S. 164 / Nr. 34 Erbrecht (d)

BGE 55 II 164

34. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 4. Juli 1929 i. S. D.
gegen S. & Konsorten.

Regeste:
Enterbung.
Der von einem Sohne seinem Vater gegenüber unbegründeterweise erhobene
Vorwurf, dass Letzterer sich strafbarer Handlungen schuldig gemacht habe,
sowie die Erhebung einer ungerechtfertigten Strafanzeige stellt eine
Verletzung familienrechtlicher

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Pflichten und damit einen Enterbungsgrund gemäss Art. 477 Ziff. 2
SR 210 Code civil suisse du 10 décembre 1907
CC Art. 477 - L'héritier réservataire peut être déshérité par disposition pour cause de mort:
1  lorsqu'il a commis une infraction pénale grave contre le défunt ou l'un de ses proches;
2  lorsqu'il a gravement failli aux devoirs que la loi lui impose envers le défunt ou sa famille.
ZGB dar
(Erw. 7).
Durch eine nachträgliche Verzeihung wird eine verfügte Enterbung nicht
unwirksam, wenn der Erblasser die Enterbungsverfügung nicht formgültig
widerruft (Erw. 11).
ZGB Art. 271, 477.

Aus dem Talbestand:
Samuel D. enterbte seinen Sohn, Albert D., u. a. deshalb, weil dieser ihn
unbegründeterweise strafbarer Handlungen bezichtigt und eine Strafklage gegen
ihn eingereicht habe.
Mit der vorwürfigen Klage focht Albert D. diese Verfügung an, wobei er u. a.
geltend machte, dass die erwähnten Tatsachen keine Enterbungsgründe
darstellten und dass ausserdem der Erblasser ihm, dem Kläger, nachträglich
verziehen habe.
Das Bundesgericht hat die Klage abgewiesen.
Aus den Erwägungen:
7.- Waren somit die vom Kläger gegen den Erblasser erhobenen Vorwürfe weder
begründet noch entschuldbar, so war der Erblasser aber auch berechtigt,
gestützt hierauf den Kläger nach Massgabe von Art. 477 Ziff. 2
SR 210 Code civil suisse du 10 décembre 1907
CC Art. 477 - L'héritier réservataire peut être déshérité par disposition pour cause de mort:
1  lorsqu'il a commis une infraction pénale grave contre le défunt ou l'un de ses proches;
2  lorsqu'il a gravement failli aux devoirs que la loi lui impose envers le défunt ou sa famille.
ZGB zu
enterben, da in diesem Verhalten des Klägers zweifellos eine schwere
Verletzung familienrechtlicher Pflichten zu erblicken ist. Es braucht hier
nicht untersucht zu werden, ob - was der Kläger behauptet - unter
«familienrechtlichen Pflichten» im Sinne dieser Vorschrift nur die
gesetzlichen Familienpflichten zu verstehen seien, oder ob diese Bestimmung
auch Verstösse gegen bloss moralische in der Familiengemeinschaft begründeten
Verpflichtungen im Auge hat; denn hier liegt eine Verletzung einer
gesetzlichen Familienpflicht ohne Zweifel vor, indem der Kläger sich durch
seine grundlosen Anschuldigungen gegen die in Art. 271
SR 210 Code civil suisse du 10 décembre 1907
CC Art. 271 - 1 L'enfant acquiert le droit de cité cantonal et communal du parent dont il porte le nom.
1    L'enfant acquiert le droit de cité cantonal et communal du parent dont il porte le nom.
2    L'enfant mineur qui prend le nom de l'autre parent acquiert en lieu et place de son droit de cité cantonal et communal antérieur celui de ce parent.
ZGB den Eltern und
Kindern auferlegte gegenseitige Rücksichtspflicht in gröblichster Weise
vergangen

