198 Familienrecht. N° 35.

35. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 29. Juni 1927
i. S. Konkursmasse Stäheliu gegen Rüdlinger.

Unentgeltliche Verwandtenversorgung. Vormundbestellung.

1. Die mündliche Verpflichtung zur unentgeltlichen Pflege und Erziehung
einer. verwandten Waise ist rechtsverbindlich, wenn sie in der Meinung
übernommen wurde, es handle sich dabei um die Erfüllung einer sittlichen
Pflicht, selbst wenn eine solche sittliche Pflicht nicht allgemein
anerkannt werden sollte. Art. 11 , 239 Abs. 3 und 243 OR ; Art. 328
ZGB. Erw. 1.

2. Dauer und Aufhebung dieser Verpflichtung. Erw. 2.

3. Die Vormundbestellung ist gültig, auch wenn dem Gewählten keine
Ernennungsurkunde zugestellt worden ist, sofern er nur Kenntnis von
seiner Ernennung hatte. Unterlassung seiner Bestätigung. Art. 387 , 388 ,
389 , 415 und 442 ZGB. Erw. 3.

Aus dem Tatbestand :

Josef Stähelin verpflichtete sich im November 1918 vor der
Vormundschaftsbehörde Uetikon mündlich, seine elternlose Nichte
unentgeltlich wie ein eigenes Kind zur Pflege und Erziehung in seine
Familie aufzunehmen. Als Vormund des Mädchens nahm er aus dem Nachlass
ihrer Eltern und an Pensionsbeträgen des Kindes 4084 Fr. 37 Cts. in
Empfang und verbrauchte das Geld für sich selbst. Als er im März 1926
in Konkurs geriet, meldete das Kind, das. bis dahin von ihm erzogen und
unterhalten wurde, eine Forderung in diesem Betrage an und verlangte
deren Kollozierung in der zweiten Klasse. Die dahingehende Klage wurde
gutgeheissen und die Gegenansprüche der Masse für Erziehung und Unterhalt
des Kindes abgewiesen (bis auf einen Betrag von 158 Fr. 15 cm., die
Stähelin, ohne hierzu verpflichtet gewesen zu sein, zur Deckung von
Nachlasschulden der Eltern des Kindes bezahlt hatte). Was Stähelin an
Nahrung und Kleidung, sowie an Schulund Krankengeld für das Kind

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geleistet hatte, ging nicht über das Mass dessen hinaus, was von einem
Manne in guten Verhältnissen, in denen sich Stähelin bis zu seinem
Konkurs befand, erwartet werden kann, wenn er sich verpflichtet hat,
ein Kind unentgeltlich wie ein eigenes zu unterhalten und zu erziehen. si

Aus den Erwägungen : _ l. Die Verpflichtung, die Stähelin nach der
verbind--

lichen Feststellung der Vorinstanz zur unentgeltlichen Versorgung der
Klägerin übernommen hatte, war gii]-

. tig, obwohl sie nur mündlich abgegeben worden war.

Gemäss Art. 11 OR bedürfen die Verträge zu ihrer Gültigkeit nur dann
einer besonderen Form, wenn das Gesetz eine solche vorschreibt. Zu
Unrecht glaubt die Beklagte, in der Verpflichtung zur unentgeltlichen
Versorgung der Klägerin habe ein Schenkungsversprechen gelegen, das
gemäss Art. 243 OR zu seiner Gültigkeit der schriftlichen Form bedurft
hätte. Das Rechtsveré hältnis unterstand nicht den Bestimmungen über
die Schenkung. Zwar kann nicht davon die Rede sein, dass Stähelin mit
der unentgeltlichen Übernahme des Kindes eine ihm gemäss Art. 328 ZGB
Yobliegende gesetzliche Verwandtenunterstützungspflicht erfüllt habe ;
eine solche besteht in der Seitenlinie nur gegenüber Geschwistern, nicht
gegenüber einer Nichte. Auch wird es entgegen der Vorinstanz nach den
in der Rechtsgemeinschaft herrschenden sittlichen Anschauungen kaum als
sittliche Pflicht gelten, einen Verwandten unentgeltlich unter-halten
zu müssen, solange er eigenes Vermögen besitzt. Allein dies ist zum
Ausschluss des Schenkungscharakters eines Vertrages im Sinne des Abs. 3
des Art. 239 OR nicht erforderlich. Es genügt, wenn der Zuwendende, was
bei Stähelin offenbar der Fall gewesen ist, in der Meinung handelte, er
erfülle eine sittliche Pflicht, auch wenn eine solche nicht allgemein
als bestehend anerkannt werden sollte. In einem solchen Falle fehlt
dem Zuwendenden

200 Familienrecht. N° 35.

der Schenkungswille, und von einer Schenkung kann dann bei seiner
Verpflichtung zu unentgeltlichen Leistungen nicht mehr die Rede sein. Die
Vereinbarung unentgeltlicher Versorgung der Klägerin stand somit unter
der allgemeinen Bestimmung der Formlosigkeit der Verträge, und es genügte
für ihre Gültigkeit die bloss mündliche Abmachung zwischen stähelin und
der Vormundschaftsbehörde.

