123 III 374
58. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 12. Juni 1997 i.S. X. Financial Services GmbH gegen W. (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste (de):
- Lugano-Übereinkommen (Lugü): Überprüfung der Zuständigkeit des urteilenden Gerichts durch das Gericht des Vollstreckungsstaats. Verfahrenseinleitendes Schriftstück im Sinne von Art. 27 Ziff. 2
LugÜ.
- Wird eine Klage vor Inkrafttreten des Lugano-Übereinkommens zwischen Erkenntnis- und Vollstreckungsstaat angehoben, ergeht der Entscheid aber erst nachher, so sind die Behörden des Vollstreckungsstaats abweichend vom Grundsatz von Art. 28 Abs. 4
LugÜ zu einer umfassenden Kontrolle der Zuständigkeit befugt (Art. 54 Abs. 2
LugÜ; E. 2). Einem Urteil, das weder Tatsachenfeststellungen noch eine Urteilsbegründung enthält, ist in einem solchen Fall die Vollstreckbarkeit zu versagen (E. 4).
- Der Mahnbescheid gemäss §§ 688 ff. der deutschen Zivilprozessordnung stellt, wenn der Antragsgegner dagegen Widerspruch erhoben hat, nicht das verfahrenseinleitende Schriftstück im Sinne von Art. 27 Ziff. 2
LugÜ für das nachfolgende streitige Verfahren dar (E. 3).
Regeste (fr):
- Convention de Lugano (CL): examen de la compétence de la juridiction d'origine par la juridiction requise. Acte introductif d'instance au sens de l'art. 27 ch. 2 CL.
- Lorsqu'une action a été introduite avant l'entrée en vigueur de la Convention de Lugano entre l'Etat d'origine et l'Etat requis, mais que la décision n'a été rendue que plus tard, les autorités du second ont le pouvoir de procéder à un plein contrôle de la compétence en dérogation au principe consacré à l'art. 28 al. 4 CL (art. 54 al. 2 CL; consid. 2). La force exécutoire d'un jugement qui ne contient ni état de fait ni motifs doit être niée (consid. 4).
- La décision d'injonction ("der Mahnbescheid") au sens des §§ 688 ss du code de procédure civile allemand à laquelle le défendeur a fait opposition ne constitue pas un acte introductif d'instance au sens de l'art. 27 ch. 2 CL pour la procédure de type contradictoire ("das streitige Verfahren") qui suit (consid. 3).
Regesto (it):
- Convenzione di Lugano (CL): esame della competenza dei giudici dello Stato d'origine da parte dei giudici dello Stato richiesto. Domanda giudiziale ai sensi dell'art. 27 n. 2 CL.
- Qualora un'azione giudiziaria sia stata proposta anteriormente all'entrata in vigore della Convenzione di Lugano nelle relazioni tra lo Stato d'origine e lo Stato richiesto, ma la decisione resa solo successivamente, le autorità dello Stato richiesto possono - in deroga al principio stabilito all'art. 28 cpv. 4 CL - procedere al controllo della competenza (art. 54 cpv. 2 CL; consid. 2). In una simile circostanza non può essere dichiarata esecutiva una sentenza che non contiene l'esposizione dei motivi di fatto e di diritto (consid. 4).
- Un decreto d'ingiunzione (Mahnbescheid) a norma dei §§ 688 segg. del codice di procedura civile tedesco, contro il quale la controparte ha fatto opposizione, non costituisce una domanda giudiziale ai sensi dell'art. 27 n. 2 CL per il susseguente procedimento contenzioso (consid. 3).
