124 V 118
20. Auszug aus dem Urteil vom 12. März 1998 i. S. X gegen Krankenkasse Y und Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden
Regeste (de):
- Art. 2 Abs. 1
SR 832.10 Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (KVG)
KVG Art. 2
SR 832.10 Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (KVG)
KVG Art. 2
SR 832.10 Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (KVG)
KVG Art. 2
- Bestätigung der Rechtsprechung (BGE 116 V 239), wonach der HIV-Infektion Krankheitswert im Rechtssinne zukommt.
Regeste (fr):
- Art. 2 al. 1 LAMal; art. 5 al. 3, art. 11 LAMA : l'infection par le virus HIV est une maladie; exclusion de la caisse en raison de la violation de l'obligation d'annoncer.
- Confirmation de la jurisprudence (ATF 116 V 239), selon laquelle l'infection par le virus HIV représente une maladie au sens juridique du terme.
Regesto (it):
- Art. 2 cpv. 1 LAMal; art. 5 cpv. 3, art. 11 LAMI: carattere di malattia dell'infezione HIV; esclusione dalla cassa a dipendenza della violazione dell'obbligo di informare.
- Conferma della giurisprudenza (DTF 116 V 239) secondo cui l'infezione HIV assume valore di malattia in senso giuridico.
Sachverhalt ab Seite 118
BGE 124 V 118 S. 118
A.- X arbeitet seit 6. April 1993 bei der Firma A. Zwischen dieser Firma und der Krankenkasse Y bestand ein Kollektivvertrag für Krankengeldversicherung. Am 19. Mai 1993 reichte X bei der Krankenkasse das Eintrittsformular ein und gab an, Diabetiker zu sein und deswegen dauernd in ärztlicher Behandlung zu stehen; die Frage, ob er augenblicklich gesund sei, bejahte er. Im Versicherungsantrag vom 4. Juni 1993 wurden die Fragen zum Gesundheitszustand nicht mehr beantwortet, sondern es wurde auf die Eintrittsmeldung verwiesen. Die Aufnahme in die Versicherung erfolgte mit einem Vorbehalt für Diabetes. Die Arbeitgeberin teilte der Krankenkasse mit Taggeldkarte vom 26. April 1994 mit, der Versicherte sei vom 18. bis 23. April 1994 arbeitsunfähig
BGE 124 V 118 S. 119
gewesen. Der behandelnde Arzt gab als Ursache eine "Infektion" als vorbestandenes Leiden an. Hierauf ersuchte ihn die Krankenkasse um genauere Angaben hinsichtlich seiner Diagnose oder um einen Bericht an ihren Vertrauensarzt. Am 26. Juli 1994 berichtete der Vertrauensarzt der Kasse, dass sich die ärztlichen Behandlungen des Versicherten in letzter Zeit tatsächlich in erster Linie auf diese Infektion und weniger auf den Diabetes bezogen hätten. Am 27. Juli 1994 teilte die Krankenkasse X mit, es bestehe der Verdacht auf HIV-Seropositivität. Unter Hinweis auf seine Mitwirkungspflicht wurde er aufgefordert, zu diesem Verdacht Stellung zu nehmen oder die behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht zu entbinden. Nach (unbestrittener) Aussage der Kasse kam der Versicherte dieser Aufforderung nicht nach, worauf die Geschäftsleiterin telefonisch bei ihm nachfragte. Anlässlich dieses Telefongesprächs bestätigte der Versicherte seine Seropositivität hinsichtlich HIV und gab zu, dass er schon seit 1986 von dieser Infektion wisse. Der Aufforderung seitens der Krankenkasse, diese Aussage schriftlich zu bestätigen, kam X jedoch nicht nach. Mit Verfügung vom 14. September 1994 schloss die Kasse X rückwirkend aus der Krankentaggeldversicherung aus. Als Gründe für den Ausschluss wurden unvollständige Angaben über den Gesundheitszustand im Versicherungsantrag und die Verletzung der Mitwirkungspflicht angegeben.