2. Wenn nun auch nicht angenommen werden will, Stähelin sei auf
Grund des geschlossenen Versorgungsvertrages gehalten gewesen,
die Klägerin bis zu ihrer Mündigkeit oder wenigstens bis zu ihrer
Erwerbsfähigkeit unentgeltlich zu unterhalten und zu erziehen, so folgt
aus der Rechtsverbindlichkeit seiner Verpflichtung zur unentgeltlichen
Versorgung des Kindes doch das eine, dass er die Unentgeltlichkeit
nicht einseitig aufheben konnte. Es bedurfte dazu des Einverständnisses
beider VertragSparteien. Wenn er die unentgeltliche Versorgung in eine
entgeltliche umwandeln wollte, hätte er dies der Vormundschaftsbehörde,
mit der er den Versorgungsvertrag abgeschlossen hatte, mitteilen
sollen. Diese hätte dann die geeigneten Massnahmen getroffen, sei es, dass
die Entgeltlichkeit durch Fest-setzung eines Kostgeldes und dergleichen
näher bestimmt oder das Kind anderswo untergebracht werden wäre, was
nahe gelegen hätte, dasich ja auch eine Tante väterlicherseits um die
Aufnahme des Kindes beworben hatte. Das hat Stähelin unterlassen. Es
blieb daher in seinem Rechtsverhältnis zur Klägerin bei der vereinbarten
Unentgeltlichkeit während der ganzen Pflegezeit. Die 4084 Fr. 37
Cts., die er'für die Klägerin in Empfang genommen, hat er ihr somit
grundsätzlich zurückzugeben, ohne dass ihm aus seinen Unterhaltsund
Erziehungsleistungen, soweit sie die ordentlichen Kosten eines Kindes
gleichen Standes nicht überschreiten, eine Gegenforderung zustände (wobei
es infolge Wegfalls der Anschlussberufung dahingestellt bleiben muss,
ob die Vor-

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instanz in zutreffender Weise den Anspruch der Klägerin auf Zinsvergütung
aus Billigkeitsgründen abgewiesen hat)...

3. Der Vorinstanz ist auch zuzustimmen, wenn sie die beklagte Konkursmasse
verhalten hat, die Forderung in der zweiten, nicht in der fünften
Klasse zu kollozieren. Nach ihrer verbindlichen Feststellung ist der
Gemeinschuldner Stähelin der Klägerin als Vormund bestellt worden, und er
hat wiederholt, namentlich beim Empfang der in Frage stehenden Gelder,
ausdrücklich als Vormund des Kindes gehandelt (wie er sich auch noch in
seiner Einvernahme durch das Konkursamt Neutoggenburg als Vormund der
Klägerin bezeichnete). Es ist daher unverständlich, Wieso die Beklagte
sich darauf berufen kann, dem Gemeinschuldner sei seine Ernennung zum
Vormund nicht mitgeteilt worden ; er hatte nach diesen Feststellungen
Kenntnis von seiner Ernennung, und das bezweckt die Bestimmung
des Art. 387 ZGB, Wonach dem zum Vormund Gewählten seine Ernennung
unverzüglich schriftlich mitzuteilen ist. Diese Ordnungsvorschrift
dient nur dazu, die Ablehnungsfrist des Art. 388 ZGB für den Emannten
in Gang zu bringen und ihn gemäss Art. 389 ZGB trotz seiner allfälligen
Ablehnung zur vorläufigen Führung der Vormundschaft zu verpflichten,
bis er des Amtes enthoben wird. Übrigens hat die Vorinstanz der Erklärung
der Vormundschaftsbehörde von Uetikon, sie stelle die Ernennungsurkunden
immer ordnungsgemäss (wenn auch ohne Empfangssehein, was empfehlenswert
wäre) zu, und es stehe ausser Zweifel, dass die Zustellung auch an den
Gemeinschuldner erfolgt sei, Glauben geschenkt, und diese Beweiswürdigung
ist für das Bundesgericht verbindlich. Sollte auch, wie die Beklagte in
der Berufung weiter geltend macht, Stähelin in seinem vormundschaftlichen
Amte entgegen der Vorschrift des Art. 415 ZGB nicht mehr bestätigt
worden sein, so ist auch dies für die Frage der im Streite stehenden
KolloZierung be-

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deutungslos ; auch wenn das Amt eines Vormundes nach Ablauf der
Amtsdauer gemäss Art. 442 ZGB endigt (immerhin mit der Befugnis der
Vormundschaftsbehörde, ihn gemäss Art. 415 ZGB wieder zu bestätigen), so
ist Stähelin nach Art. 444 ZGB doch zur Fortführung der Vormundschaft bis
zur Übernahme des Amtes durch einen Nachfolger und damit zur-sorgfältigen
Verwaltung des Mündelvermögens im Sinne des Art. 413 ZGB verpflichtet
gewesen. Dem Gemeinschuldner ist somit das im Streite liegende Vermögen
kraft Vormundschaft anvertraut worden; die Forderung, die der Klägerin
aus dieser Übernahme zusteht, ist daher gemäss Art. 219 SchKG inder
zweiten Klasse zu kollozieren.