Sachverhalt ab Seite 375
BGE 123 III 374 S. 375
Die in T. (Deutschland) ansässige X. Leasing GmbH macht gegen W. aus einem Leasingvertrag über ein Fahrzeug der Marke "P." Ansprüche in der Höhe von insgesamt DM 116'766.73 geltend. Da ihre Forderung nicht erfüllt wurde, beantragte sie beim Amtsgericht Stuttgart den Erlass eines Mahnbescheids, der W. am 31. März 1994 in G. (Deutschland), wo er zu jenem Zeitpunkt Wohnsitz hatte, persönlich zugestellt wurde. W. erhob dagegen am 7. April 1994 vollumfänglich Widerspruch. Auf Antrag der X. Leasing GmbH und nach Eingang des Prozesskostenvorschusses am 18. April 1994 beim Amtsgericht Stuttgart wurden die Akten zur Durchführung des streitigen Verfahrens ans örtlich zuständige Landgericht München I überwiesen. Am 15. Juni 1994 reichte die X. Leasing GmbH beim Landgericht München I die Anspruchsbegründung ein, worauf die Parteien mit Verfügung vom 22. Juni 1994 zu einem frühen ersten Termin mit mündlicher Verhandlung am 26. September 1994 vorgeladen und dem Beklagten eine zweiwöchige Frist zur schriftlichen Klageerwiderung eingeräumt wurde. Die Vorladung konnte W. in G. allerdings nicht zugestellt werden. Seine Ehefrau nahm gemäss Postzustellungsurkunde vom 30. Juni 1994 die Verfügung entgegen, sandte sie jedoch mit dem Vermerk, W. sei seit Anfang Juni 1994 nicht mehr in Deutschland wohnhaft, wieder zurück.
Am 30. August 1994 teilte die X. Leasing GmbH dem Landgericht München I mit, der Beklagte habe seinen Wohnsitz in die Schweiz verlegt. Gestützt auf Art. XIX Ziff. 2 der Allgemeinen Leasingbedingungen, welche bei Verlegung des Wohnsitzes oder Aufenthaltsortes des Leasingnehmers aus dem Inland den Gerichtsstand am Sitz
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der Leasinggeberin vorsehen, beantragte sie die Verweisung des Verfahrens an das Landgericht Stuttgart. Nach einer mündlichen Verhandlung gab das Landgericht München I dem Antrag mit Beschluss vom 26. September 1994 statt. Das Landgericht Stuttgart setzte der X. Leasing GmbH mit Verfügung vom 11. November 1994 Frist, um die Wirksamkeit der Zustellung der Vorladung des Landgerichts München I vom 22. Juni 1994 nachzuweisen und die Adresse anzugeben, unter welcher W. geladen werden konnte. Mit Schreiben vom 8. Dezember 1994 teilte die X. Leasing GmbH dem Gericht mit, dass W. nach Angaben der Gemeinde G. am 1. Juni 1994 nach Zürich verzogen sei. Laut Auskunft der Einwohnergemeinde Zürich vom 11. August 1994 sei W. jedoch schon am 1. Oktober 1977 nach Z. verzogen, wo er indes unbekannt sei. Die X. Leasing GmbH beantragte deshalb die öffentliche Zustellung der Anspruchsbegründung. Mit Verfügung vom 14. Dezember 1994 teilte das Landgericht Stuttgart der X. Leasing GmbH mit, die Kammer erachte den Nachweis, dass der Aufenthalt von W. im Sinne von § 203 der deutschen Zivilprozessordnung vom 30. Januar 1877 (DZPO) unbekannt sei, noch nicht als erbracht. Die X. Leasing GmbH wurde deshalb aufgefordert, weitere Abklärungen über den Aufenthaltsort des Beklagten anzustellen. Nachfragen bei der Einwohnergemeinde G. und bei der Ehefrau von W. blieben jedoch ohne Ergebnis. Mit Schreiben vom 29. Dezember 1994 versuchte schliesslich auch das Landgericht Stuttgart erfolglos, Frau W. an der letztbekannten Adresse in G. zu erreichen und von ihr den Aufenthaltsort ihres Ehemannes in Erfahrung zu bringen, da sie inzwischen unbekannt verzogen war, so dass schliesslich mit Beschluss vom 23. Februar 1995 die öffentliche Zustellung der Anspruchsbegründung der X. Leasing GmbH und der Verfügungen des Gerichts bewilligt wurde und im März 1995 erfolgte. Am 13. Juni 1995 verpflichtete das Landgericht Stuttgart W. durch Säumnisurteil, der