Urteilskopf

140 II 409

36. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Migrationsamt des Kantons Thurgau (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) 2C_913/2014 vom 4. November 2014

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Sachverhalt ab Seite 410

BGE 140 II 409 S. 410

A. A. (10. Mai 1968; Staatsangehöriger der Demokratischen Republik Kongo) reiste 1996 und 1998 illegal in die Schweiz ein und stellte jeweils ein Asylgesuch. Das erste wurde abgewiesen; auf das zweite trat das damalige Bundesamt für Flüchtlinge nicht ein. Vor Ablauf der Ausreisefrist heiratete A. eine Schweizer Bürgerin (16. April 1999), weshalb er in der Folge eine Aufenthaltsbewilligung erhielt. Die Ehe wurde 2007 geschieden.
B. Am 20. April 2012 lehnte das Migrationsamt des Kantons Thurgau (nachfolgend: Migrationsamt) die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung ab; die kantonalen Rechtsmittel und auch die Beschwerde vor Bundesgericht (Verfahren 2C_613/2013) dagegen waren alle erfolglos. Am 27. Februar 2014 setzte das Migrationsamt A. eine Ausreisefrist bis 31. März 2014; diese liess er ungenutzt verstreichen. In der Folge verfügte das Migrationsamt eine Ausschaffungshaft von drei Monaten ab 24. April 2014, 16.00 Uhr, was das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau am 28. April 2014 bestätigte. Am 23. Mai 2014 trat das Bundesamt für Migration (nachfolgend: BFM) auf ein Gesuch von A. um vorläufige Aufnahme und um Aussetzung des Vollzugs der Wegweisung nicht ein. Da eine (zwangsweise) Zuführung von kongolesischen Staatsangehörigen bei der Botschaft in Bern damals und zur Zeit nicht möglich war bzw. ist und A. bei der Organisation eines Termins bei der Botschaft zwecks Beschaffung notwendiger Papiere sich nicht kooperativ zeigte, verfügte das Migrationsamt am 14. Juli 2014 zunächst eine Durchsetzungshaft von vorläufig einem Monat ab 14. Juli 2014, 17.01 Uhr, danach am 4. August 2014 eine Verlängerung um weitere zwei Monate ab 12. August, 17.01 Uhr, was das Verwaltungsgericht am 16. Juli bzw. 6. August 2014 bestätigte. Am 1. September 2014 stellte A. beim BFM ein Asylgesuch. In der Folge (12. September 2014) wies dieses gestützt auf Art. 97
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 97 Bekanntgabe von Personendaten an den Heimat- oder Herkunftsstaat - 1 Personendaten von Asylsuchenden, anerkannten Flüchtlingen und Schutzbedürftigen dürfen dem Heimat- oder Herkunftsstaat nicht bekannt gegeben werden, wenn dadurch die betroffene Person oder ihre Angehörigen gefährdet würden. Über ein Asylgesuch dürfen keine Angaben gemacht werden.300
AsylG (SR 142.31) das Migrationsamt an, den Vollzug der Wegweisung, insbesondere die Beschaffung der Reisepapiere, zu unterlassen. Am 18. September 2014 beantragte A. beim Verwaltungsgericht Haftentlassung, da aufgrund der Weisung des BFM vom 12. September 2014 der Vollzug nicht mehr möglich sei. Das Haftentlassungsgesuch wies das Verwaltungsgericht am 26. September 2014 ab.
C. Vor Bundesgericht beantragt A. mit Beschwerde in öffentlich-rechtlicher Angelegenheit, den Entscheid des Verwaltungsgerichts
BGE 140 II 409 S. 411