II. ERBRECHT

DRO IT DES SUCCESSIONS

36. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilahteilung vom 19. Mai 1927
i. S. Erbengemeinschaft Miller-Jiggy gegen Wyder & Cons.

Die Vorschriften des Art. 626 ff . ZGB über die A u s g l e i c h u n
g s p f l i c h t finden auf Testamentserben keine Anwendung, wenn sie
nicht vom Erblasser vorbehalten werden sind (Erw. 2). '

Die vom Erblasser als Teilungsvorsehrift im Sinne von Art. 614 ZGB
erlassene Verfügung, dass ein Erbe bei der Teilung in erster Linie auf
das ihm seinerzeit vom Erblasser gewährte Darlehen angewiesen werde,
wird infolge eines vom Erblasser nachträglich ausgesprochenen

ss Erlasses dieser Forderung gegenstandslos und kann, auch wenn die
Verfügung im Testament stehen gelassen wurde,

nicht in eine Ausgleiehungspflicht umgedeutet werden (Erw. 2).

Ein Erbe, der sich eine ihm dem Erblasser gegenüber zustehende
Darlehensschuld auf seinen Erbteil anrechnen zu lassen hat, muss sich
auch'die für dieses Darlehen bis z u rn M om e n t e d e r T e i l u n
g laufenden Zinsen anrechnen lassen (Erw. 3).

Erbrecht. N° 36. 203

Eine infolge ungenügender Gläubigerbe-

. z e i c h n u n g nichtige Betreibung hat keine
verjàhrungs-unterbrechende Wirkung im Sinne von Art. 135 Ziff. 1 OR
(Erw. 4).

Eine von dem gemäss Art. 602 Abs. 3 ZGB a m t l i c h b estellten
Erbschaftsvertreter für die Erhsehaft eingeleitete Betreibung ist
rechtsgenügend, wenn dieser Vertreter, ohne gleichzeitige Angabe der
einzelnen Erben, im Zahlungsbefehl aufgeführt ist (Erw. 4).

Aus dem Tatbestand :

A. Die Kläger und die Beklagten sind Testamentserben
bezw. Rechtsnachfolger von Testamentserhen der am 23. November 1916 in
Bönigen verstorbenen Fräulein Magdalena Müller.

Diese hatte seinerzeit ihrem Schwager, dem Vater des Beklagten Hermann
Wyder, ein Darlehen gegeben, für das die Schuldpflicht im Betrage von
62,000 Fr. _ in der Folge auf letztem übergegangen ist und wofür dieser
am 15. September 1905 eine Schuldanerkennung ausgestellt hat.

Ferner hatte Magdalena Müller ihrem Bruder, Eduard Müller-Jäggy (dem
Rechtsvorgänger der sieben Kläger), bezw. der Kommanditgesellschaft
Müller-Jäggy & Co., deren Teilhaber dieser war und deren Schulden er in
der Folge übernommen, in den Jahren 1901-1907 ebenfalls Barleistungen
bis zum Betrage von 52,500 Fr. gemacht.

Infolgedessen verfügte sie in ihrem am 26. Dezember 1911 errichteten
öffentlichen Testament, in welchem sie 11. a. sowohl ihren Bruder Eduard
Müller-Jäggy als auch ihren Neffen, den Beklagten Hermann Wyder, je
zu einem Viertel als Erben eingesetzt hatte: diese Einsetzung erfolge
mit der Bestimmung, dass beide bei der Teilung des Nachlasses in erster
Linie auf die ihnen der Testatorin gegenüber zustehenden Verpflichtungen
angewiesen _ werden.

B. Mit der vorliegenden Klage bezw. Widerklage verlangen nun die. Parteien
gegenseitig die Anrechnung der vorgenannten Beträge nebst Zinsen auf
ihren Erh-
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 53 II 198
Date : 29. Juni 1927
Published : 31. Dezember 1927
Source : Bundesgericht
Status : 53 II 198
Subject area : BGE - Zivilrecht
Subject : 198 Familienrecht. N° 35. 35. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom


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OR: 11  135  239  243
SchKG: 219
ZGB: 328  387  388  389  413  415  442  444  602  614  626
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