts
dergleichen vorhanden. Nach einer Untersuchung liess er sich beim Hinausgehen
durch einen Pfleger stützen und schwankte wie ein Betrunkener; nach wenigen
Schritten aber, im Gang angelangt, ging er sofort wieder allein und gerade.
Dr. Schubiger, der ihn speziell auf das Gehör untersuchte, stellt in seinem
Bericht fest: «Der Mann versucht in grober Art, seinen Zustand schlechter
darzustellen, als er ist». Der Experte Dr. Tramer selbst kommt
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zum Schluss, «dass Keusen seine Beschwerden übertreibt und dies mindestens zum
Teil bewusst». Die Diagnose lautet ähnlich wie bei Dr. Künzler auf eine
«Versicherungsneurose bei einem Manne mit einer gewissen geistigen Schwäche
und relativ frühen Alterserscheinungen». «Im Zustandsbilde der
Versicherungsneurose sind Aggravation, hypochondrische und
Begehrungsvorstellungen festzustellen. Andere als neurotische Symptome sind
mit Sicherheit nicht nachzuweisen. Die Erscheinungen unmittelbar nach dem
Unfall (Blässe etc.) waren die eines psychischen Schocks infolge des wegen ihm
erlebten Schreckes», wobei aber eine Schreckreaktion im Sinne einer
Reflexhysterie auch von diesem Begutachter verneint wird. Über den
Kausalzusammenhang äussert sich Dr. Tramer ebenfalls dahin, die
Versicherungsneurose sei insofern Unfallfolge, als sie durch den Unfall
ausgelöst wurde. Auch er bezeichnet ferner den Kläger als noch immer
erwerbsunfähig. Es liege indessen im Bereiche der erfahrungsgemässen
Möglichkeit, dass er mindestens zum Teil wieder erwerbsfähig werde, wenn der
Versicherungsprozess erledigt ist und er mit der Versicherung auch sonst nicht
weiter zu tun hat, und zwar ist die Rede vom Wiedererwerb eines Drittels bis
zur Hälfte der früheren Erwerbsfähigkeit binnen eines bis zweier Jahre. Den
kausalen Anteil des Unfalles und der «durch die angeborene geistige Schwäche,
das etwas vorzeitige Altern, die verhältnismässig schwierige materielle Lage
bedingten Disposition» am festgestellten Zustandsbild schätzt auch Dr. Tramer
auf je 50%.
G. - Die kantonalen Instanzen machten die Feststellungen und Schlüsse der
Begutachter zu den ihrigen. Dabei sprach das Amtsgericht Dorneck-Thierstein
dem Kläger mit Rücksicht auf die Ausführungen der Experten über den
ursächlichen Anteil des Unfalles die Hälfte der Ganzinvaliditätsentschädigung
von 5000 Fr. und ferner ungekürzt die verlangte Vergütung der Heilungskosten
von 634 Fr. und die Taggelder von 1392 Fr., also insgesamt
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4526 Fr. zu, mit Zins seit Klageanhebung, wogegen das Obergericht des Kantons
Solothurn mit Urteil vom 25. Oktober 1933 auch die Vergütung der
Heilungskosten und die Taggelder je um die Hälfte kürzte und überdies an der
halben Invaliditätsentschädigung einen Abstrich von 500 Fr. machte wegen des
laut Expertenbefund nach einiger Zeit zu erwartenden teilweisen Wiedererwerbes
der Arbeitsfähigkeit. So kam das Obergericht auf eine Urteilssumme von 3013
Fr. mit Zins.
H. - Gegen dieses Urteil hat die Beklagte rechtzeitig und in der
vorgeschriebenen Form die Berufung an das Bundesgericht erklärt. Sie beantragt
Abweisung der Klage, soweit damit mehr als 74 Fr. verlangt werden
(Additionsfehler: es ist die Rede vom Taggeld von 5 Fr. für die auf den Unfall
folgenden acht Tage und von Behandlungskosten im Betrage von 24 Fr. für die
nämliche Zeit, was zusammen 64 Fr. ausmacht), eventuell wesentliche
Herabsetzung des zu leistenden Betrages mit entsprechender Kostenfolge. In der
Berufungsschrift wird indessen erklärt, die Beklagte sei nach wie vor bereit,
die freiwillige und vergleichsweise angebotenen 600 Fr. zu bezahlen, dagegen
lehne sie eine Übernahme von Kosten ab.
