Urteilskopf

138 I 107

8. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Presse TV AG gegen Y. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) 2C_880/2010 vom 18. November 2011

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Regeste (fr):

Regesto (it):


Sachverhalt ab Seite 108

BGE 138 I 107 S. 108

Im Vorfeld der Abstimmung betreffend die Änderung des Bundesgesetzes über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (BVG) vom 7. März 2010 (Anpassung des Mindestumwandlungssatzes) strahlte Presse TV am 7. Februar 2010 in der Sendung "Cash TV" unter der Rubrik "Cash Invest" ein rund vierminütiges Gespräch zum Thema aus. Der Moderator befragte in diesem Rahmen den Geschäftsleiter von "Swisscanto Vorsorge" zu verschiedenen Aspekten der Rentenberechnung. Y. und zwanzig Mitunterzeichner gelangten hiergegen an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI), wobei sie geltend machten, der Beitrag sei einseitig und unausgewogen gewesen. Dem interviewten Repräsentanten eines Unternehmens ("Swisscanto"), welches ein wirtschaftliches Interesse an der Annahme der Vorlage gehabt habe, sei während des gesamten Beitrags Gelegenheit gegeben worden, seinen partikulären Standpunkt darzulegen. Mit Entscheid vom 20. August 2010 hiess die UBI die Beschwerde gut und stellte fest, dass der am 7. Februar 2010 in der Sendung "Cash TV" ausgestrahlte Beitrag zur eidgenössischen Vorlage über die Anpassung des Mindestumwandlungssatzes in der beruflichen Vorsorge das Sachgerechtigkeitsgebot verletzt habe. Das Bundesgericht heisst die von der Presse TV AG hiergegen eingereichte Beschwerde gut, hebt den angefochtenen Entscheid auf und stellt fest, dass der umstrittene Beitrag Art. 4 Abs. 2
SR 784.40 Bundesgesetz vom 24. März 2006 über Radio und Fernsehen (RTVG)
RTVG Art. 4 Mindestanforderungen an den Programminhalt - 1 Alle Sendungen eines Radio- oder Fernsehprogramms müssen die Grundrechte beachten. Die Sendungen haben insbesondere die Menschenwürde zu achten, dürfen weder diskriminierend sein noch zu Rassenhass beitragen noch die öffentliche Sittlichkeit gefährden noch Gewalt verherrlichen oder verharmlosen.
1    Alle Sendungen eines Radio- oder Fernsehprogramms müssen die Grundrechte beachten. Die Sendungen haben insbesondere die Menschenwürde zu achten, dürfen weder diskriminierend sein noch zu Rassenhass beitragen noch die öffentliche Sittlichkeit gefährden noch Gewalt verherrlichen oder verharmlosen.
2    Redaktionelle Sendungen mit Informationsgehalt müssen Tatsachen und Ereignisse sachgerecht darstellen, so dass sich das Publikum eine eigene Meinung bilden kann. Ansichten und Kommentare müssen als solche erkennbar sein.
3    Die Sendungen dürfen die innere oder äussere Sicherheit des Bundes oder der Kantone, ihre verfassungsmässige Ordnung oder die Wahrnehmung völkerrechtlicher Verpflichtungen der Schweiz nicht gefährden.
4    Konzessionierte Programme müssen in der Gesamtheit ihrer redaktionellen Sendungen die Vielfalt der Ereignisse und Ansichten angemessen zum Ausdruck bringen. Wird ein Versorgungsgebiet durch eine hinreichende Anzahl Programme abgedeckt, so kann die Konzessionsbehörde einen oder mehrere Veranstalter in der Konzession vom Vielfaltsgebot entbinden.
des Bundesgesetzes vom 24. März 2006 über Radio und Fernsehen (RTVG; SR 784.40) nicht verletzt hat. (Zusammenfassung)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Nach Art. 17 Abs. 1
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 17 Medienfreiheit - 1 Die Freiheit von Presse, Radio und Fernsehen sowie anderer Formen der öffentlichen fernmeldetechnischen Verbreitung von Darbietungen und Informationen ist gewährleistet.
1    Die Freiheit von Presse, Radio und Fernsehen sowie anderer Formen der öffentlichen fernmeldetechnischen Verbreitung von Darbietungen und Informationen ist gewährleistet.
2    Zensur ist verboten.
3    Das Redaktionsgeheimnis ist gewährleistet.
BV ist die Freiheit von Presse, Radio und Fernsehen sowie anderer Formen der öffentlichen fernmeldetechnischen Verbreitung von Darbietungen und Informationen gewährleistet. Ziel der Verfassungsordnung ist ein möglichst offenes und freiheitliches Mediensystem (BGE 136 I 167 E. 2.1; BGE 135 II 296 E. 4.2.1, BGE 135 II 224 E. 2.2). In diesem Rahmen sollen redaktionelle Sendungen mit Informationsgehalt von Radio- und Fernsehveranstaltern Tatsachen und Ereignisse sachgerecht wiedergeben, sodass sich das Publikum eine eigene Meinung bilden kann; zudem haben Ansichten und Kommentare als solche erkennbar zu sein (Art. 4 Abs. 2
SR 784.40 Bundesgesetz vom 24. März 2006 über Radio und Fernsehen (RTVG)
RTVG Art. 4 Mindestanforderungen an den Programminhalt - 1 Alle Sendungen eines Radio- oder Fernsehprogramms müssen die Grundrechte beachten. Die Sendungen haben insbesondere die Menschenwürde zu achten, dürfen weder diskriminierend sein noch zu Rassenhass beitragen noch die öffentliche Sittlichkeit gefährden noch Gewalt verherrlichen oder verharmlosen.
1    Alle Sendungen eines Radio- oder Fernsehprogramms müssen die Grundrechte beachten. Die Sendungen haben insbesondere die Menschenwürde zu achten, dürfen weder diskriminierend sein noch zu Rassenhass beitragen noch die öffentliche Sittlichkeit gefährden noch Gewalt verherrlichen oder verharmlosen.
2    Redaktionelle Sendungen mit Informationsgehalt müssen Tatsachen und Ereignisse sachgerecht darstellen, so dass sich das Publikum eine eigene Meinung bilden kann. Ansichten und Kommentare müssen als solche erkennbar sein.
3    Die Sendungen dürfen die innere oder äussere Sicherheit des Bundes oder der Kantone, ihre verfassungsmässige Ordnung oder die Wahrnehmung völkerrechtlicher Verpflichtungen der Schweiz nicht gefährden.
4    Konzessionierte Programme müssen in der Gesamtheit ihrer redaktionellen Sendungen die Vielfalt der Ereignisse und Ansichten angemessen zum Ausdruck bringen. Wird ein Versorgungsgebiet durch eine hinreichende Anzahl Programme abgedeckt, so kann die Konzessionsbehörde einen oder mehrere Veranstalter in der Konzession vom Vielfaltsgebot entbinden.
RTVG; BGE 134 I 2 E. 3.3.1). Das Sachgerechtigkeitsgebot ist verletzt, wenn ein
BGE 138 I 107 S. 109