des Kantons Thurgau vom 26. September 2014 aufzuheben und die Sache im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. Eventualiter stellt er mit subsidiärer Verfassungsbeschwerde dieselben Anträge. (....) (Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Hat eine Person ihre Pflicht zur Ausreise aus der Schweiz innerhalb der ihr angesetzten Frist nicht erfüllt und kann die rechtskräftige Weg- oder Ausweisung aufgrund ihres persönlichen Verhaltens nicht vollzogen werden, so kann sie, um der Ausreisepflicht Nachachtung zu verschaffen, in Haft genommen werden, sofern die Anordnung der Ausschaffungshaft nicht zulässig ist und eine andere mildere Massnahme nicht zum Ziel führt (Art. 78 Abs. 1
SR 142.20 Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG) - Ausländer- und Integrationsgesetz
AIG Art. 78 Durchsetzungshaft - 1 Hat eine Person ihre Pflicht zur Ausreise aus der Schweiz innerhalb der ihr angesetzten Frist nicht erfüllt und kann die rechtskräftige Weg- oder Ausweisung oder die rechtskräftige Landesverweisung nach Artikel 66a oder 66abis StGB227 oder Artikel 49a oder 49abis MStG228 aufgrund ihres persönlichen Verhaltens nicht vollzogen werden, so kann sie, um der Ausreisepflicht Nachachtung zu verschaffen, in Haft genommen werden, sofern die Anordnung der Ausschaffungshaft nicht zulässig ist und eine andere, mildere Massnahme nicht zum Ziel führt.229
AuG [SR 142.20]).
Zweck der Durchsetzungshaft ist es, die ausreisepflichtige Person in jenen Fällen zu einer Verhaltensänderung zu bewegen, in denen nach Ablauf der Ausreisefrist der Vollzug der rechtskräftig gegen sie angeordneten Weg- oder Ausweisung - trotz entsprechender behördlicher Bemühungen - ohne ihre Kooperation nicht (mehr) möglich erscheint. Der damit verbundene Freiheitsentzug stützt sich auf Art. 5 Ziff. 1 lit. f
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 5 Recht auf Freiheit und Sicherheit - (1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
a  rechtmässiger Freiheitsentzug nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht;
b  rechtmässige Festnahme oder rechtmässiger Freiheitsentzug wegen Nichtbefolgung einer rechtmässigen gerichtlichen Anordnung oder zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung;
c  rechtmässige Festnahme oder rechtmässiger Freiheitsentzug zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde, wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, oder wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern;
d  rechtmässiger Freiheitsentzug bei Minderjährigen zum Zweck überwachter Erziehung oder zur Vorführung vor die zuständige Behörde;
e  rechtmässiger Freiheitsentzug mit dem Ziel, eine Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern;
f  rechtmässige Festnahme oder rechtmässiger Freiheitsentzug zur Verhinderung der unerlaubten Einreise sowie bei Personen, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist.
EMRK (Haft zur Sicherung eines schwebenden Ausweisungsverfahrens) und dient in diesem Rahmen der Erzwingung einer durch das Gesetz vorgeschriebenen Verpflichtung (Art. 5 Ziff. 1 lit. b
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 5 Recht auf Freiheit und Sicherheit - (1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
a  rechtmässiger Freiheitsentzug nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht;
b  rechtmässige Festnahme oder rechtmässiger Freiheitsentzug wegen Nichtbefolgung einer rechtmässigen gerichtlichen Anordnung oder zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung;
c  rechtmässige Festnahme oder rechtmässiger Freiheitsentzug zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde, wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, oder wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern;
d  rechtmässiger Freiheitsentzug bei Minderjährigen zum Zweck überwachter Erziehung oder zur Vorführung vor die zuständige Behörde;
e  rechtmässiger Freiheitsentzug mit dem Ziel, eine Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern;
f  rechtmässige Festnahme oder rechtmässiger Freiheitsentzug zur Verhinderung der unerlaubten Einreise sowie bei Personen, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist.
EMRK). Die Durchsetzungshaft bildet das letzte Mittel, wenn und soweit keine andere Massnahme (mehr) zum Ziel führt, den illegal anwesenden Ausländer auch gegen seinen Willen in seine Heimat verbringen zu können. Sie darf - zusammen mit der bereits verbüssten Ausschaffungs- bzw. Vorbereitungshaft - maximal 18 Monate dauern (Art. 78 Abs. 2
SR 142.20 Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG) - Ausländer- und Integrationsgesetz
AIG Art. 78 Durchsetzungshaft - 1 Hat eine Person ihre Pflicht zur Ausreise aus der Schweiz innerhalb der ihr angesetzten Frist nicht erfüllt und kann die rechtskräftige Weg- oder Ausweisung oder die rechtskräftige Landesverweisung nach Artikel 66a oder 66abis StGB227 oder Artikel 49a oder 49abis MStG228 aufgrund ihres persönlichen Verhaltens nicht vollzogen werden, so kann sie, um der Ausreisepflicht Nachachtung zu verschaffen, in Haft genommen werden, sofern die Anordnung der Ausschaffungshaft nicht zulässig ist und eine andere, mildere Massnahme nicht zum Ziel führt.229
i.V.m. Art. 79
SR 142.20 Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG) - Ausländer- und Integrationsgesetz
AIG Art. 79 Maximale Haftdauer - 1 Die Vorbereitungs- und die Ausschaffungshaft nach den Artikeln 75-77 sowie die Durchsetzungshaft nach Artikel 78 dürfen zusammen die maximale Haftdauer von sechs Monaten nicht überschreiten.
AuG), muss aber in jedem Fall verhältnismässig sein. Innerhalb dieser Höchstdauer ist jeweils aufgrund der Umstände im Einzelfall zu prüfen, ob die ausländerrechtliche Festhaltung insgesamt (noch) geeignet bzw. erforderlich erscheint und nicht gegen das Übermassverbot verstösst (vgl. BGE 135 II 105 E. 2.2.1 S. 107; BGE 134 II 201 E. 2 S. 204 ff.; BGE 134 I 92 E. 2.3 S. 96 ff.; Urteil 2C_1089/2012 vom 22. November 2012 E. 2.2 m.w.H.).
2.2 Nach Art. 78 Abs. 6
SR 142.20 Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG) - Ausländer- und Integrationsgesetz
AIG Art. 78 Durchsetzungshaft - 1 Hat eine Person ihre Pflicht zur Ausreise aus der Schweiz innerhalb der ihr angesetzten Frist nicht erfüllt und kann die rechtskräftige Weg- oder Ausweisung oder die rechtskräftige Landesverweisung nach Artikel 66a oder 66abis StGB227 oder Artikel 49a oder 49abis MStG228 aufgrund ihres persönlichen Verhaltens nicht vollzogen werden, so kann sie, um der Ausreisepflicht Nachachtung zu verschaffen, in Haft genommen werden, sofern die Anordnung der Ausschaffungshaft nicht zulässig ist und eine andere, mildere Massnahme nicht zum Ziel führt.229
AuG wird die Haft beendet, wenn eine selbständige und pflichtgemässe Ausreise nicht möglich ist, obwohl die
BGE 140 II 409 S. 412

