123 I 56
8. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 23. April 1997 i.S. X. gegen Gemeinde Sils im Domleschg und Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste (de):
- Art. 4 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
- Eine Ungleichbehandlung von Mann und Frau hinsichtlich der Bezahlung von Feuerwehrpflichtersatz verstösst gegen Art. 4 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
- Eine Frist von nahezu 14 Jahren zur Anpassung eines verfassungswidrigen Gemeindereglements ist zu lange (E. 3).
Regeste (fr):
- Art. 4 al. 2 Cst.; taxe d'exemption du service du feu.
- Un traitement différent des hommes et des femmes en matière de paiement de la taxe d'exemption du service du feu viole l'art. 4 al. 2 Cst. (consid. 2).
- Il est excessif d'attendre presque 14 ans pour adapter un règlement communal contraire au droit constitutionnel (consid. 3).
Regesto (it):
- Art. 4 cpv. 2 Cost.; tassa d'esenzione dal servizio di protezione dal fuoco.
- Un trattamento diverso tra uomini e donne in materia di pagamento della tassa d'esenzione dal servizio di protezione dal fuoco viola l'art. 4 cpv. 2 Cost. (consid. 2).
- È eccessivo attendere quasi 14 anni per adattare un regolamento comunale contrario al diritto costituzionale (consid. 3).
Sachverhalt ab Seite 56
BGE 123 I 56 S. 56
X., wohnhaft in der Gemeinde Sils im Domleschg, liess eine am 25. März 1995 versandte Rechnung über Fr. 350.-- für Feuerwehrpflichtersatz für das Jahr 1995 unbezahlt. Am 21. Juli 1995 erliess die Feuerkommission der Gemeinde eine Veranlagungsverfügung, wogegen X. Einsprache mit der Begründung erhob, es widerspreche der Gleichstellung von Frau und Mann, wenn lediglich die Männer feuerwehr- sowie feuerwehrersatzpflichtig seien, die Frauen aber nicht. Die Feuerkommission wies die Einsprache mit Entscheid vom 5. Oktober 1995 ab. Gleich entschied auf Einsprache von X. hin der Gemeindevorstand Sils i.D. am 1. November 1995.
Gegen den Entscheid des Gemeindevorstandes erhob X. Rekurs an das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden. Dieses wies den Rekurs im Sinne der Erwägungen ab. Es gelangte zum Schluss, die auf Männer beschränkte Feuerwehr- und Ersatzabgabepflicht sei mit Art. 4 Abs. 2
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BGE 123 I 56 S. 57
abzuwägen gegen dasjenige des kommunalen Gesetzgebers, Gelegenheit zur Herstellung einer verfassungskonformen Rechtslage zu erhalten. Dabei falle in Betracht, dass der durch die verfassungswidrige Verfügung bewirkte Rechtsnachteil nicht schwer wiege. Auf den 1. Januar 1996 habe die Gemeinde sodann eine neue Feuerwehrverordnung in Kraft gesetzt, welche die Gleichstellung der Geschlechter gewährleiste. Auch wenn damit die Bereinigung des verfassungswidrigen Rechtszustands erst spät erfolgt sei, erscheine die Untätigkeit des kommunalen Gesetzgebers in zeitlicher Hinsicht gerade noch als akzeptabel. Zudem hätte die Gutheissung der Beschwerde eine Ungleichbehandlung zu den feuerwehrpflichtigen Männern zur Folge, womit die eine Verfassungswidrigkeit durch eine andere ersetzt würde. Unter diesen Umständen rechtfertige es sich, von der Aufhebung des angefochtenen Entscheids abzusehen. X. erhebt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Verwaltungsgerichts aufzuheben. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2. a) Das Verwaltungsgericht erachtete im angefochtenen Urteil die Ungleichbehandlung von Frau und Mann bei der Feuerwehr- und Ersatzabgabepflicht als verfassungswidrig. Die Gemeinde Sils i.D. beharrt demgegenüber in ihrer Vernehmlassung auf dem Standpunkt, dass die auf Männer beschränkte Feuerwehr- und Ersatzabgabepflicht verfassungsgemäss sei. Da die Beschwerdegegnerin im kantonalen Verfahren obsiegt hat und der Entscheid des Verwaltungsgerichtes sie nicht in ihrer Autonomie verletzt, könnte sie selber nicht staatsrechtliche Beschwerde führen. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist es indessen zulässig, dass die Beschwerdegegnerin in einem von der anderen Seite eingeleiteten Beschwerdeverfahren den angefochtenen Hoheitsakt in den ihr nachteiligen Punkten kritisiert (BGE 115 Ia 27 E. 4a S. 30, mit Hinweisen). Bevor auf die Frage einzugehen ist, welche Konsequenzen eine allfällige Verfassungswidrigkeit der auf Männer beschränkten Feuerwehr- und Ersatzabgabepflicht hat, ist demnach zu prüfen, ob die fragliche Regelung der Gemeinde Sils i.D. überhaupt, wie das Verwaltungsgericht angenommen hat, mit Art. 4 Abs. 2