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hat. Dem kann nicht - wie der Kläger geltend macht - unter Hinweis auf den
Entscheid des Bundesgerichtes in Sachen L. gegen L. vom 12. Mai 1926 (BGE 52
II S. 115
) entgegenhalten werden, dass es sich hier lediglich um geschäftliche
Beziehungen zwischen dem Kläger und dem Erblasser gehandelt habe, in denen der
Erstere dem Letzteren nicht als Sohn, sondern als gleichberechtigter
Mitgesellschafter gegenübergestanden sei. Allerdings kann von einem Sohne, der
in einem derartigen Geschäftsverhältnis zu seinem Vater steht, nicht verlangt
werden, dass er die Wahrung seiner Interessen den Rücksichten auf das Eltern-
und Kindesverhältnis hintanstelle; aber darüber hinaus ist er der von ihm dem
Vater geschuldeten Rücksicht keineswegs enthoben. Und wenn schon nicht zu
umgehen ist, dass er mit seinem Vater prozessiere, so hat er umsomehr darauf
bedacht zu sein, die durch die blosse Tatsache der Prozessgegnerschaft
verletzten Gefühle nicht durch Rücksichtslosigkeiten, die der Prozesszweck gar
nicht erheischt, noch schärfer zu treffen. Der Kläger hat nun allerdings
versucht, an Hand der Entstehungsgeschichte des Art. 477
SR 210 Code civil suisse du 10 décembre 1907
CC Art. 477 - L'héritier réservataire peut être déshérité par disposition pour cause de mort:
1  lorsqu'il a commis une infraction pénale grave contre le défunt ou l'un de ses proches;
2  lorsqu'il a gravement failli aux devoirs que la loi lui impose envers le défunt ou sa famille.
ZGB darzutun, dass
der Gesetzgeber in der Erhebung einer unbegründeten Strafanzeige keine
Verletzung familienrechtlicher Pflichten habe erblicken wollen, da seinerzeit
von Scherrer in der Expertenkommission die Aufnahme einer bezüglichen
Bestimmung angeregt worden sei, welcher Antrag dann aber nicht die Zustimmung
der Mehrheit gefunden habe (vgl. Prot. der Expertenkommission S. 120). Dieses
Argument ist nicht schlüssig. Aus dem bezüglichen Protokoll ist nicht
ersichtlich, warum dieser Antrag abgelehnt worden ist. Dass dies aus dem vom
Kläger geltend gemachten Grunde geschehen, ist keineswegs selbstverständlich;
es ist eher anzunehmen, dass man einen derartigen Zusatz für unnötig erachtet
hat, weil ja solche Fälle ohne weiteres unter den allgemeinen Begriff der
schweren Verletzung familienrechtlicher Pflichten zu subsumieren sind. Und
wenn der Kläger schliesslich noch behauptet, die Voraussetzungen

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der Anwendung des Art. 477 Ziff. 2
SR 210 Code civil suisse du 10 décembre 1907
CC Art. 477 - L'héritier réservataire peut être déshérité par disposition pour cause de mort:
1  lorsqu'il a commis une infraction pénale grave contre le défunt ou l'un de ses proches;
2  lorsqu'il a gravement failli aux devoirs que la loi lui impose envers le défunt ou sa famille.
ZGB seien hier auch deshalb nicht gegeben,
weil der Erblasser die fraglichen Anschuldigungen auf alle Fälle nicht als
schwer empfunden habe, so kann auch davon keine Rede sein. Wenn eine Handlung
festgestellt ist, die an sich objektiv geeignet war, tief zu verletzen, und
wenn ein Erblasser gestützt hierauf eine Enterbung verfügt hat, so muss
angenommen werden, dass dieser auch tatsächlich tief verletzt worden sei. Es
ist daher Sache des Enterbten, den Beweis für das Gegenteil zu erbringen.
Hiefür genügt jedoch nicht schon die blosse Tatsache, dass eine Enterbung vom
Erblasser nicht spontan, nachdem ihm der Enterbungsgrund zur Kenntnis
gelangte, ausgesprochen worden ist. Die natürlichen Bande zwischen Vater und
Sohn werden den Erstern zweifellos oft bewegen, zuerst eine Wiederversöhnung
zu versuchen, bevor er diesen folgenschweren Schritt unternimmt. Daraus darf
aber nicht geschlossen werden, dass die Verletzung nicht tief gegangen sei,
wenn er schliesslich doch zur Enterbung sich entschliesst.
11.- Es bleibt somit noch der letzte Einwand des Klägers zu untersuchen, dass
die streitige Enterbung auf alle Fälle infolge Verzeihung durch den Erblasser
dahingefallen sei. Die Vorinstanzen haben dies verneint, ohne jedoch zur
grundsätzlichen Frage Stellung zu nehmen, ob überhaupt nach schweizerischem
Recht eine Verzeihung die Enterbung auszuschliessen, bezw. eine bereits
verfügte Enterbung unwirksam zu machen vermag. Das ZGB enthält hierüber keine
Bestimmung, im Gegensatz zu andern Gesetzgebungen, wo zu dieser Frage teils in
positivem teils in negativem Sinne ausdrücklich Stellung genommen worden ist
(vgl. z. B. deutsches BGB § 2337; öster. ABGB § 772). In der Literatur wird
die Meinung vertreten, dieses Schweigen habe nicht den Sinn, dass die
Verzeihung ohne Einfluss auf die Enterbung sei, ihre Berücksichtigung folge
aus der Natur der Enterbungsgründe und habe daher nicht ausdrücklich bestimmt
zu werden brauchen (vgl.