Beitrag in Missachtung der journalistischen Sorgfaltspflichten den Zuschauer in dem Sinn manipuliert, dass er sich kein persönliches Bild mehr machen kann (BGE 132 II 290 E. 2.1 mit Hinweisen). Der Umfang der bei der Aufarbeitung des Beitrags erforderlichen Sorgfalt hängt von den Umständen, insbesondere vom Charakter und den Eigenheiten des Sendegefässes sowie dem jeweiligen Vorwissen des Publikums ab (BGE 134 I 2 E. 3.3.1; BGE 132 II 290 E. 2.1 S. 292). Das Gebot der Sachgerechtigkeit verlangt nicht, dass alle Standpunkte qualitativ und quantitativ genau gleichwertig dargestellt werden; entscheidend erscheint, dass der Zuschauer erkennen kann, dass und inwiefern eine Aussage umstritten ist, und er in seiner Meinungsbildung nicht manipuliert wird. Die konzessionierten Programme müssen in der Gesamtheit ihrer redaktionellen Sendungen zudem die Vielfalt der Ereignisse und Ansichten angemessen zum Ausdruck bringen (Art. 4 Abs. 4
SR 784.40 Bundesgesetz vom 24. März 2006 über Radio und Fernsehen (RTVG)
RTVG Art. 4 Mindestanforderungen an den Programminhalt - 1 Alle Sendungen eines Radio- oder Fernsehprogramms müssen die Grundrechte beachten. Die Sendungen haben insbesondere die Menschenwürde zu achten, dürfen weder diskriminierend sein noch zu Rassenhass beitragen noch die öffentliche Sittlichkeit gefährden noch Gewalt verherrlichen oder verharmlosen.
1    Alle Sendungen eines Radio- oder Fernsehprogramms müssen die Grundrechte beachten. Die Sendungen haben insbesondere die Menschenwürde zu achten, dürfen weder diskriminierend sein noch zu Rassenhass beitragen noch die öffentliche Sittlichkeit gefährden noch Gewalt verherrlichen oder verharmlosen.
2    Redaktionelle Sendungen mit Informationsgehalt müssen Tatsachen und Ereignisse sachgerecht darstellen, so dass sich das Publikum eine eigene Meinung bilden kann. Ansichten und Kommentare müssen als solche erkennbar sein.
3    Die Sendungen dürfen die innere oder äussere Sicherheit des Bundes oder der Kantone, ihre verfassungsmässige Ordnung oder die Wahrnehmung völkerrechtlicher Verpflichtungen der Schweiz nicht gefährden.
4    Konzessionierte Programme müssen in der Gesamtheit ihrer redaktionellen Sendungen die Vielfalt der Ereignisse und Ansichten angemessen zum Ausdruck bringen. Wird ein Versorgungsgebiet durch eine hinreichende Anzahl Programme abgedeckt, so kann die Konzessionsbehörde einen oder mehrere Veranstalter in der Konzession vom Vielfaltsgebot entbinden.
RTVG). Das entsprechende Vielfaltsgebot ist weitgehend programmatischer Natur (vgl. BGE 136 I 167 E. 2.1 und 3.2.1; BGE 134 I 2 E. 3.3.2). Einzig im Vorfeld von Wahlen und Abstimmungen müssen konzessionierte Veranstalter dem Gebot - wegen den ihnen zur Sicherung des Meinungspluralismus übertragenen besonderen Aufgaben - bereits im Rahmen einzelner Sendungen und Beiträge Rechnung tragen (BGE 136 I 167 E. 3.2.1; zur Tragweite von Art. 10
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 10 Freiheit der Meinungsäusserung - (1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäusserung. Dieses Recht schliesst die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Dieser Artikel hindert die Staaten nicht, für Radio-, Fernseh- oder Kinounternehmen eine Genehmigung vorzuschreiben.
EMRK bei einem radio- und fernsehrechtlichen Konzessionssystem: Urteil des EGMR Manole et al. gegen Moldawien vom 17. September 2009 [Nr. 13936/02] §§ 101,107).
2.2 Die aus dem Vielfaltsgebot abgeleiteten Anforderungen gelten indessen nicht für bloss meldepflichtige Veranstalter wie die Beschwerdeführerin: Diese sind von Gesetzes wegen ausdrücklich bloss an das Sachgerechtigkeitsgebot (Art. 4 Abs. 2
SR 784.40 Bundesgesetz vom 24. März 2006 über Radio und Fernsehen (RTVG)