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BGE 123 I 56 S. 58
Arbeit (Satz 3). Die Gleichstellung der Geschlechter in dieser Verfassungsbestimmung besagt, dass Mann und Frau ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Verhältnisse und Vorstellungen grundsätzlich in allen Bereichen gleich zu behandeln sind; die hergebrachten Anschauungen über die Rollen der Geschlechter sind rechtlich nicht mehr entscheidend. Dem kantonalen wie dem eidgenössischen Gesetzgeber ist es seit dem Inkrafttreten der Verfassungsbestimmung am 14. Juni 1981 grundsätzlich verwehrt, Normen zu erlassen, die Mann und Frau ungleich behandeln. Art. 4 Abs. 2
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BGE 123 I 56 S. 59
wenn sie darauf beruht, dass jede dienstleistende Person an vorderster Front im Einsatz steht, nicht bereits ausschlaggebend sein. Zu prüfen ist vielmehr, ob eine Änderung dieser Organisationsstruktur möglich ist, welche den Einbezug der Frauen zulässt (unveröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts vom 3. September 1992 i.S. Einwohnergemeinde Egerkingen, E. 4b). d) Es erscheint fraglich, ob an der bisherigen Rechtsprechung in allen Teilen festgehalten werden kann. Der blosse Umstand, dass eine Feuerwehrtätigkeit bestimmte Risiken birgt, kann jedenfalls nicht zur generellen Dispensation aller Frauen führen, würde das doch bedeuten, dass das Leben von Frauen schutzwürdiger und wertvoller wäre als dasjenige von Männern, was Art. 4 Abs. 2
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IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) EMRK Art. 14 Diskriminierungsverbot - Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten. |
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden. |
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a | eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist; |
b | eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist; |
c | eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen; |
d | eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört. |
BGE 123 I 56 S. 60
Diese Argumentation gilt auch für den vorliegenden Fall, in welchem nicht die tatsächliche Leistung des Feuerwehrdienstes, sondern einzig die Bezahlung der Ersatzabgabe in Frage steht. e) Im Lichte dieser Überlegungen sind die Erwägungen des Verwaltungsgerichts, wonach die bisherige Ungleichbehandlung von Frauen und Männern verfassungswidrig sei, ohne weiteres zutreffend. Selbst wenn die bisherige Praxis des Bundesgerichts zu Grunde gelegt wird, könnte eine geschlechterungleiche Regelung allenfalls dann verfassungsrechtlich zulässig sein, wenn schlüssig dargetan wäre, dass ein Einsatz von Frauen in der Feuerwehr praktisch ausgeschlossen ist und auch mit organisatorischen Massnahmen nicht bewerkstelligt werden könnte. Die Beschwerdegegnerin bringt jedoch keine konkreten Umstände vor, die eine Ungleichbehandlung im genannten Sinne rechtfertigen würden. Sie hat selber auf den 1. Januar 1996 eine neue Feuerwehrverordnung in Kraft gesetzt, welche die Feuerwehrpflicht für Frauen vorsieht. Zwar macht sie geltend, dass die bisher bestehende Unterscheidung zwischen Leiter- und Löschzug aufgehoben sei und demnach alle Korpsangehörigen den gleichen Dienst zu leisten hätten. Doch versehen seither, wie sie selber vorbringt, drei Frauen Dienst in der Feuerwehr, was belegt, dass es möglich ist, Frauen in die Wehrdienste zu integrieren. Unter diesen Umständen ist eine geschlechtsspezifische Regelung der Feuerwehrpflicht jedenfalls nicht zulässig.