I. - Der Kläger hat sich der Berufung angeschlossen mit dem Antrag, die
Heilungskosten seien ihm anstatt zur Hälfte ganz zuzusprechen und die
Urteilssumme demgemäss auf 3330 Fr. zu erhöhen; im übrigen sei das
obergerichtliche Urteil zu bestätigen.
Aus den Erwägungen:
2.- Als Unfälle im Sinne der Versicherung gelten nach § 1 der allgemeinen
Versicherungsbedingungen - übrigens durchaus entsprechend dem landläufigen
Sprachgebrauche - «Körperbeschädigungen, die eine versicherte Person durch
eine plötzlich wirkende äussere Gewalt (auch durch Einatmen plötzlich
ausströmender Gase oder Dämpfe) unfreiwillig erleidet.» Folgen eines Unfalles
sind
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demnach nur die Auswirkungen einer solchen Körperbeschädigung. Neben
organischen Verletzungen fallen hiebei auch funktionelle und geistige
Störungen in Betracht, wie denn die allgemeinen Versicherungsbedingungen in §
10 als Fall der Ganzinvalidität ausdrücklich auch die unheilbare
Geistesstörung, die jede Erwerbstätigkeit ausschliesst, erwähnen. Vorliegend
ist eine Kollision festgestellt, die neben geringfügigen äusserlichen
Verletzungen gewisse Schreckwirkungen äusserte. Daraus ergab sich jedoch bloss
eine Verminderung der Arbeitsfähigkeit für einige Tage. Später kamen noch
Störungen psychogener Art hinzu, die sich indessen nur gelegentlich
einstellten und nach der ersten Zeit des Aufenthaltes in der Anstalt Friedmatt
überhaupt nicht mehr beobachtet wurden. Im übrigen liegt keinerlei
Krankheitsbefund vor, sondern nur die von den Experten als
Versicherungsneurose bezeichnete Erscheinung, in deren Zustandsbild bewusste
Aggravation einen grossen Raum einnimmt. Wieso die Experten trotzdem von einer
nur teilweise nach einiger Zeit heilbaren Ganzinvalidität sprechen, ist nicht
verständlich, und noch mehr befremdet es, dass die Vorinstanzen, in
Missachtung der grundlegenden Beweisregel des Art. 8
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 8 - Wo das Gesetz es nicht anders bestimmt, hat derjenige das Vorhandensein einer behaupteten Tatsache zu beweisen, der aus ihr Rechte ableitet. |
dieser widerspruchsvollen Art der Tatbestandswürdigung gefolgt sind und die
Klageansprüche, insbesondere auf Invaliditätsentschädigung und Taggeld für
zehn Monate, grundsätzlich geschützt und nur aus dem Gesichtspunkt einer
mitwirkenden Prädisposition des Klägers gekürzt haben. Dabei lässt sich doch
bei der gegebenen Sachlage, abgesehen von der Frage der Verursachung,
unmöglich von einem Zustand unheilbarer, jede Erwerbstätigkeit
ausschliessender Geistesstörung sprechen. Arbeitsunfähigkeit im wahren Sinne
des Wortes liegt keineswegs schon dann vor, wenn sich zufolge der
Beschäftigung mit dem Unfall und den aus Haftpflicht oder Versicherung
allenfalls geltend zu machenden Ansprüchen Arbeitsunlust einstellt. Es genügt
auch nicht, dass der Verunfallte sich wegen
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seines Missgeschicks bedrückt fühlt. Die Unfallversicherung gewährt nicht
Anspruch auf Ersatz für dieses Leid, sie bezweckt nicht, dem Verunfallten
schlechthin einen Ausgleich in Geld für die erlittene Unbill zu gewähren;
vielmehr sind Ansprüche auf Invaliditätsentschädigung und entsprechend auf
Entschädigung für vorübergehende Arbeitsunfähigkeit (Taggeld) nur dann
gegeben, wenn der Versicherte durch den Unfall wirklich der zum Arbeiten
erforderlichen geistigen oder körperlichen Kräfte - ganz oder teilweise,
