S. 443 / Nr. 70 Gleichheit vor dem Gesetz (Rechtsverweigerung) (d)

BGE 56 I 443

70. Urteil vom 5. Dezember 1930 i. S. «La Genevoise» gegen Pfister und
Appellationshof des Kantons Bern.

Regeste:
Voraussetzungen, unter denen eine Gerichtsstandsklausel ohne Willkür als nicht
mehr anwendbar erklärt werden kann.

A. - Am 14. Mai 1894 stellte der damals in Paris wohnhafte Schweizer Eduard
Däniker bei der Pariser Zweigniederlassung der Rekurrentin den Antrag auf
Abschluss eines Lebensversicherungsvertrages für 50000 Franken. Die am 31.
März 1894 am Hauptsitz der Rekurrentin in Genf ausgestellte Police wurde ihm
durch die Pariser Zweigniederlassung übermittelt. Es handelt sich um eine
Versicherung mit nur fünfjähriger Prämienzahlung und mit Gewinnbeteiligung.
Die Prämien wurden

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jeweilen in Paris bezahlt, und seit 1896 wohnte Däniker in Bem. Der
geschäftliche Verkehr mit der Rekurrentin beschränkte sich nach Beendigung der
Prämienleistungspflicht im wesentlichen auf den Bezug der Gewinnanteile, er
ging seit dem Jahre 1901 durch die Agentur der Rekurrentin in Bern. Seit 1905
hat diese in Paris keine Zweigniederlassung mehr.
B. - Nach dem am 8. Juli 1928 in Bern erfolgten Ableben des Däniker erhob sich
zwischen seinem Willensvollstrecker, dem heutigen Rekursbeklagten, und der
Rekurrentin Streit darüber, ob die Versicherungssumme von 50000 Fr. und die
noch ausstehenden Gewinnanteile, deren Zahl und Höhe ebenfalls nicht
feststanden, in schweizerischer oder in französischer Währung geschuldet
seien. Der Rekursbeklagte klagte den Betrag von 50000 Franken in
Schweizerwährung nebst Zins zu 5% seit 14. Oktober 1928 und einen gerichtlich
zu bestimmenden Betrag, mindestens 1175 Fr. in Schweizerwährung plus Zins zu
5% seit dem gleichen Datum vor dem Appellationshof des Kantons Bern ein. - Die
Rekurrentin erhob in erster Linie die Einrede der Unzuständigkeit des
angerufenen Gerichtes, gestützt auf eine in der Versicherungspolice enthaltene
Gerichtsstandsvereinbarung, lautend: «Les contestations, de quelque nature
qu'elles soient, qui pourraient s'élever quant à l'exécution du présent
contrat seront, de convention expresse, soumise au Tribunal de la Seine.» In
der Hauptverhandlung erklärte sie, «dass sie, falls die angerufene
Gerichtsstandskonvention letztinstanzlich als unverbindlich erklärt und der
französische Gerichtsstand verneint werden sollte, Art. 59 der
Bundesverfassung nicht anruft und den bernischen Gerichtsstand anerkennt». Der
Rekursbeklagte seinerseits berief sich auf Art. 2 Ziffer 4 des Bundesgesetzes
betreffend Beaufsichtigung von Privatunternehmungen im Gebiete des
Versicherungswesens vom 25. Juni 1885, sowie auf eine von der Rekurrentin im
schweizerischen Handelsamtsblatt No. 297 vom Jahre

