122 I 203
28. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 13. August 1996 i.S. H. und K. gegen Rekurskommission des Obergerichts des Kantons Thurgau (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste (de):
- Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
- Aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
Regeste (fr):
- Art. 4 Cst. Droit à l'assistance judiciaire.
- L'art. 4 Cst. ne confère en principe aucun droit à l'octroi rétroactif de l'assistance judiciaire pour des frais qui sont déjà intervenus avant le dépôt de la demande d'assistance judiciaire.
Regesto (it):
- Art. 4 Cost. Diritto all'assistenza giudiziaria.
- L'art. 4 Cost. non conferisce di massima alcun diritto alla concessione retroattiva dell'assistenza giudiziaria per spese già sorte prima dell'introduzione della domanda di assistenza giudiziaria.
Sachverhalt ab Seite 203
BGE 122 I 203 S. 203
A.- In einem arbeitsrechtlichen Prozess hiess das Bezirksgericht Arbon mit Urteil vom 23. September/3. November 1994 die Klage von Frau H. gegen ihren früheren Arbeitgeber Z. teilweise gut. Gegen diesen Entscheid legte Z. Berufung ein. Frau H. erklärte Anschlussberufung. In der Folge reduzierte sie ihr Rechtsbegehren auf Fr. 8'000.--, so dass die Streitsache in die Zuständigkeit der Rekurskommission des Obergerichts des Kantons Thurgau fiel. In der Beweisverhandlung vom 11. September 1995 stellte Rechtsanwalt Dr. K., der Frau H. von der Anhebung des Prozesses an vertreten hatte, den Antrag, er sei ihr als unentgeltlicher Rechtsbeistand beizuordnen. Mit Urteil vom 16. Oktober/5. Dezember 1995 wies die Rekurskommission die Berufung ab, sprach Frau H. in Gutheissung der Anschlussberufung Fr. 8'000.-- nebst Zins zu und verpflichtete Z., der im Verfahren vollständig unterlegen war, zur Zahlung einer Parteientschädigung von Fr. 4'821.80. Das Gesuch von Frau H. um unentgeltliche Rechtsverbeiständung erachtete die Rekurskommission als gegenstandslos.
B.- Mit Schreiben vom 25. Januar 1996 teilte Rechtsanwalt K. der Rekurskommission mit, Z. sei mit unbekanntem Ziel abgereist und halte sich mutmasslich in Polen auf. Damit erschienen die Forderung aus dem Arbeitsverhältnis und die zugesprochene Parteientschädigung als uneinbringlich, zumal Z. in der Schweiz offenbar über kein Vermögen verfüge. Die Parteientschädigung sei deshalb anhand der am 11. September 1995 eingereichten Kostennote festzulegen und aus der Gerichtskasse zu bezahlen.
BGE 122 I 203 S. 204
Mit Beschluss vom 4. März/18. April 1996 gewährte die Rekurskommission Rechtsanwalt K. eine Entschädigung von Fr. 700.-- zuzüglich Mehrwertsteuer aus der Obergerichtskasse.
C.- Das Bundesgericht weist die staatsrechtliche Beschwerde, die Frau H. gegen diesen Entscheid erhob, ab.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2. Die Beschwerdeführerin hatte in ihrem an der Beweisverhandlung vor der Rekurskommission vorgebrachten Gesuch die Gewährung der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung für das ganze erst- und zweitinstanzliche Verfahren beantragen lassen. Die Rekurskommission hat einen Armenrechtsanspruch der Beschwerdeführerin jedoch nur für die Zeit seit dem Gesuch anerkannt und daher nur für die Kosten der anwaltschaftlichen Bemühungen im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Durchführung der Beweisverhandlung vom 11. September 1995 eine Entschädigung aus der Obergerichtskasse beschlossen. Darin erblickt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
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SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 343 |
BGE 122 I 203 S. 205
Zahlungsunfähigkeit oder Abreise der Gegenpartei ins Ausland mit unbekanntem Aufenthalt als uneinbringlich erweisen könnte. Der sich aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
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IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) EMRK Art. 6 Recht auf ein faires Verfahren - (1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder - soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält - wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde. |
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a | innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden; |
b | ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben; |
c | sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist; |
d | Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten; |
e | unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht. |
BGE 122 I 203 S. 206