B.- Beschwerdeweise beantragte X, die Verfügung sei aufzuheben und die Kasse habe ihn in die Kollektiv-Krankengeldversicherung der Firma A aufzunehmen. Das kantonale Gericht bejahte das Vorliegen einer schuldhaften Anzeigepflichtverletzung, hielt jedoch fest, dass ein rückwirkender Ausschluss nicht zulässig sei. Demzufolge hiess das Gericht die Beschwerde teilweise gut, hob die Kassenverfügung auf und wies die Sache zum Erlass einer neuen Verfügung (Ausschluss nur pro futuro mit rückwirkendem Vorbehalt hinsichtlich HIV-Infektion und deren Folgen) an die Krankenkasse zurück (Entscheid vom 10. Februar 1995).
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt X die Anträge stellen, in Aufhebung des kantonalen Entscheides sei er vorbehaltlos in die Kollektiv-Krankengeldversicherung der Firma A bei der Krankenkasse aufzunehmen; es sei ein Gutachten betreffend die Frage zu erstellen, ob HIV-Positivität mit der Aids-Krankheit gleichzusetzen sei.
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Die Krankenkasse schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung hat keine Vernehmlassung eingereicht.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1. a) Der Streit um die Mitgliedschaft (Kassenausschluss) oder einen Versicherungsvorbehalt betrifft nicht die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen im Sinne des Art. 132
SR 832.10 Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (KVG) KVG Art. 2 |
SR 832.10 Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (KVG) KVG Art. 2 |
SR 832.10 Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (KVG) KVG Art. 2 |
SR 832.10 Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (KVG) KVG Art. 2 |
3. a) Gemäss Art. 5bis Abs. 2
SR 832.10 Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (KVG) KVG Art. 2 |
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Krankheit im Sinne des KUVG leidet oder nicht, nach den Besonderheiten des Einzelfalles beantworten. Zu betonen ist, dass es sich beim Begriff Krankheit um einen Rechtsbegriff handelt und dass er sich somit nicht notwendigerweise mit dem medizinischen Krankheitsbegriff deckt (BGE 116 V 240 Erw. 3a mit Hinweisen; vgl. auch BGE 121 V 293 Erw. 2b, 304 Erw. 3, BGE 116 IV 128 Erw. 2a).
4. Gemäss den für das Eidg. Versicherungsgericht verbindlichen (Erw. 1a) und im übrigen unbestrittenen Feststellungen des kantonalen Gerichts weiss der Beschwerdeführer seit 1986 von seiner HIV-Infektion. Zu prüfen ist, ob er zu einer entsprechenden Anzeige verpflichtet war, was davon abhängt, ob die HIV-Infektion sozialversicherungsrechtlich als Krankheit zu werten ist. Die Vorinstanz hat dies unter Hinweis auf die Rechtsprechung (BGE 116 V 239) bejaht und erwogen, der Beschwerdeführer habe die Frage nach bestehenden Krankheiten im Beitrittsformular nicht wahrheitsgemäss beantwortet; unter den gegebenen Umständen sei von einer schuldhaften Verletzung der Anzeigepflicht auszugehen. Demgegenüber wird in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde festgehalten, die HIV-Infektion verursache an sich keine gesundheitlichen Störungen, die eine medizinische Behandlung erforderten oder zu einer Arbeitsunfähigkeit führten. Es sei nach den heutigen medizinischen Erkenntnissen überholt, die HIV-Infektion als Krankheit zu bezeichnen.