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1916 abgegebene Erklärung: «Pour les contestations pouvant résulter de ses
contrats d'assurance, la Compagnie accepte comme for de juridiction le
domicile suisse de l'assuré ou de l'ayant droit. - Tous les domiciles
cantonaux élus par la Compagnie et publiés antérieurement sont supprimés».
C. - Der Appellationshof des Kantons Bern hat mit Urteil vom 26. März 1930 die
Gerichtsstandseinrede der Rekurrentin abgewiesen und seine Zuständigkeit zur
materiellen Beurteilung der Streitigkeit bejaht und in der Sache die Klage im
wesentlichen gutgeheissen. Betreffend die Gerichtsstandsfrage erklärt der
Appellationshof, es könne dahingestellt bleiben, ob Art. 2 Ziff. 4 des
Versicherungsaufsichtsgesetzes auf Versicherungsverträge wie den vorliegenden
nicht ebenfalls anwendbar sei, denn die Gerichtsstandseinrede erweise sich
jedenfalls aus einem andern Gesichtspunkt als unbegründet, nämlich:
«Die Gerichtsstandsklausel sei eine prozessrechtliche Vereinbarung, deren
Rechtswirkungen der Richter nach seinem eigenen Prozessrecht zu beurteilen
habe, und zwar auch, wenn, wie hier, eine Klausel, welche auf einen andern
Gerichtsstand als den vom Kläger in Anspruch genommenen verweist, vom
Beklagten zur Begründung einer Gerichtsstandseinrede angerufen werde.
Da das bernische Prozessrecht keine Regeln über die Auslegung und Anwendung
von Gerichtsstandsvereinbarungen enthalte, seien die Bestimmungen des
allgemeinen Vertragsrechtes anzuwenden. Entscheidend fallen hier in Betracht
der in Art. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
1    Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
2    Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.
ZGB verankerte Grundsatz, dass jedermann in der Ausübung seiner
Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln
hat. Allerdings sei durch die streitige Gerichtsstandsklausel dem
Versicherungsnehmer nicht etwa der Gerichtsstand seines jeweiligen Wohnsitzes
zugebilligt worden und es fehle auch ein Anhaltspunkt dafür, dass die Parteien
des Versicherungsvertrages an einen elektiven Gerichtsstand gedacht hätten.
Dagegen stehe

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fest, dass dem Versicherungsnehmer mit der Befugnis, einen Gerichtsstand zu
bezeichnen, ein besonderer Vorteil habe eingeräumt werden wollen, und von
dieser Befugnis habe Däniker durch Bezeichnung seines Wohnsitzes Paris als
Gerichtsstand Gebrauch gemacht. Seit der dauernden Verlegung des Wohnsitzes
nach Bern sei nun offensichtlich ein Wohnsitzgerichtsstand Paris für Däniker
ausser Betracht gefallen. Wenn es nun dem Versicherungsnehmer zwar nicht
zugestanden habe, die Gerichtsstandsklausel einfach den Verhältnissen in dem
Sinne anzupassen, dass an Stelle des früheren Wohnsitzes der spätere getreten
wäre, so habe anderseits zufolge des Wegfalles der Voraussetzung, dass die
Gerichtsstandsklausel wesentlich eine Erleichterung der Rechtsverfolgung für
den Versicherungsnehmer begründen sollte, eben kein zureichender Grund mehr
bestanden, die Klausel überhaupt noch anzuwenden; umsoweniger, als die
Rekurrentin ihrerseits ihre Pariser Zweigniederlassung seit 1905 aufgehoben
habe. Unter diesen Umständen gehe es nicht an, sich heute noch auf den
seinerzeit vorgesehenen Gerichtsstand zu berufen, jedenfalls nicht gegenüber
einer vor den ordentlicherweise zuständigen Gerichten des eigenen
(gemeinsamen) Wohnsitzstaates angehobenen Klage. Die Anrufung der
Gerichtsstandsklausel verstosse mithin gegen Treu und Glauben.
D. - Gegen das Urteil des Appellationshofes des Kantons Bern hat die
Rekurrentin die Berufung an das Bundesgericht erklärt, mit der in erster Linie
die Abweisung der Unzuständikeitseinrede angefochten wird. Ferner hat sie
zivilrechtliche Beschwerde erhoben, mit dem Antrag: Es sei der Appellationshof
des Kantons Bern als zur Beurteilung des Rechtsstreites unzuständig zu
erklären und es sei demnach dessen Urteil vom 26. März 1930 aufzuheben, unter
Kostenfolge. In der Beschwerde wird bemerkt, die Zuständigerklärung des
Appellationshofes stelle auch einen Akt der Willkür dar, durch den Art. 4 der
Bundesverfassung verletzt sei, womit die Voraussetzungen

