S. 406 / Nr. 62 Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr (d)

BGE 60 I 406

62. Urteil des Kassationshofs vom 22. Dezember 1934 i. S. Widmer gegen
Staatsanwaltschaft Bern und Stein.


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Regeste:
Motorfahrzeuggesetz.
Nicht den Umständen (Regen, Wind, nasse Strasse) angepasste Geschwindigkeit
eines Motorradfahrers; Art. 25 MFG.
Frage des Vortrittsrechtes stellt sich auch bei Einmündungen, aber nur, wenn
sich auch bei korrektem Fahren beider Fahrzeuge die Fahrbahnen in einem Punkte
überschneiden; Art. 27 MFG.
Kein Endurteil und daher nicht der Kassationsbeschwerde fähig, ist die
grundsätzliche Verurteilung zu Schadenersatz, während die quantitative
Festsetzung ad separatum verwiesen wird: Art. 160 OG.

A. - Am 1. November 1933, morgens 8 Uhr, fuhr Frau Stein mit dem Auto ihres
Ehemannes den Privatweg hinab, der ihr Haus mit der Landstrasse
Wynigen-Burgdorf verbindet und, in der Richtung Wynigen-Burgdorf gesprochen,
von rechts her rechtwinklig in diese einmündet. Es regnete und herrschte ein
starker Wind. Frau Stein fuhr ganz langsam und gab Signal; bei der Einmündung

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angelangt, wandte sie den Wagen nach rechts, um die Richtung nach Burgdorf
einzuschlagen. Sie nahm die Kurve ein wenig zu weit und beanspruchte so ca. 40
cm der linken Hälfte der Strasse, die dort eine Gesamtbreite von 6,50 m hat,.
Im gleichen Augenblick, als Frau Stein im Begriffe war, die Drehung
auszuführen, kam von Burgdorf her der Kassationskläger Widmer auf seinem
Motorrad mit einer Geschwindigkeit von ca. 40 km. Frau Stein verlangsamte noch
mehr, so dass das Auto in der oben geschilderten Situation nahezu stillstand;
von der dem Widmer zukommenden Strassenhälfte waren somit noch 2,85 m frei.
Als Widmer, der ungefähr in der Strassenmitte fuhr und wegen des Windes den
Kopf gesenkt hielt, das Auto nach den Feststellungen des Obergerichts auf eine
Entfernung von ca. 20 m erblickte, wich er nicht nach rechts aus, um auf dem
ihm zur Verfügung stehenden Strassenstreifen von 2,85 m am Auto
vorbeizufahren, sondern er bremste scharf; dabei machte er eine leichte
Biegung nach links, geriet auf der nassen Strasse ins Schleudern und
kollidierte schliesslich mit der rechten Vorderseite des Autos. Er erlitt
schwere Verletzungen; die beiden Fahrzeuge wurden erheblich beschädigt.
B. - Wegen dieses Unfalls wurden die beiden Beteiligten strafrechtlich
verfolgt; im Strafverfahren machte Widmer adhäsionsweise
Schadenersatzansprüche gegen Frau Stein geltend. Mit Urteil vom 19. Juni 1934
erklärte der Gerichtspräsident von Burgdorf Frau Stein der Widerhandlung gegen
Art. 27 MFG schuldig, weil sie dem Widmer den Vortritt nicht gewährt habe, und
verurteilte sie zu einer Busse von 40 Fr.; ferner hiess er die
Schadenersatzklage Widmers grundsätzlich gut, verwies aber die Sache zur
Bestimmung der Höhe des Ersatzes an den Zivilrichter. Widmer wurde der
Widerhandlung gegen Art. 25 MFG schuldig erklärt, weil er seine
Geschwindigkeit nicht den Umständen (nasse Strasse, Wind und Regen) angepasst
habe, und zu einer Busse von 15 Fr. verurteilt. Im übrigen wurden die beiden
Angeschuldigten freigesprochen.