RTVG Art. 4 Mindestanforderungen an den Programminhalt - 1 Alle Sendungen eines Radio- oder Fernsehprogramms müssen die Grundrechte beachten. Die Sendungen haben insbesondere die Menschenwürde zu achten, dürfen weder diskriminierend sein noch zu Rassenhass beitragen noch die öffentliche Sittlichkeit gefährden noch Gewalt verherrlichen oder verharmlosen.
1    Alle Sendungen eines Radio- oder Fernsehprogramms müssen die Grundrechte beachten. Die Sendungen haben insbesondere die Menschenwürde zu achten, dürfen weder diskriminierend sein noch zu Rassenhass beitragen noch die öffentliche Sittlichkeit gefährden noch Gewalt verherrlichen oder verharmlosen.
2    Redaktionelle Sendungen mit Informationsgehalt müssen Tatsachen und Ereignisse sachgerecht darstellen, so dass sich das Publikum eine eigene Meinung bilden kann. Ansichten und Kommentare müssen als solche erkennbar sein.
3    Die Sendungen dürfen die innere oder äussere Sicherheit des Bundes oder der Kantone, ihre verfassungsmässige Ordnung oder die Wahrnehmung völkerrechtlicher Verpflichtungen der Schweiz nicht gefährden.
4    Konzessionierte Programme müssen in der Gesamtheit ihrer redaktionellen Sendungen die Vielfalt der Ereignisse und Ansichten angemessen zum Ausdruck bringen. Wird ein Versorgungsgebiet durch eine hinreichende Anzahl Programme abgedeckt, so kann die Konzessionsbehörde einen oder mehrere Veranstalter in der Konzession vom Vielfaltsgebot entbinden.
RTVG) und nicht (auch) an das Vielfaltsgebot und an die in der Rechtsprechung daraus abgeleiteten Grundsätze gebunden (Art. 4 Abs. 4
SR 784.40 Bundesgesetz vom 24. März 2006 über Radio und Fernsehen (RTVG)
RTVG Art. 4 Mindestanforderungen an den Programminhalt - 1 Alle Sendungen eines Radio- oder Fernsehprogramms müssen die Grundrechte beachten. Die Sendungen haben insbesondere die Menschenwürde zu achten, dürfen weder diskriminierend sein noch zu Rassenhass beitragen noch die öffentliche Sittlichkeit gefährden noch Gewalt verherrlichen oder verharmlosen.
1    Alle Sendungen eines Radio- oder Fernsehprogramms müssen die Grundrechte beachten. Die Sendungen haben insbesondere die Menschenwürde zu achten, dürfen weder diskriminierend sein noch zu Rassenhass beitragen noch die öffentliche Sittlichkeit gefährden noch Gewalt verherrlichen oder verharmlosen.
2    Redaktionelle Sendungen mit Informationsgehalt müssen Tatsachen und Ereignisse sachgerecht darstellen, so dass sich das Publikum eine eigene Meinung bilden kann. Ansichten und Kommentare müssen als solche erkennbar sein.
3    Die Sendungen dürfen die innere oder äussere Sicherheit des Bundes oder der Kantone, ihre verfassungsmässige Ordnung oder die Wahrnehmung völkerrechtlicher Verpflichtungen der Schweiz nicht gefährden.
4    Konzessionierte Programme müssen in der Gesamtheit ihrer redaktionellen Sendungen die Vielfalt der Ereignisse und Ansichten angemessen zum Ausdruck bringen. Wird ein Versorgungsgebiet durch eine hinreichende Anzahl Programme abgedeckt, so kann die Konzessionsbehörde einen oder mehrere Veranstalter in der Konzession vom Vielfaltsgebot entbinden.
RTVG). Die Ausgewogenheit einzelner Wahl- und Abstimmungssendungen oder entsprechender Beiträge ist bei ihnen ausschliesslich auf der Basis des Sachgerechtigkeitsgebots und der dazu entwickelten Kriterien zu beurteilen. Der Gesetzgeber ist bezüglich der meldepflichtigen Veranstalter davon ausgegangen, dass ein hinreichender Aussenwettbewerb besteht, der eine zusätzliche Anbindung an das Vielfaltsgebot erübrigt (vgl. die Botschaft vom 18. Dezember 2002 zur Totalrevision des Bundesgesetzes über Radio und Fernsehen, BBl 2003 1569 ff., dort S. 1669). Meldepflichtige Veranstalter sind in ihrer Programmgestaltung unter diesem Gesichtswinkel freier als konzessionierte; sie