dauernd oder zeitweilig - beraubt worden ist. Sind durch den Unfall
hervorgerufene psychische Störungen vorhanden, die eine Verminderung oder gar
eine Aufhebung der Arbeitsfähigkeit bedingen, so steht freilich anderseits dem
Anspruch aus der Versicherung dann nicht etwa entgegen, dass die Vorstellung,
die sich der Betroffene von den Auswirkungen des Unfalles auf seine
körperliche Integrität macht, unrichtig sind, also auf Einbildung beruhen. In
diesem Falle ist es eben die psychische Beeinträchtigung als solche, mag sie
sich auch vornehmlich in krankhafter Einbildung äussern, welche die
Verminderung der Arbeitsfähigkeit begründet. Entscheidend ist also, ob und,
wenn ja, in welchem Masse der Verunfallte durch den Unfall in seiner
Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt worden ist. Demgemäss kommen aber
Versicherungsansprüche nicht in Betracht, wenn dem Versicherten nicht die
Fähigkeit, sondern nur der gute Wille zur Arbeit abgeht, wenn er sich aus
Wehleidigkeit oder Arbeitsscheu nicht zur Wiederaufnahme der Arbeit aufrafft
oder, um eine möglichst hohe Entschädigung ziehen zu können, in Wirklichkeit
nicht vorhandene Beschwerden vorgibt, wie es hier nach dem Befunde des
Experten Dr. Tramer «mindestens zum Teil» der Fall ist. Da hier deutliche
Zeichen für Simulation vorliegen und im übrigen gar nichts Sicheres für das
Vorhandensein wirklicher Beschwerden oder Störungen (ausser den erwähnten)
bewiesen ist, darf ein etwa noch bestehender Zweifel nicht zu Gunsten des
beweisbelasteten Klägers
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ausgewertet werden; ganz abgesehen davon, dass die in Frage kommenden
Beschwerden, selbst wenn sie erwiesen wären, keineswegs eine Ganzinvalidität,
ja kaum eine wesentliche Verminderung der Arbeitsfähigkeit zu begründen
vermöchten. Übrigens spricht alles dafür, dass, wenn der Kläger heute in
irgendwelchem Masse in seiner Arbeitsfähigkeit beschränkt und nicht nur
arbeitsunwillig sein sollte, dieser Zustand rechtlich nicht als Auswirkung des
Unfalles, als Unfallinvalidität zu betrachten wäre, sondern darauf
zurückgeführt werden müsste, dass der Kläger durch sein bewusstes Vorgeben
nicht bestehender Beschwerden und indem er auch sich selber solche einredete,
im Laufe der Zeit in seinen psychischen Kräften heruntergekommen wäre. Dies
noch als unabwendbare «Reaktion» auf den Unfall zu bezeichnen, geht nicht an;
vielmehr hat man es mit einer verwerflichen Willenseinstellung des Klägers zu
tun, für die er selber verantwortlich ist.
3.- Wie erwähnt, gipfeln die Feststellungen der Experten und der Vorinstanzen
in der Annahme einer durch Aggravation usw. näher gekennzeichneten
«Versicherungsneurose». Der vorliegende Fall zeigt, wie unangebracht es ist,
eine rechtliche Entscheidung auf solch ungenauen, mehrdeutigen Begriffen
aufzubauen. Von einer «Versicherungs-» oder «Entschädigungsneurose» wird etwa
gesprochen als von einer Art sogenannter «Begehrungs-» oder «Zweckneurose»,
über deren Begriff und Abgrenzung gegenüber der «echten» Unfallneurose -
worunter bisweilen etwas anderes als «Schreckneurose» verstanden wird -, die
Gelehrten streiten. (Vgl. Näheres in der von Walther RIESE herausgegebenen
Sammlung von Abhandlungen, betitelt «Die Unfallneurose», 1929, und in den
«Beiträgen zur Frage der traumatischen Neurose», Separatabdruck aus der
Schweizerischen Zeitschrift für Unfallmedizin und Berufskrankheiten, 1930.)