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C. - Auf Berufung beider Angeklagten hat die Strafkammer des Obergerichts des
Kantons Bern mit Urteil vom 12. Oktober 1934 Frau Stein von der Übertretung
des Art. 27 MFG freigesprochen, sie dagegen zum Ersatz eines Drittels des
Schadens von Widmer verurteilt, wobei die Sache für die Festsetzung der
Schadenshöhe an den Zivilrichter verwiesen wurde. Den Angeklagten Widmer hat
das Gericht in Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils der Widerhandlung
gegen Art. 25 MFG schuldig erklärt und zu 15 Fr. Busse verurteilt.
In der Begründung wird ausgeführt, dass von einem Vortrittsrecht des Widmer
nicht die Rede sein könne und daher auch nicht von einer Verletzung eines
solchen durch Frau Stein. Deren Verhalten erfülle vielmehr den Tatbestand der
Widerhandlung gegen Art. 26 Abs. 2 MFG, da sie die Kurve nicht eng genug
genommen habe und dadurch in die Fahrbahn Widmers hineingeraten sei. Dagegen
könne Frau Stein wegen dieser Übertretung aus prozessualen Gründen nicht
bestraft werden, weil nicht die Handlung, welche der erstinstanzlichen
Beurteilung zu Grunde lag, eine abweichende rechtliche Qualifikation erfahre,
sondern ein anderer Tatbestand vorliege. Widmer habe sich neben der
Widerhandlung gegen Art. 25 MFG auch einer solchen gegen Art. 26 Abs. 1
schuldig gemacht, da er schon vor dem Unfall auf der linken Strassenhälfte
gefahren sei; auch er könne aber dafür aus prozessualen Gründen nicht bestraft
werden, da ihn die erste Instanz von dieser Anschuldigung rechtskräftig
freigesprochen habe. Ebenso könne aus prozessualen Gründen die Strafe Widmers,
den das überwiegende Verschulden treffe, nicht erhöht werden. Im Zivilpunkte
sei Frau Stein zum Ersatz von nur einem Drittel des Schadens von Widmer zu
verurteilen, da ihr nur das unrichtige Verhalten beim Nehmen der Kurve zur
Last falle, während das überwiegende Verschulden am Unfall bei Widmer liege.
D. - Gegen diesen Entscheid hat Widmer rechtzeitig und in der vorgeschriebenen
Form die

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Kassationsbeschwerde an das Bundesgericht eingelegt. Er beantragt, das Urteil
der Strafkammer sei aufzuheben, er sei freizusprechen, Frau Stein sei wegen
Widerhandlung gegen die Vorschriften des MFG zu bestrafen und zum vollen
Ersatz seines Schadens zu verurteilen, dessen Höhe vom Zivilrichter
festzusetzen sei.
Frau Stein hat die Abweisung der Beschwerde beantragt.
Der Staatsanwalt hat keine Beschwerdeantwort eingereicht.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.- Der Beschwerdeführer macht geltend, das angefochtene Urteil verletze
dadurch eidgenössisches Recht, dass zu Unrecht angenommen werde, er habe gegen
Art. 25 MFG verstossen. Angesichts der für den Kassationshof verbindlichen
tatsächlichen Feststellungen des Obergerichtes, die eingangs zusammengefasst
sind, erweist sich diese Rüge jedoch ohne weiteres als unbegründet: Im
Hinblick auf die Nässe der Strasse und die damit verbundene Gefahr des
Schleuderns bei plötzlichem Bremsen, die stürmische Witterung und die dem
Kassationskläger bekannte unübersichtliche Ausfahrt war das Obergericht ganz
zweifellos zu der Annahme berechtigt, dass die Geschwindigkeit von ca. 40 km
den gegebenen Umständen nicht angepasst, sondern übersetzt gewesen sei. Dass
in dem vom Kassationskläger herangezogenen Entscheide des Kassationshofes in
BGE 60 I S. 160 ff. eine Geschwindigkeit von 40-45 km als nicht übersetzt
angesehen wurde, ist für die Entscheidung der hier zur Diskussion stehenden
Frage völlig belanglos. Ein wesentliches Motiv für das Fallenlassen der
Geschwindigkeitsbeschränkungen im MFG lag ja gerade in der Überlegung, dass
eine Geschwindigkeit nicht in allen Verhältnissen schematisch gleich behandelt
werden könne, sondern dass in erster Linie auf die Umstände des einzelnen
Falles abgestellt werden müsse, und diese Umstände waren nun eben im heutigen
Falle anders geartet, als in dem vom Kassationskläger herangezogenen,

