S. 385 / Nr. 52 Niederlassungsfreiheit (d)

BGE 54 I 385

52. Urteil vom 21. Dezember 1928 i.S. Helbling gegen Regierungsrat Zürich.


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Regeste:
Entzug der Niederlassung bei wiederholter gerichtlicher Bestrafung wegen
schwerer Vergehen (Art. 45 Abs. 3
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 45 Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes - 1 Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
1    Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
2    Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben; er holt ihre Stellungnahmen ein, wenn ihre Interessen betroffen sind.
BV). Zurückgreifen auf weit zurückliegende
Verurteilungen, wenn der Verurteilte trotzdem seither im Kanton geduldet
worden war? Gerichtliche Bestrafung wegen Ungehorsams gegen amtliche
Verfügungen (§ 80 des zürcherischen StGB), die dem Bestraften ffür den Fall
der weiteren Übertretung einer gewerbepolizeilichen Vorschrift angedroht
worden war. Kein schweres Vergehen.

Der Rekurrent, ein St. Galler, ist schon seit Jahren im Kanton Zürich
niedergelassen. Er hat sechs gerichtliche Bestrafungen erlitten, nämlich:
1. Am 9. Juli 1908, vom Bezirksgericht Meilen, wegen fortgesetzten einfachen
Betrugs, Fr. 100.- Busse.
2. Am 24. September 1913, vom Bezirksgericht Uznach wegen fortgesetzten
Betrugs, 6 Monate Arbeitshaus.
3. Am 9. Februar 1915, vom Obergericht Zürich, wegen Verbreitung unzüchtiger
Schriften, 4 Tage Gefängnis und Fr. 30.- Busse.
4. Am 3. Juli 1915, vom Bezirksgericht Zürich, wegen Verleumdung und
wiederholter Beschimpfung, 2 Tage Gefängnis und Fr. 50.- Busse.
5. Am 16. Mai 1924, vom Bezirksgericht Winterthur, wegen Ungehorsams, 4 Tage
Gefängnis und Fr. 50.- Busse.
6. Am 16. März 1928, vom Bezirksgericht Winterthur, wegen Ungehorsams, 1 Woche
Gefängnis und Fr. 100.- Busse.
Die meisten dieser Urteile ergingen unbestrittenermassen während seiner
Niederlassung im Kanton Zürich.

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Ausserdem hat das Statthalteramt Winterthur den Rekurrenten am 29. Dezember
1917, 6. Juni 1923 und 16. Juni 1926 wegen gewerbsmässiger Heiratsvermittlung
ohne behördliche Bewilligung mit Bussen von 25, 60 und 200 Fr. belegt. Im
Anschluss an das letzte Urteil des Bezirksgerichts Winterthur vom 16. März
1928 entzog der Stadtrat von Winterthur am 25. Mai 1928 dem Rekurrenten die
Niederlassung gestützt auf Art. 45 Abs. 3
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 45 Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes - 1 Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
1    Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
2    Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben; er holt ihre Stellungnahmen ein, wenn ihre Interessen betroffen sind.
BV, wiederholte Bestrafung wegen
schwerer Vergehen. Ein Rekurs hiegegen wurde vom Bezirksrat Winterthur und vom
zürcherischen Regierungsrat abgewiesen, vom letzteren am 4. Oktober 1928.
Gegen den Entscheid des Regierungsrates hat Helbling den staatsrechtlichen
Rekurs ergriffen. Er bestreitet die Zulässigkeit der Ausweisung.
Der Regierungsrat von Zürich hat die Abweisung des Rekurses beantragt.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Es frägt sich, ob dem Rekurrenten die Niederlassung entzogen werden durfte
wegen wiederholter gerichtlicher Bestrafung für schwere Vergehen. Nach der
Praxis genügen zwei solcher Vorstrafen, von denen wenigstens die eine seit der
Niederlassung erfolgt sein muss. Die Vorstrafe 2 des Rekurrenten vom 24.
September 1913: 6 Monate Arbeitshaus wegen fortgesetzten Betruges bezieht sich
ohne Frage auf ein schweres Delikt im Sinne von Art. 45 Abs. 3
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 45 Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes - 1 Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
1    Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
2    Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben; er holt ihre Stellungnahmen ein, wenn ihre Interessen betroffen sind.
BV. Bei der
Vorstrafe 4 vom 3. Juli 1915: Verleumdung und wiederholte Beschimpfung ist es
zweifellos nicht der Fall. Was die Vorstrafen 1 und 3 aus den Jahren 1908 und
1915 anbetrifft, so lässt sich ohne eine nähere Kenntnis der Tatbestände, wie
sie die Administrativakten nicht vermitteln, die Frage nicht entscheiden. Sie
kann aber auch offen bleiben, da die Verurteilungen zu weit zurückliegen, als
dass darauf heute ein Niederlassungsentzug noch gestützt werden könnte,
nachdem die zürcherischen Behörden trotzdem den Rekurrenten bis jetzt im
Kanton geduldet haben