Während die einen die Zweckneurosen als scharf abgrenzbare Erscheinung
betrachten und dahin charakterisieren, dass
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sie «ihre Entstehung nicht einem Unfall als solchem, sondern der Tatsache des
Versichertseins verdanken» (vgl. speziell S. 12 der zweiterwähnten Sammlung
«Beiträge»), wird von anderer Seite auf die Komplexität der «Neurosenfälle»
hingewiesen: «L'incapacité de travail d'un assuré est souvent composée d'une
incapacité réelle, basée sur des symptômes objectifs incontestables, sur
laquelle vient se greffer une incapacité plus élevée provenant d'une névrose
de revendication». (S. 49 der «Beiträge.») Ferner: «In jedes Lebensgeschehen
mischen sich Konflikte, Wünsche, Strebungen, kurz, die ganze psychophysische
und moralische Person. Aber jede Spezifizierung biologischer Vorgänge nach dem
Grade des Anteils etwa der letzten - Spezifizierung also zwischen den
«Zweckneurosen» und den «echten» traumatischen Neurosen - vernachlässigt nicht
nur die Tatsache, dass wir über die Art des Zusammenwirkens der Kausalfaktoren
im Lebendigen, noch dazu im Psychischen nichts wissen (es herrschen bestimmt
keine Grössenordnungen): sie lässt auch wieder der Versimplung komplizierter
Sachverhalte Tür und Tor offen. Eine Psychologie, welche stärkeres oder
schwächeres «Begehren» als Einteilungsprinzip von biologischen Vorgängen
verwendet, vermag dem komplexen Charakter jedes Lebensvorganges nicht gerecht
zu werden.» («Beiträge» S. 57.) Schon der Terminus «Neurose» wird übrigens in
verschiedener Bedeutung gebraucht und daher gelegentlich überhaupt bekämpft
(«Beiträge» S. 96). Ob man in der Rechtsprechung mit der vom Eidgenössischen
Versicherungsgericht in einer Reihe von Urteilen getroffenen Unterscheidung
von «echter» traumatischer Neurose und Behandlungsneurose einerseits, die als
Unfallfolgen im Rechtssinne anerkannt werden, und «Begehrungsneurose»
anderseits, wofür der ursächliche Zusammenhang mit dem Unfall abgelehnt wird,
auskommt (vgl. EVGE 1927, S. 14, 161, 209, 226), ist nach dem Ausgeführten
füglich zu bezweifeln. Jedenfalls ist gegenüber Urteilen, wie
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sie hier die Vorinstanzen ausgefällt haben, vor einer schablonenhaften
Verwendung der erwähnten Termini zu warnen. Jeder Fall ist für sich zu prüfen
und in seiner Eigenart zu erfassen. Insbesondere ist die Diagnose
«Versicherungsneurose» oder «Begehrungsneurose» dazu angetan, Verwirrung zu
stiften und Fehlentscheidungen zu begünstigen, wie der vorliegende Fall zeigt.
Ebenso wie es verkehrt ist, einem Kläger, der ein Vergleichsangebot abgelehnt
und seine Ansprüche gerichtlich geltend gemacht hat, kurzerhand «blosse
Begehrungsneurose» vorzuhalten, so geht es auch nicht an, einen Zustand, bei
dem nichts Krankhaftes nachgewiesen und wo gegenteils der Verdacht der
Simulation in erheblichem Masse begründet ist, als «Versicherungsneurose» und
damit immerhin als eine Art Krankheit zu bezeichnen, um auf diesem Boden zur
Annahme einer mit den Tatsachen schlechterdings nicht vereinbaren Invalidität
zu gelangen.