inzwischen in X. Financial Services GmbH umbenannten Klägerin DM 116'766.73 nebst 4% Zinsen über dem Bankdiskontsatz seit dem 4. März 1994 zu zahlen. Das Urteil wurde dem Beklagten am 7. August 1995 öffentlich zugestellt. Im Frühjahr 1996 erfuhr die X. Financial Services GmbH von der Einwohner- und Fremdenkontrolle der Stadt Zürich, dass sich W. bereits am 1. Oktober 1994 in Zürich unter der Adresse Y. angemeldet hatte. Mit Verfügung vom 23. April 1996 erklärte der Einzelrichter im summarischen Verfahren des Bezirkes Zürich das Säumnisurteil des Landgerichts Stuttgart vom 13. Juni 1995 auf Antrag der X. Financial
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Services GmbH für vollstreckbar. Der von W. gegen diesen Entscheid erhobene Rekurs wurde vom Obergericht des Kantons Zürich mit Beschluss vom 17. Oktober 1996 gutgeheissen und das Gesuch um Vollstreckbarerklärung abgewiesen. Die von der X. Financial Services GmbH dagegen erhobene staatsrechtliche Beschwerde weist das Bundesgericht ab
Erwägungen
aus folgenden Erwägungen:
1. Das Übereinkommen vom 16. September 1988 über die gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Lugano-Übereinkommen [LugÜ]; SR 0.275.11) enthält den Grundsatz der Nichtrückwirkung (Art. 54 Abs. 1
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2. a) Nach Art. 28 Abs. 4
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angewendet hat (KROPHOLLER, a.a.O., N. 2 zu Art. 28 EuGVÜ/LugÜ; YVES DONZALLAZ, La Convention de Lugano, Vol. II, Bern 1997, § 3133). Ausnahmen vom Überprüfungsverbot der internationalen Zuständigkeit ergeben sich insbesondere aus Art. 28 Abs. 1
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am Wohnsitz des Verbrauchers vorsehe. Das Domizil des Beschwerdegegners habe sich aber im massgeblichen Zeitpunkt der Rechtshängigkeit der Klage nicht mehr in Deutschland, sondern in der Schweiz befunden. Dem Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 13. Juni 1995 sind weder Ausführungen zum Sachverhalt noch die Urteilsmotive zu entnehmen, offenbar weil es sich um ein Versäumnisurteil handelt, das gemäss § 313b Abs. I DZPO des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe nicht bedarf. Es ist jedenfalls nicht ersichtlich, aus welchen Gründen und gestützt auf welchen Sachverhalt das Landgericht Stuttgart seine örtliche Zuständigkeit bejaht hat. Unter den Parteien ist aber unstreitig, dass dem Beschwerdegegner der Mahnbescheid persönlich zugestellt werden konnte und dass er zu diesem Zeitpunkt noch Wohnsitz in Deutschland gehabt hatte. Es ist deshalb zunächst zu prüfen, ob der Mahnbescheid das verfahrenseinleitende Schriftstück im Sinne von Art. 27 Ziff. 2
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3. Gemäss Art. 27 Ziff. 2
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alsbaldigen Abgabe unter den gegebenen Umständen nicht erfüllt und sprach dem Mahnbescheid die Eigenschaft als verfahrenseinleitendes Schriftstück deshalb ab. Die Beschwerdeführerin sieht darin eine Verletzung von Art. 27 Ziff. 2
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Anspruch binnen zwei Wochen in einer der Klageschrift entsprechenden Form zu begründen (§ 697 DZPO). Das verfahrenseinleitende Schriftstück im Sinne von Art. 27 Ziff. 2
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BGE 123 III 374 S. 382
