S. 35 / Nr. 11 Obligationenrecht (d)

BGE 55 II 35

11. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 13. Februar 1929 i. S. L.
gegen L.

Regeste:
Art. 54 Abs. 1 OR: Ist auch bei Vertragsverletzungen durch urteilsunfähige
Personen anwendbar. Voraussetzung der Ersatzpflicht ist ein Vorhalten, das
einem Urteilsfähigen zum Verschulden anzurechnen wäre. Mitverschulden des
Vertragsgegners?

Durch öffentlich beurkundeten Vertrag vom 27. August 1926 verkaufte die
Beklagte L., gesch. von P., dem Kläger L. eine Liegenschaft in Kreuzlingen zum
Preise von 118000 Fr. Der Antritt sollte am 1. September 1926 und der
Grundbucheintrag bis spätestens 15. September 1926 stattfinden.
Am 17. September 1926 verkaufte die Beklagte die nämliche Liegenschaft an
ihren geschiedenen Ehemann von P. Der Grundbucheintrag erfolgte gleichen
Tages. Infolgedessen musste der Kläger, der das Gut nach seiner Darstellung am
1. September 1926 in Besitz genommen hatte, am 17. September 1926 wieder
abziehen. Am 1. Oktober 1926 liess ihm die Verkäuferin die Anzahlung nebst
Zins bis zu diesem Tage mit total

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10041 Fr. 65 Cts. bei der Thurg. Kantonalbank in Kreuzlingen zur Verfügung
stellen.
Mit Klage vom 12. Januar 1927 forderte L. von der Verkäuferin L. als
Schadenersatz wegen Nichterfüllung des Kaufvertrages: a) 10000 Fr. nebst 6%
Zins seit 27. August 1926; b) 31000 Fr. nebst 5% Zins seit 25. September 1926,
abzüglich 10041 Fr. 65 Cts., Wert 1. Oktober 1926.
Die Beklagte beantragte Abweisung der Klage. Sie bestritt die
Rechtsverbindlichkeit des Kaufvertrages wegen mangelnder Zustimmung ihres
geschiedenen Ehemannes von P., wegen wesentlichen Irrtums gemäss Art. 24 Ziff.
4 OR und wegen Übervorteilung im Sinne von Art. 21 OR. Eventuell bestritt sie,
dass der Kläger überhaupt geschädigt worden sei. Die Anzahlung sei ihm mit
Zins zurückerstattet worden.
Mit Entscheid vom 9. Mai 1928 sprach das Bezirksgericht Kreuzlingen dem Kläger
eine Entschädigung von 6000 Fr. nebst 5% Zins seit 25. September 1926 ZU. Mit
Urteil vom 30. Oktober 1928 hat das Obergericht des Kantons Thurgau dieselbe
auf 8871 Fr. nebst 5% Zins seit 25. September 1926 erhöht.
Die vom Kläger hiegegen ergriffene Berufung mit dem Antrag auf Gutheissung der
Klage im vollen Umfange, gestützt auf eine vorgängige Beweisergänzung, sowie
die von der Beklagten erklärte Anschlussberufung mit den Begehren um
Herabsetzung der Entschädigung auf 6000 Fr., eventuell Rückweisung der Sache
an die Vorinstanz zur Beweisannahme darüber, dass die Beklagte im Zeitpunkte
des Vertragsbruches urteilsunfähig war, hat das Bundesgericht abgewiesen.
Aus den Erwägungen:
Schon vor der Vorinstanz hat die Beklagte die Rechtsgültigkeit des von ihr am
27. August 192G mit dem Kläger abgeschlossenen Kaufvertrages nicht mehr
bestritten und auch ausdrücklich anerkannt, dass sie vertragsbrüchig

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geworden sei. Dagegen hat ihr Vertreter in der bundesgerichtlichen Verhandlung
zur Begründung des mit der Anschlussberufung gestellten eventuellen
Rückweisungsbegehrens vorgebracht, dass sie für die Folgen der Nichterfüllung
nach Art. 97 Abs. I OR nicht verantwortlich gemacht werden könne, weil sie «im
Zeitpunkte des Vertragsbruches» wegen Schwachsinns nicht urteilsfähig und
daher auch nicht schuldfähig gewesen sei. In Frage komme höchstens eine
Haftung gemäss Art. 54 Abs. I OR, wonach der Richter auch eine urteilsunfähige
Person, die Schaden verursacht hat, aus Billigkeit zu teilweisem oder
vollständigem Ersatze verurteilen könne.
Wie die Vorinstanz mit Recht annimmt, umfasst die Verweisung des Art. 99 Abs.
III OR auch den Art. 54 OR, so dass diese Bestimmung, wie bei unerlaubten
Handlungen, so auch bei Vertragsverletzungen anwendbar ist (vgl. v. Tuhr, OR
II S. 514; Becker, N. 28 zu Art. 97 OR; Egger, Komm. 2. Aufl. N. 15 zu Art. 18
ZGB). Freilich scheint Art. 99 Abs. III OR in der deutschen und italienischen
Fassung: «Bestimmungen über das Mass der Haftung bei unerlaubten Handlungen»
...«Disposizioni sulla misura della responsabilità per atti illeciti» gegen
diese Auffassung zu sprechen, da sich Art. 54 OR nicht auf den Umfang der
Haftung bezieht, sondern - als Ausnahme von Art. 41 OR - die Voraussetzungen
regelt, unter denen auch ein Urteilsunfähiger für den von ihm verursachten
Schaden ersatzpflichtig erklärt werden kann. Allein der deutsche Text und die
entsprechende wortgetreue italienische Übersetzung jener Verweisung sind zu
eng, wie anderseits der französische Wortlaut: «Les règles relatives à la
responsabilité dérivant d'actes illicites s'appliquent par analogie aux effets
de la faute contractuelle» zu weit geht, indem er auch die
Verjährungsbestimmung des Art. 60 OR zu umfassen scheint. Es ist zu
berücksichtigen, dass der Gesetzgeber im rev. OR sowohl, als im ZGB,
Verweisungen nach Möglichkeit vermieden, und wo sie unumgänglich waren, nicht
durch