5. a) Das Eidg. Versicherungsgericht ist im bereits erwähnten Urteil vom 5. September 1990 (BGE 116 V 239) - nach Beschreibung der verschiedenen Stadien von der HIV-Infektion bis zum Vollbild Aids und einer zusammenfassenden Darstellung der widerstreitenden Standpunkte - zum Schluss gelangt, dass der HIV-Infektion (positiver HIV-Befund) Krankheitswert im Rechtssinne zukommt. Ausschlaggebend waren zur Hauptsache folgende Gesichtspunkte: "Der im AIDS-Konzept FMH vertretenen Auffassung ist insofern beizupflichten, als kein Anlass besteht, die HIV-Erkrankung rechtlich anders zu bewerten als andere Infektionskrankheiten, die unmittelbar nach erfolgter Infektion behandlungsbedürftig sind und zu Leistungen der Krankenkassen Anlass geben. Die Besonderheit der HIV-Erkrankung besteht darin, dass die Infektion in der überwiegenden Zahl der Fälle asymptomatisch verläuft und auch im Falle einer akuten Infektion die Erkrankung nach den heute zur Verfügung stehenden diagnostischen Methoden (Antikörper-Test) erst Wochen bis Monate nach erfolgter Infektion festgestellt werden kann (vgl. AIDS in der Schweiz, S. 48). Zudem folgt auf
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die akute Erkrankung in der Regel eine längerdauernde symptomlose Zeit. Dies ändert indessen nichts daran, dass unmittelbar nach erfolgter Infektion eine behandlungsbedürftige Krankheit (und nicht eine blosse Krankheitsdisposition) besteht. Zwar gilt die Krankheit nach dem gegenwärtigen Stand der Medizin als unheilbar. Es bestehen indessen bereits heute therapeutische Möglichkeiten, wobei die Bestrebungen der Medizin dahin gehen, Therapien zu entwickeln, die unmittelbar nach festgestellter HIV-Infektion einsetzen (vgl. AIDS in der Schweiz, S. 53/54; AIDS-Konzept FMH, a.a.O., S. 1996). Auch im Hinblick auf bestehende bzw. künftige Behandlungsmöglichkeiten und entsprechende Leistungen der Krankenkassen rechtfertigt es sich daher, die HIV-Infektion sozialversicherungsrechtlich als Krankheit zu werten." (Erw. 3c/bb). Weiter hat das Gericht im gleichen Entscheid erkannt, dass ein Vorbehalt "HIV-Erkrankung mit Folgen" oder "Immunschwäche und Folgen" zulässig ist (Erw. 4). b) Diese Rechtsprechung ist im Schrifttum auf nachhaltige Kritik gestossen, und zwar einerseits hinsichtlich der hier interessierenden Frage, ob einer HIV-Infektion Krankheitswert zukommt, und anderseits in bezug auf die im vorliegenden Zusammenhang nicht weiter zu verfolgende Vorbehaltsproblematik (vgl. Erw. 7 hernach). Die wesentlichsten Kritikpunkte lassen sich wie folgt zusammenfassen: MAX KELLER (Rechtliche Bedeutung des Status "HIV-positiv", Basel 1993) gelangte auf der Grundlage von Gutachten, welche die kausale Rolle von HIV für die Entstehung von Aids ablehnen, zum Ergebnis, dass der Status "HIV-positiv" noch nicht als Krankheit betrachtet werden dürfe (vgl. dazu die kritische Besprechung von Oberrichter CHRISTIAN HUBER in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. med. RUEDI LÜTHY als medizinischem Konsiliar, in: SZS 90/1994 S. 33 f.). In einer Kurzfassung seines Standpunktes (Plädoyer 2/1994 S. 20) gab er zu bedenken, dass der fragliche Entscheid des Eidg. Versicherungsgerichts zahlreiche, teils schwerwiegende negative Auswirkungen, etwa bei der Aufnahme in die Grund- und Zusatzversicherung sowie im Bereich des Arbeitsrechts, zur Folge habe; ferner bringe die rechtliche Qualifikation der HIV-Infektion als Krankheit psychische und soziale Belastungen mit sich. Diese Nachteile würden durch die einzige positive Auswirkung, nämlich die grundsätzliche Leistungspflicht der Sozialversicherung, nicht aufgewogen, zumal die Arbeitsfähigkeit eines HIV-positiven Menschen im Normalfall nicht beeinträchtigt und der Nutzen (präventiver) medizinischer Massnahmen nach heutigem Erkenntnisstand höchst fraglich sei. BRIGITTE PFIFFNER (Plädoyer 6/1990 S. 30 f.) hielt fest, dass HIV-Infizierte in vielen Fällen während Jahren gesund blieben und somit von