betroffene Person den behördlich vorgegebenen Mitwirkungspflichten nachgekommen ist (lit. a), oder die Schweiz weisungsgemäss verlassen (lit. b), die Ausschaffungshaft angeordnet (lit. c) oder einem Haftentlassungsgesuch entsprochen wird (lit. d). Der Beschwerdeführer hat ein Haftentlassungsgesuch eingereicht. Für die Vorbereitungs- und die Ausschaffungshaft sieht Art. 80 Abs. 5
SR 142.20 Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG) - Ausländer- und Integrationsgesetz
AIG Art. 80 Haftanordnung und Haftüberprüfung - 1 Die Haft wird von den Behörden des Kantons angeordnet, welcher für den Vollzug der Weg- oder Ausweisung zuständig ist. Für Personen, welche sich in den Zentren des Bundes aufhalten, ist für die Anordnung der Vorbereitungshaft (Art. 75) der Standortkanton zuständig.233
AuG vor, dass Gesuche um Haftentlassungen unter Beachtung bestimmter Fristen eingereicht werden können. Haftanordnung und Haftprüfung für die Durchsetzungshaft wird nicht in Art. 80
SR 142.20 Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG) - Ausländer- und Integrationsgesetz
AIG Art. 80 Haftanordnung und Haftüberprüfung - 1 Die Haft wird von den Behörden des Kantons angeordnet, welcher für den Vollzug der Weg- oder Ausweisung zuständig ist. Für Personen, welche sich in den Zentren des Bundes aufhalten, ist für die Anordnung der Vorbereitungshaft (Art. 75) der Standortkanton zuständig.233
, sondern in Art. 78
SR 142.20 Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG) - Ausländer- und Integrationsgesetz
AIG Art. 78 Durchsetzungshaft - 1 Hat eine Person ihre Pflicht zur Ausreise aus der Schweiz innerhalb der ihr angesetzten Frist nicht erfüllt und kann die rechtskräftige Weg- oder Ausweisung oder die rechtskräftige Landesverweisung nach Artikel 66a oder 66abis StGB227 oder Artikel 49a oder 49abis MStG228 aufgrund ihres persönlichen Verhaltens nicht vollzogen werden, so kann sie, um der Ausreisepflicht Nachachtung zu verschaffen, in Haft genommen werden, sofern die Anordnung der Ausschaffungshaft nicht zulässig ist und eine andere, mildere Massnahme nicht zum Ziel führt.229
AuG geregelt. Dieser Artikel nennt die Modalitäten von Haftentlassungsgesuchen nicht, geht aber davon aus, dass solche Gesuche zulässig sind, denn nach Art. 78 Abs. 6
SR 142.20 Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG) - Ausländer- und Integrationsgesetz
AIG Art. 78 Durchsetzungshaft - 1 Hat eine Person ihre Pflicht zur Ausreise aus der Schweiz innerhalb der ihr angesetzten Frist nicht erfüllt und kann die rechtskräftige Weg- oder Ausweisung oder die rechtskräftige Landesverweisung nach Artikel 66a oder 66abis StGB227 oder Artikel 49a oder 49abis MStG228 aufgrund ihres persönlichen Verhaltens nicht vollzogen werden, so kann sie, um der Ausreisepflicht Nachachtung zu verschaffen, in Haft genommen werden, sofern die Anordnung der Ausschaffungshaft nicht zulässig ist und eine andere, mildere Massnahme nicht zum Ziel führt.229
AuG wird die Haft beendet, wenn einem Haftentlassungsgesuch entsprochen wird. Haftentlassungsgesuche bei Durchsetzungshaft sind insofern nicht fristgebunden. Diese sich aus dem Wortlaut ergebende Auslegung macht auch teleologisch Sinn: Da mit der positiven Änderung des persönlichen Verhaltens der Zweck der Durchsetzungshaft erfüllt wird, muss im Falle der Untätigkeit der Administrativbehörde sich eine betroffene Person an den Richter wenden können (vgl. BGE 124 II 1 E. 3a S. 5 f.; ZÜND, in: Migrationsrecht, Spescha/Thür/Zünd/Bolzli [Hrsg.], 3. Aufl. 2012, N. 8 i.f. zu Art. 80
SR 142.20 Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG) - Ausländer- und Integrationsgesetz
AIG Art. 80 Haftanordnung und Haftüberprüfung - 1 Die Haft wird von den Behörden des Kantons angeordnet, welcher für den Vollzug der Weg- oder Ausweisung zuständig ist. Für Personen, welche sich in den Zentren des Bundes aufhalten, ist für die Anordnung der Vorbereitungshaft (Art. 75) der Standortkanton zuständig.233
AuG; grundlegend ANDREAS ZÜND, Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht, Verfahrensfragen und Rechtsschutz, AJP 1995 S. 854 ff., 863 f.; siehe auch THOMAS HUGI YAR, § 10 Zwangsmassnahmen, in: Ausländerrecht, Uebersax/Rudin/Hugi Yar/Geiser [Hrsg.], 2. Aufl. 2009, S. 519 Spalte "Durchsetzungshaft").
2.3