nämlich um ein einfaches Formular, das zusammen mit der Antragsschrift gelesen werden müsse, um verstanden zu werden. In der Literatur wurde daraus geschlossen, dass der Mahnbescheid des deutschen Zivilprozessrechts die vom Gerichtshof gestellten Anforderungen nicht erfülle und ein gestützt darauf ergangener Vollstrekkungsbescheid in einem andern Vertragsstaat nicht vollstreckt werden dürfte (WOLFGANG GRUNSKY, Das verfahrenseinleitende Schriftstück beim Mahnverfahren, IPRax 1996, S. 245 f.). Dasselbe wurde in Bezug auf den Zahlungsbefehl nach schweizerischem Betreibungsrecht angenommen (PAUL VOLKEN, Rechtsprechung zum Lugano-Übereinkommen [1995], SZIER 1996 S. 149 f.). c) Die vom Gerichtshof der europäischen Gemeinschaften beurteilten Fälle unterscheiden sich von dem hier vorliegenden Sachverhalt allerdings insofern, als dort die Beklagten nach Erhalt des Zahlungsbefehls jeweils keinen Widerspruch erhoben hatten, so dass es zum Erlass eines Vollstreckungsbescheids kam, ohne dass ein streitiges Verfahren durchgeführt worden wäre. Ob in einem solchen Fall, in dem schon das Mahnverfahren zur Ausstellung eines Vollstreckungsbescheids führt, das verfahrenseinleitende Schriftstück im Mahnbescheid zu erblicken ist, kann hier aber offenbleiben. Erhebt nämlich der Schuldner - wie im vorliegenden Fall - Widerspruch gegen den Mahnbescheid und beantragt eine Partei die Durchführung des streitigen Verfahrens, so endet das Mahnverfahren mit dem Akteneingang beim nunmehr zuständigen Gericht (BAUMBACH/LAUTERBACH/ALBERS/HARTMANN, a.a.O., N. 8 zu § 696 DZPO). Das Verfahren tritt damit in ein neues Stadium: Es erfolgt regelmässig ein Wechsel des zuständigen Gerichts, der Gläubiger hat seinen Anspruch in einer der Klageschrift entsprechenden Form zu begründen, und bei Eingang der Anspruchsbegründung ist nun wie im kontradiktorischen Verfahren vor den Landgerichten bei Einreichung einer Klage zu verfahren (§ 697 Abs. I und II DZPO). Mahnverfahren und streitiges Verfahren stellen demnach zwei grundlegend verschiedene Verfahrensarten dar. Im Mahnverfahren ist weder der Antrag auf Erlass des Mahnbescheids noch der Widerspruch zu begründen. Ebenso einfach wie der Antragsteller das Mahnverfahren in Gang setzen kann, vermag es der Antragsgegner durch Erhebung des Widerspruchs wieder zum Stillstand zu bringen. Die Wirkungen des Widerspruchs sind indessen auf das Mahnverfahren beschränkt. Die Zustellung des Mahnbescheids versetzt den Beklagten nur in die Lage, seine Rechte innerhalb dieses Verfahrens wahrzunehmen. Weder weiss er zu jenem Zeitpunkt, ob
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der Kläger seinen behaupteten Anspruch überhaupt weiterverfolgen wird, noch auf welche Grundlage dieser die Forderung stützt. Da der Kläger nach deutschem Zivilprozessrecht nach Erhebung des Widerspruchs die Überleitung in ein streitiges Verfahren zu beantragen und seinen Anspruch zu begründen hat, damit das Verfahren fortgesetzt wird (§§ 696 f. DZPO), ist der Anspruch des Beklagten auf Wahrung des rechtlichen Gehörs nur dann hinreichend gewährleistet, wenn er auch von dem Fortsetzungsantrag und der Anspruchsbegründung des Klägers Kenntnis erhalten hat, so dass er nun seinerseits in der Lage ist, die Fundiertheit des klägerischen Anspruchs zu beurteilen und sich mit einer begründeten Eingabe zu verteidigen. Das Obergericht hat deshalb Art. 27 Ziff. 2
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4. Fällt der Mahnbescheid als verfahrenseinleitendes Schriftstück ausser Betracht, kommt hiefür nur eine der folgenden, im Sachverhalt erwähnten Verfügungen in Frage. Keine von diesen wurde dem Beschwerdegegner persönlich, sondern alle ersatzweise öffentlich zugestellt, da er nach den Feststellungen des Obergerichts vor dem ersten Zustellungsversuch, nämlich bereits am 1. Juni 1994, seinen Wohnsitz in Deutschland aufgegeben hatte. Somit wäre im
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Lichte von Art. 27 Ziff. 2
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