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zu einer staatsrechtlichen Beschwerde auch gegeben seien. Im wesentlichen geht
die Begründung der Beschwerde dahin, dass sich der Appellationshof zu Unrecht
und in missbräuchlicher Anwendung von Art. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
1    Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
2    Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.
des Zivilgesetzbuches über die
Gerichtsstandsvereinbarung hinweggesetzt habe. Art. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
1    Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
2    Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.
ZGB könne nur da Platz
greifen, wo eine an sich nicht klare Bestimmung auszulegen sei. Hier sei die
Bestimmung vollständig klar. Die Beweggründe für den Abschluss der
Gerichtestandsvereinbarung seien unerheblich. Übrigens erkläre sie sich
vollständig aus den Umständen. Man habe es mit einer französischen, d. h.
einer in Frankreich von einer dort arbeitenden Gesellschaft mit einem dort
domizilierten Versicherungsnehmer abgeschlossenen und dem französischen Recht
unterstehenden Police zu tun. Es habe nahe gelegen, dass sich der
Versicherungsnehmer demjenigen Gerichte unterwerfen wollte, welches mit den
Verhältnissen, in denen solche Policen abgeschlossen wurden, insbesondere mit
dem anwendbaren materiellen Rechte am besten vertraut sei.
Das Bundesgericht, II. Zivilabteilung, ist laut Urteil vom 10. Oktober 1930
auf die zivilrechtliche Beschwerde nicht eingetreten, weil es sich nicht um
eine Gerichtsstandsfrage eidgenössischen Rechts im Sinne von Art. 87 Ziff. 3
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
1    Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
2    Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.

des OG handle, sondern um eine Beschwerde wegen Missachtung einer
Gerichtsstandsvereinbarung. Zur Beurteilung einer solchen Beschwerde könne, da
auch die Berufung versage, nur die staatsrechtliche Abteilung zuständig sein,
an die diese deshalb gewiesen wurde.
Die staatsrechtliche Abteilung zieht in Erwägung:
Da die Zuständigerklärung des Appellationshofes des Kantons Bern, wie schon im
Urteil über die zivilrechtliche Beschwerde ausgeführt, nicht auf der Anwendung
einer eidgenössischen Gerichtsstandsnorm, sondern auf der Verwerfung der
Einrede eines vereinbarten Gerichtsstandes in Verbindung mit der eventuellen
Anerkennung des bernischen

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Gerichtsstandes durch die Rekurrentin beruht und da es sich bei der Verwerfung
jener Einrede lediglich um die Frage der Gültigkeit einer prozessrechtlichen
Vereinbarung handelt, die an sich nach dem kantonalen Recht zu beurteilen ist,
so kann es sich für das Bundesgericht nur fragen, ob der angefochtene
Entscheid staatsrechtlich wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte der
Beschwerdeführerin anfechtbar sei, und davon könnte nach der Sachlage nur dann
gesprochen werden, wenn der Entscheid sich als ein willkürlicher, die Garantie
der Rechtgleichheit verletzender darstellen würde. Das ist aber gewiss nicht
der Fall. Zunächst kann Art. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
1    Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
2    Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.
ZGB ohne Willkür auch als subsidiärer
kantonaler Rechtsgrundsatz angesehen und deshalb die Gültigkeit und
Wirksamkeit einer nach kantonalem Prozessrecht zu beurteilenden Vereinbarung
über den Gerichtsstand, wie sie in Art. 27 des bernischen Zivilprozesses
vorgesehen ist, ihm unterstellt werden (nur direkt, im Gebiete des
Bundesrechts ist er bloss auf das materielle Recht anwendbar; BGE 42 III 86).
Und wenn nun auch die Berufung auf eine an sich klare Vereinbarung dieser Art
nicht leicht als offenbarer Rechtsmissbrauch oder als gegen Treu und Glauben
verstossend wird erklärt werden dürfen, wie dies die Kommentatoren, auf die
sich die Beschwerdeführerin beruft, fordern, so verlöre die Bestimmung ihre
Bedeutung, wenn es dem Richter verwehrt sein sollte, unter Umständen auch über
eine an sich klare vertragliche Bestimmung hinwegzugehen dann, wenn die
Berufung darauf sich als Rechtsmissbrauch darstellt. Das durfte aber hier ohne
Willkür angenommen werden. Es ist kaum zweifelhaft, dass die Vereinbarung auf
das Tribunal de la Seine wesentlich im Interesse des Versicherungsnehmers
getroffen wurde, wie dies in dem von der Rekurrentin eingelegten Gutachten
Picot ausgeführt ist. Für die Beschwerdeführerin mochte ein prozessualisches
Interesse an der Klausel ebenfalls begründet sein, solange sie in Paris eine
Zweigniederlassung unterhielt. Seitdem