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dürfen auch einseitig Stellung nehmen, jedoch nicht manipulativ berichten oder politische Propaganda betreiben (vgl. BARRELET/WERLY, Droit de la communication, 2. Aufl. 2011, N. 732). Ihre Beiträge müssen sachgerecht bleiben und die Meinungsbildung des Publikums ermöglichen, wobei die Beurteilungskriterien weniger streng sind als die in diesem Zusammenhang aus dem Vielfaltsgebot abgeleiteten Anforderungen für die Veranstalter von Service-public-Programmen. Im Rahmen der Anwendung des Sachgerechtigkeitsgebots ist zwar auch der Empfehlung Nr. R (99) 15 vom 9. September 1999 des Ministerkomitees des Europarats über die Massnahmen betreffend die Berichterstattung der Medien über Wahlkampagnen Rechnung zu tragen, wonach die Mitgliedstaaten Vorkehren treffen, "in Anwendung derer die öffentlichen und privaten Rundfunkveranstalter während der Wahlperioden in ihren Informations- und Aktualitätsprogrammen, einschliesslich der Diskussionssendungen wie Interviews oder Debatten, besonders fair, ausgewogen und unparteiisch" vorzugehen haben. Doch muss umgekehrt auch berücksichtigt werden, dass nach Art. 10
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 10 Freiheit der Meinungsäusserung - (1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäusserung. Dieses Recht schliesst die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Dieser Artikel hindert die Staaten nicht, für Radio-, Fernseh- oder Kinounternehmen eine Genehmigung vorzuschreiben.
EMRK besonders strenge Anforderungen an eine allfällige Beschränkung der Programmfreiheit der privaten Veranstalter im Bereich des politischen Diskurses und bei Fragen von allgemeinem Interesse gelten (vgl. die Urteile des EGMR Hachette Filipacchi Presse gegen Frankreich vom 5. März 2009 [Nr. 13353/05]§ 45, und TV Vest AS gegen Norwegen vom 11. Dezember 2008 [Nr. 21132/05] § 59). Das Bedürfnis, die Medienfreiheit zu beschränken, muss hier jeweils in besonders begründeter Weise ausgewiesen erscheinen (vgl. etwa das Urteil des EGMR Nur Radyo Ve Televizyon Yayinciligi A.S. gegen Türkei vom 12. Oktober 2010 [Nr. 42284/05]§ 47 f. mit zahlreichen Hinweisen).