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einer behandlungsbedürftigen Krankheit unmittelbar nach der Ansteckung nicht die Rede sein könne. Wie MAX KELLER (a.a.O.) ist die Autorin der Auffassung, der Vorteil einer Übernahme der Behandlungskosten durch die Krankenkassen vermöge die Nachteile (beim Eintritt in die Grundversicherung, beim Antrag auf Höherversicherung sowie bei der Suche und beim Antritt einer Arbeitsstelle) nicht auszugleichen. SUSANNE LEUZINGER-NAEF ("HIV-Infektion und Folgen" als vorbehaltsfähige Krankheit, in: SZS 1992 S. 65 ff.) konstatierte eine Abkehr der Rechtsprechung von den bisher für den Krankheitsbegriff herangezogenen Kriterien. Bei der Beschreibung des Verlaufs der HIV-Infektion stelle das Eidg. Versicherungsgericht zwar fest, dass nach dem Abheilen der akuten Infektion eine Latenzphase ohne Krankheitssymptome von in der Regel zwei bis fünf Jahren folge. Aus der Tatsache, dass abgesehen vom Vorhandensein des HI-Virus und der damit verbundenen Ansteckungsgefahr der Körper in der Latenzphase nicht geschädigt und in seiner Funktion nicht gestört sei, ziehe das Gericht jedoch keine rechtlichen Schlüsse. Während die Rechtsprechung früher erst bei Störungen oder Schädigungen von einer Krankheit gesprochen habe, werde nun der Krankheitsbeginn unter Hinweis auf die Behandlungsbedürftigkeit auf den Zeitpunkt des Eintritts des Krankheitserregers in den Körper verlegt, auf einen Zeitpunkt also, in dem weder eine Störung vorliege noch - aufgrund des Standes der medizinischen Wissenschaft - die Krankheitsursache behandelbar sei. In ihrer Dissertation (Vorbestehender Gesundheitszustand und Versicherungsschutz in der Sozialversicherung, Zürich 1994) hielt die Autorin weiter fest, die Störungen im Stadium der Neuinfektion gingen ohne medizinische Behandlung vorüber, und eine solche werde in der Regel auch nicht in Anspruch genommen, weshalb das Stadium I nicht mit einem Krankheitsausbruch gleichgesetzt werden könne, ebensowenig die symptomlose Phase (II). Im Stadium III seien die Betroffenen noch voll leistungsfähig und bedürften regelmässig keiner medizinischen Behandlung, so dass auch in dieser Phase - wie zu Beginn des Stadiums IV - die Krankheit noch nicht ausgebrochen sei. Im übrigen werde durch die Charakterisierung der HIV-Infektion als Krankheit die soziale und psychische Situation der betroffenen Personen erschwert. Nach dem heutigen Wissensstand sei fraglich, ob der Ausbruch der Krankheit medikamentös hinausgezögert werden könne; die frühe Erkennung der Infektion sei deshalb kaum von therapeutischem Nutzen. OLIVIER GUILLOD (Tests génétiques et protection de la personnalité, in: Festschrift für
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JACQUES-MICHEL GROSSEN, Basel 1992, S. 58 Fn. 15), bezeichnete den Entscheid des Eidg. Versicherungsgerichts ohne nähere Begründung als unrichtig und bedauerte ihn. Auch THOMAS LOCHER erachtete das fragliche Urteil für den Bereich der Krankenversicherung als "wohl nicht richtig"; denn ein positives HIV-Testergebnis bedeute für sich allein während der Latenzzeit noch keine aktuelle Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes, welche eine medizinische Behandlung erfordere oder zur Arbeitsunfähigkeit führe (Grundriss des Sozialversicherungsrechts, 1. Aufl., Bern 1994, S. 110). THOMAS MEILI (Falscher Stempel für HIV-Positive, Schweizer Versicherung 1995, S. 11 ff.) hielt das Urteil aufgrund neuer medizinischer Erkenntnisse und gesetzlicher Regelungen (KVG) für überholt und wies auf die psychosozialen Auswirkungen der rechtlichen Bewertung der HIV-Positivität als Krankheit hin.