2.3.1 Das richterliche Prüfprogramm bei einem Entlassungsgesuch ist mit jenem bei der Haftanordnung bzw. -verlängerung identisch (HUGI YAR, a.a.O., Rz. 10.33). Insofern ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen der Durchsetzungshaft weiterhin gegeben sind.
2.3.2 Mit der Durchsetzungshaft soll nach Art. 78 Abs. 1
SR 142.20 Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG) - Ausländer- und Integrationsgesetz
AIG Art. 78 Durchsetzungshaft - 1 Hat eine Person ihre Pflicht zur Ausreise aus der Schweiz innerhalb der ihr angesetzten Frist nicht erfüllt und kann die rechtskräftige Weg- oder Ausweisung oder die rechtskräftige Landesverweisung nach Artikel 66a oder 66abis StGB227 oder Artikel 49a oder 49abis MStG228 aufgrund ihres persönlichen Verhaltens nicht vollzogen werden, so kann sie, um der Ausreisepflicht Nachachtung zu verschaffen, in Haft genommen werden, sofern die Anordnung der Ausschaffungshaft nicht zulässig ist und eine andere, mildere Massnahme nicht zum Ziel führt.229
AuG "der Ausreisepflicht Nachachtung [...] verschaff[t werden]". Der Beschwerdeführer hat ein Asylgesuch gestellt; damit entfällt nach Art. 42
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 42 Aufenthalt während des Asylverfahrens - Wer ein Asylgesuch in der Schweiz gestellt hat, darf sich bis zum Abschluss des Verfahrens in der Schweiz aufhalten.
AsylG die Verpflichtung zur Ausreise; der Ausländer ist berechtigt, bis zum Abschluss des Verfahrens in der Schweiz zu verbleiben. Damit aber kann und darf der Zweck der Durchsetzungshaft, bei der Ausreise mitzuwirken, nicht mehr zwangsweise verfolgt werden. Das ergibt sich auch aus der Anordnung, welche das Bundesamt an die
BGE 140 II 409 S. 413