3.

3.1 Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze erscheint die Beurteilung der UBI im vorliegenden Fall als zu streng und damit bundesrechtswidrig: Der umstrittene Beitrag wurde rund dreissig Tage vor der Abstimmung im Rahmen eines Wirtschaftsmagazins ausgestrahlt. Richtig ist, dass er in einem direkten Bezug zur eidgenössischen Vorlage vom 7. März 2010 stand und insofern als sensibel gelten musste. Die Transparenz blieb diesbezüglich jedoch gewahrt. Der Moderator kündigte den beanstandeten Beitrag mit den Worten an, dass das Schweizer Volk über eine "heikle Vorlage" zu befinden habe; dazu nehme im Folgenden ein Pensionskassenexperte Stellung. Das anschliessende Gespräch mit dem Geschäftsleiter "Swisscanto
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Vorsorge" fand unter der Rubrik "Cash Invest" statt. Beim Zielpublikum konnte von wirtschaftlich-politisch interessierten Zuschauer ausgegangen werden, die sich nicht - dreissig Tage vor der Abstimmung - ausschliesslich oder wesentlich anhand dieses vierminütigen Beitrags ihre definitive Meinung zur komplexen Frage der Reduktion des Umwandlungssatzes bildeten, ohne hierfür auf weitere vertiefende Informationen zurückzugreifen, zumal die Vor- und Nachteile der Vorlage zu diesem Zeitpunkt auch in den Printmedien und den Programmen der Veranstalter mit Leistungsauftrag zusehends breiter diskutiert wurden.