3. a) Das Verwaltungsgericht hat, wiewohl es zur nämlichen Auffassung gelangte, den Einspracheentscheid des Gemeindevorstands Sils i.D. nicht aufgehoben, weil es sachlich angebracht sei, den Gemeinden einen etwas grosszügigeren Rahmen für die Anpassung verfassungswidriger Erlasse einzuräumen. b) Grundsätzlich werden kantonale - und damit auch kommunale - Gesetze, die zu Bestimmungen der Bundesverfassung in Widerspruch stehen, mit deren Annahme ausser Kraft gesetzt (Art. 2
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden. |
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a | eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist; |
b | eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist; |
c | eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen; |
d | eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört. |
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
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BGE 123 I 56 S. 61
betroffen seien (ZBl 88/1987 S. 306 E. 3b in fine, E. 5). Dabei ist hervorzuheben, dass damals eine Ersatzabgabe für das Abgabejahr 1982 in Frage stand; bereits für diesen Zeitraum die Gesetzgebung an die kurz zuvor geänderte Verfassungslage anzupassen, wäre nahezu unmöglich gewesen. Vorliegend geht es jedoch um eine Ersatzabgabe für das Jahr 1995. Eine derart lange Übergangsfrist für die Beseitigung verfassungswidriger Ungleichbehandlungen von Frau und Mann lässt sich nicht mehr hinnehmen (Müller, a.a.O., Rz. 139, mit Hinweisen). Dies hat das Bundesgericht in anderem Zusammenhang bereits vor mehreren Jahren festgestellt. So hat es im Hinblick auf die politischen Rechte (Frauenstimmrecht) eine Frist von neun Jahren als zu lange bezeichnet (BGE 116 Ia 359 E. 10b S. 380), im Hinblick auf sozialversicherungsrechtliche Regelungen (Witwerrente) eine Frist von sieben Jahren als eindeutig zu lange (BGE 116 V 198 E. II/3b S. 215). Indem das Verwaltungsgericht vorliegend der Beschwerdegegnerin eine Übergangsfrist von nahezu 14 Jahren zubilligte, hat es einen verfassungswidrigen Zustand toleriert, der sich nicht mehr mit unausweichlichen Schwierigkeiten einer Gesetzesanpassung rechtfertigen lässt. Dass die Beschwerdegegnerin mittlerweile (auf den 1. Januar 1996) ihre Regelung an Art. 4 Abs. 2
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BGE 123 I 56 S. 62
der Geschlechtergleichheit nicht die grundlegende Neu- und Umgestaltung einer komplexen Regelungsmaterie erfordert, bleibt der Richter gehalten, der Verfassung zum Durchbruch zu verhelfen (BGE 116 V 198 E. II/3b S. 215 f.; BEATRICE WEBER-DÜRLER, Grenzen des Rechtsschutzes bei der Gleichberechtigung, Festschrift Bigler, Basel und Frankfurt a.M. 1993, S. 349 ff.). Gerade für die Feuerwehrersatzabgabe hat das Bundesgericht bereits im zitierten Urteil vom 10. Oktober 1986 festgehalten, dass die Natur der strittigen Regelungsmaterie nicht dazu führen könne, von der Aufhebung der verfassungswidrigen Veranlagungsverfügung abzusehen (ZBl 88/1987 S. 306 E. 5). Ausschlaggebend für die Abweisung der Beschwerde war damals die dem Gesetzgeber einzuräumende Übergangsfrist, welche heute, wie dargetan, nicht mehr in Anspruch genommen werden kann. d) Zu beachten ist schliesslich auch, dass aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (vorne E. 2d) der Beschwerdeführer in seinen durch die Europäische Menschenrechtskonvention garantierten Rechten verletzt bliebe (Art. 25
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) EMRK Art. 25 - Das Plenum des Gerichtshofs |
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a | wählt seinen Präsidenten und einen oder zwei Vizepräsidenten für drei Jahre; ihre Wiederwahl ist zulässig; |
b | bildet Kammern für einen bestimmten Zeitraum; |
c | wählt die Präsidenten der Kammern des Gerichtshofs; ihre Wiederwahl ist zulässig; |
d | beschliesst die Verfahrensordnung des Gerichtshofs; |
e | wählt den Kanzler und einen oder mehrere stellvertretende Kanzler; |
f | stellt Anträge nach Artikel 26 Absatz 2. |