soll. In Lehre und Rechtsprechung zu den kantonalen Regelungen wird überwiegend der Zeitpunkt der Gesuchseinreichung als massgebend angesehen. Eine rückwirkende Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege für Kosten, die vor diesem Zeitpunkt angefallen sind, wird in einzelnen Kantonen unter einschränkenden Voraussetzungen befürwortet, in den anderen Kantonen aber abgelehnt (BGE 120 Ia 14 E. 3e S. 16 f., mit Hinweisen). Ausgeschlossen ist eine Rückwirkung insbesondere im Kanton Zürich. Die Zürcher Praxis steht auf dem Standpunkt, dass die unentgeltliche Rechtsverbeiständung dem Unbemittelten ermöglichen solle, seine Ansprüche vor Gericht richtig zur Geltung zu bringen, und dass sie daher nur auf die Zukunft gerichtet sei. Soweit der Anwalt schon vor seiner Bestellung zum unentgeltlichen Rechtsbeistand für die gesuchstellende Partei tätig gewesen sei, sei der Zweck des Armenrechts anderweitig bereits erreicht. Eine rückwirkende Entschädigung für die früheren Bemühungen würde diesfalls darauf hinauslaufen, dass der Anwalt, der aus irgendwelchen Gründen die Prozessvertretung eines wenig bemittelten Klienten übernommen habe, ohne ausreichende Vorschüsse zu verlangen oder schon zu Beginn des Prozesses um Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes zu ersuchen, das dadurch eingegangene wirtschaftliche Risiko nachträglich auf den Staat abwälzen könnte (ZR 76/1977, Nr. 25, S. 44 ff.; 72/1973 Nr. 19, S. 32; 39/1940, Nr. 146a, S. 327 f.; abweichend 53/1954, Nr. 46, S. 118 f.; vgl. auch STRÄULI/MESSMER, Kommentar zur Zürcherischen Zivilprozessordnung, 2. Aufl. 1982, N. 2 zu § 90; ähnlich für den Kanton Aargau AGVE 1979, Nr. 10, S. 54 ff., und 1965, Nr. 13, S. 46 ff.; BEAT RIES, Die unentgeltliche Rechtspflege nach der aargauischen Zivilprozessordnung vom 18. Dezember 1984, S. 154 ff.; für den Kanton Tessin Rep. 1969, S. 80 ff.). Die baselstädtischen Gerichte gewähren demgegenüber die unentgeltliche Rechtspflege dann rückwirkend für bereits entstandene Kosten, wenn die gesuchstellende Partei nachweist, dass sich ihre finanziellen Verhältnisse während des Prozesses verschlechtert haben. Diese Praxis beruht im wesentlichen auf der Überlegung, dass es unbillig wäre, eine Partei dafür zu bestrafen, dass sie zuerst hoffte, den Prozess selber finanzieren zu können (BJM 1989, S. 227 f.; BJM 1974, S. 124 f.; AGE VIII, S. 134 f.; STAEHELIN/SUTTER, Zivilprozessrecht, S. 195 f. Rz. 26; ähnlich auch WAMISTER, a.a.O.). Noch weiter geht anscheinend die Glarner Praxis (vgl. THOMAS NUSSBAUMER, Ausgewählte Rechtsbehelfe der Glarner Zivilprozessordnung, Diss. Zürich 1980, S. 53 f.). Engere Grenzen zieht
BGE 122 I 203 S. 207
dagegen die Solothurner Rechtsprechung; sie lässt eine Rückwirkung über das Datum der Gesuchseinreichung nur zu, wenn "ganz besondere Umstände" vorliegen, so wenn noch keine wesentlichen Prozesshandlungen gesetzt sind, wenn die Partei über die Möglichkeit, die unentgeltliche Rechtspflege zu erhalten, nicht informiert war oder wenn sie ihren Anwalt aus Unwissen oder Irrtum über ihre finanziellen Verhältnisse nicht unterrichtet hat und dieser ihre Bedürftigkeit auch nicht aufgrund der Umstände erkennen konnte (SOG 1980, Nr. 6, S. 22). Nach den Kommentatoren zur neuen Luzerner Zivilprozessordnung kann die unentgeltliche Rechtspflege ausnahmsweise rückwirkend gewährt werden, um sachlich zwingende und zeitlich dringende Prozesshandlungen vor der Gesuchseinreichung abzudecken (STUDER/RÜEGG/EIHOLZER, Der Luzerner Zivilprozess, N. 4 zu § 131). e) Die unentgeltliche Rechtspflege ist nicht nur ein Problem des Rechtsstaates, sondern immer auch ein solches der Finanzen. Auch in diesem Gebiet staatlichen Wirkens gilt es, die Finanzbelastung des Gemeinwesens in vernünftigen Grenzen zu halten (HAEFLIGER, Der bundesrechtliche Anspruch auf unentgeltliche Verteidigung, in: FS Schultz, ZStrR 94/1977, S. 298; WAMISTER, a.a.O., S. 161). Es darf daher den Kantonen nicht verwehrt werden, bei der näheren Ausgestaltung der Wirkungen der unentgeltlichen Rechtspflege auch auf dieses Ziel Rücksicht zu nehmen. In welcher Form dies geschehen soll, ist weitgehend eine rechtspolitische Frage, deren Beantwortung nicht Sache der Verfassungsgerichtsbarkeit ist, zumal - wie sich aus dem Gesagten ergibt (E. c und d hievor) - im einzelnen für verschiedene Lösungen gute Gründe angeführt werden können. Da Art. 4
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BGE 122 I 203 S. 208
Art. 4
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BGE 122 I 203 S. 209
Kostenvorschüsse einverlangt hat, sind bei einem erst während des bereits laufenden Prozesses gestellten Gesuch nur insofern von Bedeutung, als sie bei der Beurteilung der - auf die künftigen Gerichts- und Parteikosten bezogenen - Prozessarmut der gesuchstellenden Partei mitzuberücksichtigen sind. Entsprechendes gilt für Verschlechterungen der finanziellen Situation, die während des Prozesses aus prozessfremden Gründen, beispielsweise infolge Arbeitslosigkeit, eingetreten sind. g) Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin kann auch keine Rede davon sein, dass der sich aus Art. 4
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