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(BGE 53 I 202 E 33. Ebensowenig können die verschiedenen über den Rekurrenten
verhängten Polizeibussen - wegen Übertretung der kantonalen Verordnung betr.
die gewerbsmässige Heiratsvermittlung - eine Rolle spielen, da es sich dabei
nicht um gerichtliche Bestrafungen handelt.
Auch die beiden Urteile des Bezirksgerichts Winterthur vom 16. Mai 1924 und
16. März 1928 gehen auf die Nichtbeachtung der gleichen Verordnung durch den
Rekurrenten zurück. Der Rekurrent hat die behördliche Bewilligung zur
gewerbsmässigen Heiratsvermittlung nicht erhalten. Trotzdem hat er sich immer
wieder mit solcher Vermittlung befasst. Nachdem die polizeiliche Büssung
fruchtlos geblieben war, ist ihm für den Fall weiterer Übertretung der
erwähnten Verordnung gemäss § 328 Abs. 2 der zürcherischen StPO angedroht
worden, dass er dem Gerichte wegen Ungehorsams überwiesen werde (§ 80 StGB).
So ist es zu den Vorstrafen 5 und 6 gekommen.
§ 328 Abs. 2 StPO lautet: «Überdies sind die Verwaltungsbehörden befugt, in
Vollziehung von Gesetzen und Verordnungen im einzelnen Falle Verfügungen unter
Androhung der Überweisung an den Strafrichter wegen Ungehorsams im Falle des
Zuwiderhandelns zu erlassen, wenn eine ausgesprochene Polizeibusse wirkungslos
geblieben und nicht Gefängnisstrafe vorgesehen ist. Die die Androhung der
Überweisung enthaltende Verfügung verliert ihre Wirkung nach zwei Jahren, wenn
ihr nicht zuwidergehandelt wurde, sonst seit dem Datum der letzten Strafe.»
§ 80 StGB lautet: «Ungehorsam gegen amtliche, von kompetenter Stelle erlassene
Verfügungen wird, wenn in der Verfügung für den Fall des Ungehorsams die
Überweisung an die Gerichte angedroht war, mit Gefängnis bis zu einem Monat,
womit Geldbusse bis zu 200 Fr. zu verbinden ist, bestraft. In geringfügigen
Fällen kann auch nur auf Geldbusse erkannt werden.»
Bei der Frage, ob man es hier mit schweren Delikten

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im Sinne von Art. 45 Abs. 3
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 45 Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes - 1 Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
1    Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
2    Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben; er holt ihre Stellungnahmen ein, wenn ihre Interessen betroffen sind.
BV zu tun habe, ist zu beachten, dass es sich im
Grunde um eine Polizeiübertretung im Rückfall handelt, dass die Androhung der
Ungehorsamsstrafe erfolgte, um dem Polizeiverbot mehr Gewicht zu geben, und so
ein Mittel des indirekten Polizeizwanges ist (BGE 53 I 73 ff.). Gewiss
dokumentiert der Ungehorsam hier eine Auflehnung gegen die öffentliche
Ordnung. Aber mit Rücksicht auf den erwähnten Zusammenhang mit dem blossen
Polizeistrafrecht kann doch nicht von einer so ernstlichen Gefährdung des
öffentlichen Wohls die Rede sein, dass vom Standpunkt des Art. 45
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 45 Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes - 1 Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
1    Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
2    Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben; er holt ihre Stellungnahmen ein, wenn ihre Interessen betroffen sind.
BV aus dem
Kanton Zürich nicht zugemutet werden dürfte, den Rekurrenten weiterhin auf
seinem Gebiet zu dulden, dies auch nicht im Hinblick auf die Wiederholungen,
da ja dadurch der Charakter des Delikts, was seine Beziehung zum öffentlichen
Wohl anlangt, grundsätzlich nicht geändert wird.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Entscheid des
Regierungsrates des Kantons Zürich vom 4. Oktober 1928 aufgehoben.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 54 I 385
Datum : 01. Januar 1927
Publiziert : 21. Dezember 1928
Quelle : Bundesgericht
Status : 54 I 385
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : Entzug der Niederlassung bei wiederholter gerichtlicher Bestrafung wegen schwerer Vergehen (Art. 45...


Gesetzesregister
BV: 45
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 45 Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes - 1 Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
1    Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
2    Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben; er holt ihre Stellungnahmen ein, wenn ihre Interessen betroffen sind.
BGE Register
53-I-199 • 53-I-71 • 54-I-385
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
busse • regierungsrat • frage • tag • heiratsvermittlung • betrug • monat • beschimpfung • verurteilung • bundesgericht • entscheid • kenntnis • niederlassungsfreiheit • niederlassungsbewilligung • verurteilter • gewicht • vermittler • wiederholung • charakter • stelle
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