Adresse des kantonalen Migrationsamtes gerichtet hat. Wohl ist der Beschwerdeführer auch nach Stellung des Asylgesuchs nicht verpflichtet, in der Schweiz zu bleiben, sondern es ist ihm unbenommen, freiwillig auszureisen. Dass er diese Möglichkeit hat, ändert aber - entgegen der Auffassung der Vorinstanz - nichts daran, dass es nicht zulässig ist, Zwangsmittel einzusetzen, um ihn zur Zusammenarbeit mit einem potentiellen Verfolgerstaat und gestützt darauf zur Ausreise zu bewegen.
2.3.3 Art. 75 Abs. 1 lit. f
SR 142.20 Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG) - Ausländer- und Integrationsgesetz
AIG Art. 75 Vorbereitungshaft - 1 Um die Durchführung eines Weg- oder Ausweisungsverfahrens oder eines strafrechtlichen Verfahrens, in dem eine Landesverweisung nach Artikel 66a oder 66abis StGB203 oder Artikel 49a oder 49abis MStG204 droht, sicherzustellen, kann die zuständige kantonale Behörde eine Person, die keine Kurzaufenthalts-, Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung besitzt, während der Vorbereitung des Entscheides über ihre Aufenthaltsberechtigung für höchstens sechs Monate in Haft nehmen, wenn die Person:205
AuG sieht vor, dass wer sich rechtswidrig in der Schweiz aufhält, ein Asylgesuch einreicht und damit offensichtlich bezweckt, den drohenden Vollzug der Wegweisung zu vermeiden, in Vorbereitungshaft genommen werden kann. Es wäre deshalb insoweit naheliegend, anstelle der Durchsetzungshaft die Vorbereitungshaft anzuordnen, soweit deren Voraussetzungen erfüllt sind. Nun hat allerdings das Bundesgericht bei der Ausschaffungshaft deren Fortsetzung für einen Ausländer, der sich darin befindet und ein Asylgesuch stellt, für zulässig erachtet, wenn mit dem Abschluss des Asylverfahrens und dem Vollzug der Wegweisung alsbald gerechnet werden kann (vgl. BGE 125 II 377 E. 2b S. 380; Urteile 2C_403/2008 vom 29. Mai 2008 E. 2; 2C_270/2008 vom 11. April 2008 E. 2.2; 2C_204/2008 vom 10. März 2008 E. 2.2). Es fragt sich, ob sich diese Rechtsprechung auch auf die Durchsetzungshaft übertragen lässt.
2.3.4 Dies ist nicht möglich. Die Ausschaffungshaft ist zulässig, wenn ein erstinstanzlicher Wegweisungsentscheid ergangen ist; dieser muss weder in Rechtskraft erwachsen noch vollstreckbar sein. Es genügt, dass mit der Haft der Vollzug sichergestellt werden kann, sobald die Wegweisung in Rechtskraft erwachsen wird. Stellt der in Haft befindliche Ausländer ein Asylgesuch, so hindert dies den Vollzug der Wegweisung bis zum Abschluss dieses Verfahrens, lässt aber nicht notwendig die Haftvoraussetzungen der Ausschaffungshaft dahinfallen. Bei der Durchsetzungshaft verhält es sich - wie dargelegt - anders: Stellt der Ausländer während der Durchsetzungshaft ein Asylgesuch, fällt der Haftzweck der Durchsetzungshaft, die zudem nur angeordnet werden kann, wenn eine rechtskräftige und vollstreckbare Wegweisungsentscheidung vorliegt und der Ausländer die Möglichkeit gehabt hat, selbständig auszureisen, gestützt auf den Umstand, dass während des Asylverfahrens eine Kontaktnahme mit dem potentiellen Verfolgerstaat grundsätzlich nicht mehr verlangt werden kann (Art. 42
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 42 Aufenthalt während des Asylverfahrens - Wer ein Asylgesuch in der Schweiz gestellt hat, darf sich bis zum Abschluss des Verfahrens in der Schweiz aufhalten.
und 97
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 97 Bekanntgabe von Personendaten an den Heimat- oder Herkunftsstaat - 1 Personendaten von Asylsuchenden, anerkannten Flüchtlingen und Schutzbedürftigen dürfen dem Heimat- oder Herkunftsstaat nicht bekannt gegeben werden, wenn dadurch die betroffene Person oder ihre Angehörigen gefährdet würden. Über ein Asylgesuch dürfen keine Angaben gemacht werden.300
AsylG), dahin.
BGE 140 II 409 S. 414