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da dort die Witterungsverhältnisse nicht derart ungünstig waren wie hier.
Dass Widmer sein Fahrzeug nicht beherrschte und damit ebenfalls gegen Art. 25
MFG verstiess, ergibt sich sodann auch daraus, dass er nicht im Stande war,
sein Motorrad an dem Auto, das er auf 20 m Entfernung erblickte,
vorbeizulenken, wozu der ihm noch zur Verfügung stehende Strassenstreifen von
2,85 m Breite ihm reichlich Raum geboten hätte.
2.- Der Freispruch der Frau Stein stellt nach der Auffassung des
Kassationsklägers in erster Linie deshalb eine Verletzung eidgenössischen
Rechtes dar, weil das Obergericht zu Unrecht eine Widerhandlung der Frau Stein
gegen Art. 27 MFG (Nichtgewährung des Vortrittes) verneint habe. Auch diese
Rüge ist unbegründet. Wie das Obergericht zutreffend ausführt, stellt sich im
vorliegenden Falle die Frage des Vortrittsrechtes überhaupt nicht; denn erste
Voraussetzung für die Entstehung eines solchen ist unter allen Umständen, dass
sich die Fahrbahnen der beiden Fahrzeuge auch bei korrektem Fahren an
irgendeinem Punkte überschneiden (vgl. das nichtpublizierte Urteil der I.
Zivilabteilung des Bundesgerichts vom 4. Dezember 1934 i. S. Schmidhauser c.
Eschenmoser, Erw. 3). Dies wäre aber hier, wo Widmer von Südwesten nach
Nordosten fuhr, während Frau Stein von Nordwesten kam und nach Südwesten
abbiegen wollte, nur dann der Fall gewesen, wenn die örtlichen Verhältnisse
derart gewesen wären, dass Frau Stein überhaupt nicht in die Strasse hätte
einfahren können, ohne in die Fahrtahn Widmers hineinzugeraten. Diese
Voraussetzung war jedoch nach den Feststellungen des Obergerichtes nicht
erfüllt: Hätte Frau Stein die Rechtskurve vorschriftsgemäss eng genommen, so
wäre sie nicht über die Strassenmitte gelangt.
Der Kassationskläger vertritt die Ansicht, dass die Frage des Vortrittsrechtes
sich schon dann stelle, wenn bei einer Strassenmündung das eine Fahrzeug aus
irgendeinem Grunde, also auch wegen unkorrekten Fahrens, auf die