3.2 Der Moderator erkundigte sich bei seinem Gesprächspartner, warum die Pensionskassen die Vorlage befürworten würden. Die weiteren Fragen betrafen die zukünftige Erwartung der Renditen auf Kapitalanlagen, den Vorwurf der Gewerkschaften bezüglich der mangelnden Transparenz bei den Pensionskassen und einen möglichen Systemwechsel bei der Berechnung der Renten. Der Moderator wies bereits im Zusammenhang mit der ersten Frage darauf hin, dass "die Pensionskassen wie der Befragte" für ein "Ja" zur Abstimmungsvorlage seien, womit dem Publikum klar wurde, dass hier ein Wirtschaftsvertreter den Standpunkt seiner Branche kundtat. Das Gespräch fand in sachlichem Ton und ohne Emotionen statt, auch konfrontierte der Moderator sein Gegenüber zumindest mit einem Teil der Gegenargumente (bisherige Erträge, mangelnde Transparenz der Kassen), womit indirekt klar wurde, dass seitens der Gewerkschaften Einwände bestanden, welche die Branche - in Übereinstimmung mit dem Parlament und dem Bundesrat - nicht überzeugten. Die Problematik der Anpassung des Mindestumwandlungssatzes hätte zwar anders und journalistisch allenfalls auch besser aufgearbeitet werden können, für den Zuschauer blieb indessen hinreichend klar, dass unterschiedliche Standpunkte bestanden, wobei die Gegenposition der Gewerkschaften in Frageform zumindest teilweise aufgenommen wurde. Der konkrete Beitrag war vertretbar ausgestaltet, wurde relativ früh vor dem Abstimmungstermin ausgestrahlt und richtete sich an ein avisiertes Publikum. Er widersprach deshalb dem Sachgerechtigkeitsgebot nicht.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 138 I 107
Datum : 18. November 2011
Publiziert : 15. Juni 2012
Quelle : Bundesgericht
Status : 138 I 107
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : Art. 10 EMRK; Art. 17 und 93 Abs. 3 BV; Art. 4 Abs. 2 und 4 RTVG; rundfunkrechtliche Konformität eines Beitrags von Presse