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TUOR, Kommentar zu Art. 477
SR 210 Code civil suisse du 10 décembre 1907
CC Art. 477 - L'héritier réservataire peut être déshérité par disposition pour cause de mort:
1  lorsqu'il a commis une infraction pénale grave contre le défunt ou l'un de ses proches;
2  lorsqu'il a gravement failli aux devoirs que la loi lui impose envers le défunt ou sa famille.
ZGB Note 19 S. 174 und die daselbst angeführten
Zitate). Dieser Auffassung kann nicht beigetreten werden. Testamentarische
Verfügungen können nach dem System des ZGB, abgesehen von der Vernichtung der
Urkunde mit Aufhebungsabsicht, nur wieder durch Verfügung (Widerruf oder neue
Verfügung) in der Form des Testamentes aufgehoben werden. Wenn daher der
Gesetzgeber bei der Enterbung, die nur im Wege einer testamentarischen
Verfügung ausgesprochen werden kann, von diesem Grundsatz eine Ausnahme hätte
machen und eine bloss formlose Willensäusserung als gültigen, rechtswirksamen
Aufhebungsgrund hätte erachten wollen, so hätte dies im Gesetze durch eine
positive Bestimmung ausdrücklich gesagt werden müssen. Das ist nicht geschehen
und zwar, wie die Entstehungsgeschichte des Gesetzes zeigt, absichtlich nicht,
weil man der Auffassung war, dass der Widerruf einer derartigen Verfügung dem
Testator im Gesetze ja leicht genug gemacht sei, während die Führung des
Nachweises einer solchen Verzeihung «zu den umständlichsten und schwierigsten
gehören» würde (vgl. das Votum Huber in der Expertenkommission, Prot. S. 126;
Erläuterungen zum Vorentwurf Bd. I S. 391). Diese im Interesse der Schaffung
einer klaren Rechtslage getroffene Lösung konnte vom Gesetzgeber umso eher
verantwortet werden, als ja nach allgemeinen psychologischen Erfahrungen ein
Testator, der den Willen hat, eine Enterbung rückgängig zu machen, die
Abänderung des Testamentes, d. h. den ausdrücklichen Widerruf der Enterbung
bezw. die Vernichtung der betr. Verfügung, in der Regel als imperatives
Bedürfnis empfinden wird. Und wenn dies ausnahmsweise einmal nicht zutrifft
und infolgedessen eine Enterbung entgegen dem Willen des Testators bestehen
bleibt, so liegt hierin, angesichts der vom Enterbten begangenen Verfehlung,
die auch durch den Enterbungsverzicht an sich nicht aus der Welt geschafft
werden kann, nicht eine derart schreiende Ungerechtigkeit, dass der Eintritt
einer solchen

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Rechtsfolge um jeden Preis hätte verhindert werden sollen...
Information de décision   •   DEFRITEN
Document : 55 II 164
Date : 01 janvier 1929
Publié : 04 juillet 1929
Source : Tribunal fédéral
Statut : 55 II 164
Domaine : ATF - Droit civil
Objet : Enterbung.Der von einem Sohne seinem Vater gegenüber unbegründeterweise erhobene Vorwurf, dass...


Répertoire des lois
CC: 271 
SR 210 Code civil suisse du 10 décembre 1907
CC Art. 271 - 1 L'enfant acquiert le droit de cité cantonal et communal du parent dont il porte le nom.
1    L'enfant acquiert le droit de cité cantonal et communal du parent dont il porte le nom.
2    L'enfant mineur qui prend le nom de l'autre parent acquiert en lieu et place de son droit de cité cantonal et communal antérieur celui de ce parent.
477
SR 210 Code civil suisse du 10 décembre 1907
CC Art. 477 - L'héritier réservataire peut être déshérité par disposition pour cause de mort:
1  lorsqu'il a commis une infraction pénale grave contre le défunt ou l'un de ses proches;
2  lorsqu'il a gravement failli aux devoirs que la loi lui impose envers le défunt ou sa famille.
Répertoire ATF
52-II-113 • 55-II-164
Répertoire de mots-clés
Trié par fréquence ou alphabet
de cujus • père • hameau • devoirs de famille • commission d'experts • destruction • dénonciation pénale • infraction • tribunal fédéral • testament • volonté • question • décision • effet • accès • terme général • doute • littérature • droit des successions • connaissance
... Les montrer tous