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diese eingegangen ist, ist ein solches Interesse kaum mehr vorhanden. Es kann
sich höchstens darum handeln, dass die Beschwerdeführerin die Aussicht für
einen für sie günstigen Prozessausgang höher einschätzt, wenn der Prozess in
Paris beurteilt wird. Eine solche Berechnung als schutzwürdiges Interesse zu
berücksichtigen, kann aber weder der Gegenpartei noch dem Gerichte zugemutet
werden. So durfte der Appellationshof des Kantons Bern wohl annehmen, dass die
Gerichtsstandsvereinbarung ihren Grund und Zweck verloren habe, nachdem der
Versicherungsnehmer in die Schweiz zurückgekehrt war und in Frankreich
überhaupt keine für den dortigen Gerichtsstand erhebliche Beziehung mehr
bestand. Und wenn in der Anrufung einer derart inhaltslos gewordenen Abrede
ein offenbarer Missbrauch eines Rechtes erblickt wurde, so liegt darin in
keiner Weise eine Rechtsverweigerung. Es mag dabei darauf hingewiesen werden,
dass die im französischen Rechte gebräuchliche, einen Gerichtsstand
begründende Election de domicile in der Regel ebenfalls als im Interesse des
Gläubigers aufgestellt angesehen wird, derart, dass ihm dadurch ein zweiter
Gerichtsstand am domicile élu neben dem ordentlichen Gerichtsstand des
Schuldners zur Verfügung gestellt wird, auf den er einseitig verzichten kann
(vgl. GARSONNET & CÉSAR-BRU, Traité de Procédure, Bd. I No. 569;
FUZIER-HERMAN, Répertoire Gén. Alph. du droit français s. v. Domicile No. 174
und f.). Schliesslich mag bemerkt werden, dass der Appellationshof des Kantons
Bern gewiss auch ohne Willkür seine Zuständigkeit durch eine ausdehnende
Anwendung von Art. 2 Ziff. 4 des Versicherungsaufsichtsgesetzes hätte
begründen können.
Demnach erkennt das Bundesgericht: Die Beschwerde wird abgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 56 I 443
Datum : 01. Januar 1930
Publiziert : 05. Dezember 1930
Quelle : Bundesgericht
Status : 56 I 443
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : Voraussetzungen, unter denen eine Gerichtsstandsklausel ohne Willkür als nicht mehr anwendbar...


Gesetzesregister
OG: 87
ZGB: 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
1    Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
2    Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.
BGE Register
42-III-81 • 56-I-443
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
versicherungsnehmer • gerichtsstandsvereinbarung • zweigniederlassung • bundesgericht • treu und glauben • materielles recht • frankreich • zins • bundesverfassung • stelle • frage • entscheid • rechtsmissbrauch • zahl • zivilgesetzbuch • versicherungspolice • beklagter • verfahren • willkürverbot • begründung des entscheids
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