6. a) Angesichts der beschwerdeweisen Vorbringen gegen die Qualifikation der HIV-Infektion als Krankheit und vor dem Hintergrund der an BGE 116 V 239 geübten Kritik stellt sich die Frage, ob an dieser Rechtsprechung festzuhalten ist. Gegenüber dem Postulat der Rechtssicherheit lässt sich eine Praxisänderung grundsätzlich nur begründen, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis der ratio legis, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten Rechtsanschauungen entspricht (BGE 122 V 129 Erw. 4, BGE 121 V 85 f. Erw. 6a, 92 Erw. 5b, BGE 119 V 260 f. Erw. 4a). b) Im Zentrum der Argumentation von BGE 116 V 239 stand die Feststellung, es rechtfertige sich im Hinblick auf bestehende und künftige Behandlungsmöglichkeiten, die HIV-Infektion sozialversicherungsrechtlich als Krankheit zu werten. Diese Auffassung wird durch die Ergebnisse der jüngeren Aids-Forschung keineswegs widerlegt, sondern vielmehr noch unterstrichen. Von wesentlicher Bedeutung ist zum einen die therapeutische Verfügbarkeit neuer antiretroviraler Kombinationstherapien. Zum anderen führte die Erkenntnis, dass während der klinisch stummen Phase eine rasche HIV-Replikation stattfindet und eine grosse Menge von Mutationen entsteht, welche für das spätere Auftreten von Resistenzen verantwortlich sind, sowie die Beobachtung, dass sich die HIV-Replikation unterdrücken lässt, zur breit akzeptierten Haltung, dass HIV möglichst früh und mit kombinierten Medikamenten angegangen werden muss. In diesem Zusammenhang sind die neuen Empfehlungen zur Behandlung der HIV-Infektion bei Erwachsenen der
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Subkommission Klinik der Eidg. Kommission für Aids-Fragen zu erwähnen, wonach es das erklärte Ziel einer antiretroviralen Therapie ist, die HIV-Replikation in allen Kompartimenten des Organismus anhaltend und möglichst vollständig zu unterdrücken, und wonach die Indikation für eine entsprechende Behandlung grundsätzlich bereits beim Nachweis einer HIV-Infektion gegeben ist (Bulletin des Bundesamtes für Gesundheit Nr. 20/1997 S. 9 f.). Damit lassen sich die im Schrifttum verschiedentlich erhobenen Einwendungen, wonach eine (frühe) Behandlung der HIV-Infektion weder möglich noch geboten sei, nach dem heutigen Stand der Wissenschaft nicht halten, auch wenn noch unklar ist, ob die Wirkung der Kombinationsbehandlungen anhält und ob sie sich auch in grösseren Kollektiven bestätigen lässt. Die Qualifikation der HIV-Infektion als Krankheit erscheint auch insoweit folgerichtig, als nach der Rechtsprechung nicht nur die bereits vorhandene Störung der Gesundheit als Krankheit gilt, sondern auch ein Zustand, der den Eintritt eines drohenden Gesundheitsschadens mit Wahrscheinlichkeit voraussehen lässt (BGE 118 V 117 Erw. 7c mit Hinweisen). Diese Betrachtungsweise findet im übrigen ihre Fortsetzung im neuen Krankenversicherungsrecht. Danach ist Krankheit jede Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Gesundheit, die nicht Folge eines Unfalles ist und die eine medizinische Untersuchung oder Behandlung erfordert oder eine Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (Art. 2 Abs. 1
SR 832.10 Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (KVG) KVG Art. 2 |
7. Ohne dass es der beantragten Einholung eines Gutachtens bedürfte, steht nach dem Gesagten fest, dass der HIV-Infektion (bzw. einem positiven HIV-Befund) Krankheitswert zukommt. Somit beging der Beschwerdeführer eine Anzeigepflichtverletzung, wie Krankenkasse und Vorinstanz mit Recht dargelegt haben. Es fragt sich, welche Sanktion damit zu verbinden ist.
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Die Vorinstanz hat im Gegensatz zur Krankenkasse erkannt, dass laut Ziffer (...) AVB ein rückwirkender Ausschluss nicht möglich ist, die Krankenkasse den Beschwerdeführer jedoch pro futuro hätte ausschliessen und ihm gestützt auf Ziffer (...) AVB rückwirkend einen Vorbehalt hinsichtlich der HIV-Infektion und deren Folgen hätte auferlegen müssen. Der Beschwerdeführer beantragt vor dem Eidg. Versicherungsgericht vorbehaltlose Aufnahme in die Kollektiv-Taggeldversicherung. Nachdem eine Anzeigepflichtverletzung vorliegt, kann diesem Antrag nicht entsprochen werden. Der Beschwerdeführer macht im übrigen nicht geltend, es sei statt des Ausschlusses eine mildere Sanktion anzuordnen oder der Vorbehalt sei unpräzis umschrieben. Es erübrigt sich somit, auf die in der Literatur erhobene Kritik hinsichtlich der Formulierung des Vorbehalts näher einzugehen. Hingegen ist von Amtes wegen zu prüfen, ob und unter welchen Voraussetzungen aufgrund der statutarischen Ordnung und der Rechtsprechung ein Kassenausschluss überhaupt verfügt werden kann.