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Fahrbahn des andern übergreife; zum Beweis hiefür glaubt er sich auf den
folgenden Passus im Kommentar STREBEL, Anm. 17 zu Art. 27 MFG, berufen zu
können: «... denn in diesen beiden Fällen behindern sich die Fahrzeuge nicht,
sofern sie die ihnen zukommende Zone der Fahrbahn einhalten und die Strasse
breit genug ist. Wäre dies nicht der Fall, so würde die Frage des
Vortrittsrechtes sich allerdings stellen». Aus dem Zusammenhang, in dem diese
Bemerkung sich findet, ergibt sich jedoch eindeutig, dass sich dieser
Vorbehalt nur auf den Fall bezieht, in dem aus objektiven Gründen, wegen der
ungenügenden Strassenbreite, die Einfahrt nicht anders bewerkstelligt werden
kann, als unter Benützung der dem andern Fahrzeug zukommenden Fahrbahn,
während ein auf unkorrektes Fahren zurückzuführendes Übergreifen die Frage des
Vortrittsrechtes nicht entstehen lässt. Dies ergibt sich aus den unmittelbar
vorausgehenden Ausführungen im Kommentar, wonach sich die Frage des
Vortrittsrechtes dann erhebt, wenn ein Fahrzeug die Fahrzone des andern für
sich beanspruchen muss, nicht aber dann, wenn jedes der beiden Fahrzeuge
seinen Weg fortsetzen kann ohne die Fahrzone des andern zu berühren.
3.- Ist das Übergreifen auf die dem andern Fahrzeug zukommende Strassenhälfte
lediglich die Folge unkorrekten Fahrens, so liegt darin eben ein Verstoss
gegen eine andere Vorschrift des MFG, nämlich diejenige, dass rechts zu fahren
sei und Strassenbiegungen nach rechts kurz zu nehmen seien (Art. 26 MFG). Eine
Bestrafung der Frau Stein wegen dieser Übertretung des Gesetzes hat das
Obergericht jedoch aus Gründen des kantonalen Prozessrechtes als unzulässig
erklärt. Soweit die Kassationsbeschwerde die Freisprechung der Frau Stein als
Verstoss gegen Art. 26 Abs. 2 MFG rügt, kann daher auf sie nicht eingetreten
werden; denn damit wird behauptet, dass das Obergericht kantonales
Prozessrecht verletzt habe, dessen Überprüfung dem Kassationshof nicht
zukommt.
4.- Endlich rügt der Kassationskläger als Verletzung des Bundesrechtes, dass
ihm nur ein Ersatzanspruch für

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einen Drittel seines Schadens zuerkannt worden ist. Auch auf diesen Punkt kann
indessen nicht eingetreten werden. Da nur über die grundsätzliche Frage der
Schadenersatzpflicht geurteilt worden ist, während die Festsetzung des
Anspruches seiner Höhe nach durch den Zivilrichter in einem weiteren Verfahren
zu erfolgen hat, so liegt kein Endurteil im Sinne von Art. 160 OG vor, was für
die Zulässigkeit der Kassationsbeschwerde Voraussetzung ist (Th. WEISS, Die
Kassationsbeschwerde in Strafsachen eidgenössischen Rechtes, in der Schweiz.
Zeitschrift für Strafrecht, XIII S. 155). Der Kassationskläger wird dadurch in
seinen Rechten nicht verkürzt: Gegen das Urteil des Zivilrichters steht ihm
dann, sofern wenigstens der erforderliche Streitwert vorhanden ist, die
Berufung an das Bundesgericht offen, und in jenem Verfahren kann er dann auch
die grundsätzliche Frage der Ersatzpflicht wieder aufwerfen; denn nach der
ständigen Praxis des Bundesgerichtes ist die Verurteilung zu Schadenersatz dem
Grundsatze nach im Adhäsionsverfahren auch kein Haupturteil im Sinne von Art.
58 OG, gegen das eine selbständige Berufung an das Bundesgericht zulässig wäre
(BGE 54 II S. 48).
Demnach erkennt der Kassationshof:
Soweit auf die Kassationsbeschwerde eingetreten werden kann, wird sie
abgewiesen.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 60 I 406
Date : 01. Januar 1934
Published : 22. Dezember 1934
Source : Bundesgericht
Status : 60 I 406
Subject area : BGE - Verwaltungsrecht und internationales öffentliches Recht
Subject : Motorfahrzeuggesetz.Nicht den Umständen (Regen, Wind, nasse Strasse) angepasste Geschwindigkeit...


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OG: 58  160
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