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Hinweis auf andere Artikelziffern, sondern durch Angabe des zur Anwendung
kommenden Rechtsgrundsatzes vorgenommen hat; Sinn und Tragweite der Verweisung
sind daher jeweils nach den allgemeinen Auslegungsregeln zu ermitteln. Hiebei
kommt hier in Betracht, dass die Gefahr der Schädigung Dritter beim
rechtsgeschäftlichen Handeln des Urteilsunfähigen nicht minder gross ist als
beim deliktischen, in beiden Fällen also gleichermassen ein Bedürfnis nach
Schutz des Geschädigten, wie ihn Art. 54 OR bezweckt, besteht; insbesondere
gilt dies von der dem Abs. I dieser Bestimmung zugrunde liegenden
gesetzgeberischen Erwägung, dass es Fälle geben kann, wo aus
Billigkeitsrücksichten schon die rein objektive Tatsache der Schädigung für
sich allein als zureichender Grund für die Schadloshaltung des Geschädigten
erscheint. Voraussetzung der Ersatzpflicht ist dabei ein Verhalten, das einem
Urteilsfähigen zum Verschulden anzurechnen wäre; denn der Urteilsunfähige soll
nicht strenger haften als der Urteilsfähige (vgl. Oser, Komm. 2. Aufl. N. 4
und Becker, N. 2 zu Art. 54 OR; v. Tuhr, OR I S. 343; BGE 47 II 97 f.).
Hievon ausgehend erübrigt sich vorliegend ein Beweisverfahren darüber, ob die
Beklagte im Zeitpunkte des Vertragsbruches urteilsfähig war oder nicht. Auch
wenn letzteres zutreffen sollte, müsste ihre Schadenersatzpflicht nach den
gegebenen Verumständungen, speziell in Berücksichtigung ihrer Vermögenslage,
wie sie aus dem am 30. Oktober 1926 mit von P. abgeschlossenem Vergleich
erhellt, in Anwendung von Art. 54 Abs. I OR bejaht werden.
Eine Ermässigung der Ersatzberechtigung des Klägers aus dem Gesichtspunkte
eines Mitverschuldens, wie sie im erstinstanzlichen Urteil, auf dessen
Wiederherstellung die Anschlussberufung abzielt, mit der Begründung erfolgt
ist, dass L. nach den für ihn erkennbaren Verumständungen des Falles mit einer
Rückgängigmachung des Kaufvertrages habe rechnen müssen, ist unzulässig.

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Wer mit einem Dritten, dessen Urteilsfähigkeit ihm als zweifelhaft erscheint,
ein Rechtsgeschäft abschliesst, nimmt auch die Gefahr des Scheiterns desselben
auf sich und hat - vorbehältlich der Verleitung durch den andern Teil zur
irrtümlichen Annahme der Handlungsfähigkeit - den Schaden an sich zu tragen,
wenn sich nachträglich die Urteilsunfähigkeit der Gegenpartei herausstellt.
Erweisen sich dagegen seine Bedenken als haltlos, ist also ein rechtswirksamer
Vertrag zustandegekommen, so kann ihm selbstverständlich wegen der Eingebung
desselben keinerlei Verschulden zur Last gelegt werden.
Information de décision   •   DEFRITEN
Document : 55 II 35
Date : 01 janvier 1929
Publié : 13 février 1929
Source : Tribunal fédéral
Statut : 55 II 35
Domaine : ATF - Droit civil
Objet : Art. 54 Abs. 1 OR: Ist auch bei Vertragsverletzungen durch urteilsunfähige Personen anwendbar...


Répertoire des lois
CC: 18
CO: 21  24  41  54  60  97
Répertoire ATF
47-II-97 • 55-II-35
Répertoire de mots-clés
Trié par fréquence ou alphabet
défendeur • intérêt • dommage • autorité inférieure • acte illicite • tribunal fédéral • jour • décision • capacité de discernement • dommages-intérêts • autorisation ou approbation • motivation de la décision • recours joint • application ratione materiae • étendue • question • banque cantonale • principe juridique • analogie • langue
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