8. a) Nach Ziffer (...) AVB kann ein Mitglied aus einem Versicherungszweig oder aus der Kasse ausgeschlossen werden, wenn sich sein Verhalten als missbräuchlich oder sonstwie als unentschuldbar erweist und der Kasse die Weiterführung der Mitgliedschaft nicht mehr zugemutet werden kann. Dies ist nach Ziffer (...) AVB insbesondere dann der Fall, wenn ein Mitglied eine statutarische oder reglementarische Anzeigepflicht unentschuldbar verletzt hat. Der Ausschluss wird nach vorgängiger Androhung dem Mitglied oder seinem gesetzlichen Vertreter mit eingeschriebenem Brief als Verfügung unter Angabe der Ausschlussgründe und mit Rechtsmittelbelehrung eröffnet. b) Statutarische Vorschriften einer Krankenkasse, wonach ein Mitglied bei Verletzung der Anzeigepflicht aus der Kasse ausgeschlossen werden kann, sind grundsätzlich nicht bundesrechtswidrig. Da es sich indessen um eine Sanktion handelt, ist im Einzelfall der allgemeine verwaltungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu beachten, welcher verlangt, dass die Sanktion in einem angemessenen Verhältnis zu dem von der Kasse verfolgten Zweck und zum Verschulden des Versicherten steht (BGE 108 V 248 Erw. 2a, BGE 106 V 173 Erw. 2; RKUV 1986 Nr. K 687 S. 315 Erw. 3a; siehe auch BGE 111 V 319 Erw. 2). Der Kassenausschluss ist die strengste Sanktion und für den Betroffenen meist mit einschneidenden Folgen verbunden. Daher setzt er ein besonders schweres Verschulden bzw. Umstände voraus, welche die fragliche
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Mitgliedschaft für die Kasse schlechthin als unzumutbar erscheinen lassen (BGE 118 V 267 Erw. 3a mit Hinweisen). c) Der Ausschluss eines Mitgliedes aus der Kasse darf praxisgemäss erst nach schriftlicher Androhung dieser Sanktion verfügt werden, es sei denn, eine solche Vorkehr könne vernünftigerweise nicht vorausgesetzt werden. Der Aufnahmebewerber ist auf dem Beitrittsformular an gut sichtbarer Stelle mit einem ausdrücklichen, von den andern Bestimmungen deutlich abgehobenen Hinweis auf die im Fall einer Anzeigepflichtverletzung möglichen schwersten Sanktionen, den Ausschluss aus der Kasse und den Entzug der Leistungen, aufmerksam zu machen (BGE 111 V 322 Erw. 2a mit Hinweisen). Bezüglich des Inhalts der Androhung hat die Rechtsprechung klargestellt, dass die betreffende Sanktion unmissverständlich anzudrohen ist und der blosse Hinweis auf einen Statutenartikel nicht ausreicht (BGE 118 V 267 Erw. 3a mit Hinweisen).
d) Auf dem Beitritts- und dem Versicherungsantragsformular der Beschwerdegegnerin ist folgender, deutlich abgehobener Hinweis angebracht: "Für die Folgen bereits bestehender oder überstandener Krankheiten wird die Krankenkasse ausdrücklich aller Verpflichtungen enthoben, wenn das Mitglied sich bei der Ausfüllung dieses Formulars bewusst einer Unwahrheit schuldig gemacht hat." Damit steht einmal fest, dass der Hinweis auf die im Falle einer Anzeigepflichtverletzung mögliche schwerste Sanktion, den Kassenausschluss, fehlt. Den Akten kann im übrigen kein Hinweis entnommen werden, dass dem Beschwerdeführer der Ausschluss sonstwie schriftlich und unmissverständlich angedroht worden wäre. Fehlt es somit an einer vorgängigen rechtsgenüglichen Androhung des verfügten Kassenausschlusses, vermag das Vorgehen der Beschwerdegegnerin den formellen Erfordernissen nicht zu genügen. Nach dem Gesagten fällt die Beendigung der Kassenzugehörigkeit infolge Ausschlusses, wie sie die Vorinstanz in ihrem Entscheid pro futuro angedroht hat, ausser Betracht. e) Hingegen steht ohne weiteres fest, dass die Krankenkasse berechtigt ist, die statutarische Ordnung durch einen rückwirkenden Vorbehalt wiederherzustellen. Mit Recht hat die Vorinstanz die Krankenkasse diesbezüglich angewiesen, hierüber neu zu verfügen. In dieser Hinsicht ist der kantonale Entscheid richtig.