Gesetzesregister
BV: 17 
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 17 Medienfreiheit - 1 Die Freiheit von Presse, Radio und Fernsehen sowie anderer Formen der öffentlichen fernmeldetechnischen Verbreitung von Darbietungen und Informationen ist gewährleistet.
1    Die Freiheit von Presse, Radio und Fernsehen sowie anderer Formen der öffentlichen fernmeldetechnischen Verbreitung von Darbietungen und Informationen ist gewährleistet.
2    Zensur ist verboten.
3    Das Redaktionsgeheimnis ist gewährleistet.
93
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 93 Radio und Fernsehen - 1 Die Gesetzgebung über Radio und Fernsehen sowie über andere Formen der öffentlichen fernmeldetechnischen Verbreitung von Darbietungen und Informationen ist Sache des Bundes.
1    Die Gesetzgebung über Radio und Fernsehen sowie über andere Formen der öffentlichen fernmeldetechnischen Verbreitung von Darbietungen und Informationen ist Sache des Bundes.
2    Radio und Fernsehen tragen zur Bildung und kulturellen Entfaltung, zur freien Meinungsbildung und zur Unterhaltung bei. Sie berücksichtigen die Besonderheiten des Landes und die Bedürfnisse der Kantone. Sie stellen die Ereignisse sachgerecht dar und bringen die Vielfalt der Ansichten angemessen zum Ausdruck.
3    Die Unabhängigkeit von Radio und Fernsehen sowie die Autonomie in der Programmgestaltung sind gewährleistet.
4    Auf die Stellung und die Aufgabe anderer Medien, vor allem der Presse, ist Rücksicht zu nehmen.
5    Programmbeschwerden können einer unabhängigen Beschwerdeinstanz vorgelegt werden.
EMRK: 10
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 10 Freiheit der Meinungsäusserung - (1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäusserung. Dieses Recht schliesst die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Dieser Artikel hindert die Staaten nicht, für Radio-, Fernseh- oder Kinounternehmen eine Genehmigung vorzuschreiben.
RTVG: 4
SR 784.40 Bundesgesetz vom 24. März 2006 über Radio und Fernsehen (RTVG)
RTVG Art. 4 Mindestanforderungen an den Programminhalt - 1 Alle Sendungen eines Radio- oder Fernsehprogramms müssen die Grundrechte beachten. Die Sendungen haben insbesondere die Menschenwürde zu achten, dürfen weder diskriminierend sein noch zu Rassenhass beitragen noch die öffentliche Sittlichkeit gefährden noch Gewalt verherrlichen oder verharmlosen.
1    Alle Sendungen eines Radio- oder Fernsehprogramms müssen die Grundrechte beachten. Die Sendungen haben insbesondere die Menschenwürde zu achten, dürfen weder diskriminierend sein noch zu Rassenhass beitragen noch die öffentliche Sittlichkeit gefährden noch Gewalt verherrlichen oder verharmlosen.
2    Redaktionelle Sendungen mit Informationsgehalt müssen Tatsachen und Ereignisse sachgerecht darstellen, so dass sich das Publikum eine eigene Meinung bilden kann. Ansichten und Kommentare müssen als solche erkennbar sein.
3    Die Sendungen dürfen die innere oder äussere Sicherheit des Bundes oder der Kantone, ihre verfassungsmässige Ordnung oder die Wahrnehmung völkerrechtlicher Verpflichtungen der Schweiz nicht gefährden.
4    Konzessionierte Programme müssen in der Gesamtheit ihrer redaktionellen Sendungen die Vielfalt der Ereignisse und Ansichten angemessen zum Ausdruck bringen. Wird ein Versorgungsgebiet durch eine hinreichende Anzahl Programme abgedeckt, so kann die Konzessionsbehörde einen oder mehrere Veranstalter in der Konzession vom Vielfaltsgebot entbinden.
BGE Register
132-II-290 • 134-I-2 • 135-II-224 • 135-II-296 • 136-I-167 • 138-I-107
Weitere Urteile ab 2000
2C_880/2010
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
abstimmungsbotschaft • abstimmungsvorlage • alters-, hinterlassenen- und invalidenversicherung • berichterstattung • berufliche vorsorge • beschwerde in öffentlich-rechtlichen angelegenheiten • beschwerdeinstanz für radio und fernsehen • bundesgericht • bundesgesetz über radio und fernsehen • bundesrat • charakter • entscheid • europarat • frage • frankreich • gleichwertigkeit • journalist • leistungsauftrag • medien • meldepflicht • ministerkomitee • mitgliedstaat • norwegen • objektivitätsgebot • parlament • presse • radio und fernsehen • richtigkeit • sachlicher geltungsbereich • sachverhalt • schutzmassnahme • tag • totalrevision • treffen • umfang • veranstalter • wiese • wirtschaftliches interesse • zuschauer
BBl
2003/1569