4.- Anderseits fehlen hier entgegen der Auffassung der Vorinstanzen die
Voraussetzungen zur Kürzung der Versicherungsleistungen aus dem Gesichtspunkt
einer Prädisposition. Denn nach § 8 Abs. 2 der allgemeinen
Versicherungsbedingungen fallen als Herabsetzungsgrund nicht schon
irgendwelche Anlagen, krank zu werden, sondern nur eigentliche
Krankheitszustände und Gebrechen in Betracht, latente krankhafte Anlagen
jedenfalls nur dann, wenn sie in voraussichtlich kurzer Zeit die als
Unfallfolgen in Betracht gezogenen Wirkungen auch ohne den Unfall nach sich
gezogen hätten (vgl. BGE 44 II 103 und 50 II 223). So verhält es sich hier
nicht. Der Kläger zeigte vor dem Unfall, auch in psychischer Beziehung, nichts
Abnormales, und er war voll arbeitsfähig und gesund, so dass mit einer bis zum
70. Altersjahre fortdauernden ungeminderten Arbeitsfähigkeit gerechnet werden
konnte. (Gutachten Dr. Tramer, S. 19.) Übrigens wird die Annahme einer
Prädisposition des Klägers durch die Experten und die Vorinstanzen auf Momente
gestützt, deren Schlüssigkeit keineswegs einleuchtet. Als Debilität
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wird nichts weiteres als eine etwas beschränkte Intelligenz bezeichnet, wie
sie bei sehr vielen Menschen zu beobachten ist, die man nicht im landläufigen
Begriffe als schwachsinnig bezeichnen kann. Von Geisteskrankheit, Alkoholismus
oder ähnlichem ist hier ja nicht die Rede. Ferner liegen keine als abnorm zu
bezeichnende Alterserscheinungen vor, indem weder von einer weit
vorgeschrittenen Arterienverkalkung noch überhaupt von einer Verminderung der
Arbeitskraft gesprochen wird. Und endlich liegt nichts dafür vor, dass die
bescheidene Existenz den Kläger bedrückt hätte. Wie es scheint, sahen die
Experten und die Vorinstanzen in der Annahme einer Prädisposition die einzige
Möglichkeit, einen vollen Zuspruch der Klage zu vermeiden, was augenscheinlich
ein Unrecht gegenüber der Versicherungsgesellschaft bedeutet hätte. Der
Sachlage ist aber, wie dargetan, dadurch Rechnung zu tragen, dass für nicht
bewiesene Unfallfolgen keine Versicherungsansprüche zuerkannt werden.
5.- Dabei ergibt sich non, trotz Ablehnung einer Kürzung nach § 8 Abs. 2 der
Versicherungsbedingungen, eine Forderung, die durch den von der
Versicherungsgesellschaft angebotenen Betrag von 600 Fr. angemessen gedeckt
erscheint. Vor allen Dingen steht dem Kläger kein Anspruch auf Ganz- oder
Teilinvaliditätsentschädigung zu, da bei richtiger Würdigung der gutachtlichen
Feststellungen ein bleibender Nachteil als Unfallfolge nicht vorliegt. Was
aber den Anspruch auf Taggeld und Heilungskostenersatz anbelangt, so fällt in
Betracht, dass die psychischen Störungen, die noch als Unfallfolge anzusehen
sind, keine vollständige und namentlich keine andauernde, sondern nur eine
zeitweilige Arbeitsunfähigkeit bewirkt haben und seit Ende September 1931
überhaupt nicht mehr in einem wesentlichen Grade aufgetreten sind. Die
Erklärung, dem Kläger 600 Fr. bezahlen zu wollen, so wie sie in der
Berufungsschrift der Beklagten abgegeben wird, stellt kein blosses
Vergleichsangebot für den Fall der Vermeidung des Prozesses
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mehr dar, sondern ein unbedingtes Leistungsversprechen, bei dem die Beklagte
zu behaften ist.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Anschlussberufung des Klägers wird abgewiesen, die Hauptberufung der
Beklagten dagegen in dem Sinne gutgeheissen, dass das Urteil des Obergerichtes
des Kantons Solothurn vom 25. Oktober 1933 aufgehoben und die Beklagte bei der
Erklärung, dem Kläger 600 Fr. bezahlen zu wollen, behaftet, die Klage aber im
übrigen abgewiesen wird.