2.3.5 Die Aufrechterhaltung der Durchsetzungshaft ist demnach nicht mehr zulässig. Dies ergibt sich im Übrigen auch daraus, dass die Vorinstanz nicht damit rechnet, dass das Asylgesuch alsbald behandelt sein wird, geht sie doch von einigen wenigen, höchstens ungefähr acht Monaten aus, welche das Asylverfahren beanspruchen wird. Zu prüfen jedoch ist, ob - wie das Migrationsamt an der Haftrichterverhandlung eventualiter beantragt hat - die Haftvoraussetzungen der Vorbereitungshaft gegeben sind. Es rechtfertigt sich nicht, dass das Bundesgericht darüber selber entscheidet. Vielmehr ist die Angelegenheit an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese hat dabei die Frist von 96 Stunden (Art. 80 Abs. 2
SR 142.20 Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG) - Ausländer- und Integrationsgesetz
AIG Art. 80 Haftanordnung und Haftüberprüfung - 1 Die Haft wird von den Behörden des Kantons angeordnet, welcher für den Vollzug der Weg- oder Ausweisung zuständig ist. Für Personen, welche sich in den Zentren des Bundes aufhalten, ist für die Anordnung der Vorbereitungshaft (Art. 75) der Standortkanton zuständig.233
AuG) und die weiteren Verfahrensanforderungen, insbesondere die mündliche Verhandlung, wo der Beschwerdeführer auch seine in der Beschwerde und in seiner späteren Eingabe vorgebrachten Argumente einbringen kann, zu beachten. Die Frist beginnt mit Zustellung des bundesgerichtlichen Entscheids bei der Vorinstanz.
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Document : 140 II 409
Date : 04. November 2014
Published : 30. Januar 2015
Source : Bundesgericht
Status : 140 II 409
Subject area : BGE - Verwaltungsrecht und internationales öffentliches Recht
Subject : Art. 75 Abs. 1 lit. f, Art. 76, 78 und 80 AuG; Art. 42 und 97 AsylG; Unzulässigkeit der Fortführung einer Durchsetzungshaft,


Legislation register
AsylG: 42  97
AuG: 75  76  78  79  80
EMRK: 5
BGE-register
124-II-1 • 125-II-377 • 134-I-92 • 134-II-201 • 135-II-105 • 140-II-409
Weitere Urteile ab 2000
2C_1089/2012 • 2C_204/2008 • 2C_270/2008 • 2C_403/2008 • 2C_613/2013 • 2C_913/2014
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[noenglish] • deportational custody • departure • month • lower instance • federal court • duration • preparatory custody • thurgau • time limit • asylum procedure • watch • [noenglish] • appeal concerning affairs under public law • sojourn grant • meadow • behavior • person concerned • within • adult • sanction • directive • asylum law • decision • [noenglish] • prolongation • ensuring • cantonal remedies • swiss citizenship • planned goal • purpose • intention • 1995 • appointment • marriage • statement of affairs • preliminary acceptance • deportation • milder measure • cooperation obligation • travel documents • democratic republic of the congo • address
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AJP
1995 S.854