121 I 314
43. Beschluss der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 8. November 1995 i.S. Cumali Adir, Selahattin Kilinc und Mehmet Sari gegen Regierungsrat des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste (de):
- Art. 152 OG im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle.
- Art. 152 OG gilt grundsätzlich für alle vom Organisationsgesetz vorgesehenen Verfahren (E. 2). Wegen der Besonderheiten des Verfahrens der abstrakten Normenkontrolle (E. 3) sind sowohl die Beigabe eines unentgeltlichen Rechtsanwalts (E. 4a) als auch die Kostenbefreiung (E. 4b) in der Regel ausgeschlossen. Keine Ausnahme im Falle von Ausländern, welche die Änderung der Zürcher Verordnung über die kantonalen Polizeigefängnisse im Hinblick auf die gemäss Zwangsmassnahmengesetz Inhaftierten anfechten (E. 5).
Regeste (fr):
- Art. 152 OJ; application dans une procédure de contrôle abstrait des normes.
- L'art. 152 OJ est applicable en principe à toutes les procédures prévues par la loi d'organisation judiciaire (consid. 2). En raison des particularités de la procédure de contrôle abstrait des normes (consid. 3), il est généralement exclu d'y accorder l'assistance gratuite d'un avocat (consid. 4a), de même que la dispense des frais judiciaires (consid. 4b). Il n'y a pas lieu de déroger à cette règle dans le cas d'étrangers qui attaquent les modifications de l'ordonnance zurichoise sur les maisons d'arrêts visant à réglementer le régime de détention selon la loi fédérale sur les mesures de contrainte (consid. 5).
Regesto (it):
- Art. 152 OG; applicazione in una procedura di controllo astratto delle norme.
- L'art. 152 OG, in linea di principio, è applicabile a tutte le procedure previste dalla legge sull'organizzazione giudiziaria (consid. 2). A causa delle particolarità della procedura di controllo astratto delle norme (consid. 3), sono generalmente escluse la concessione del gratuito patrocinio (consid. 4a) o la dispensa dal versamento delle spese processuali (consid. 4b). Non vi è motivo di derogare a tale regola nel caso di stranieri che impugnano le modifiche dell'ordinanza zurighese sulle carceri di polizia concernenti il regime carcerario secondo la legge federale sulle misure coercitive (consid. 5).
Erwägungen ab Seite 315
BGE 121 I 314 S. 315
Erwägungen:
1. Der Regierungsrat des Kantons Zürich beschloss am 5. April 1995 die Änderung verschiedener Bestimmungen der Verordnung vom 25. Juni 1975 über die kantonalen Polizeigefängnisse (POV). Im Namen von drei türkischen Staatsangehörigen, nämlich von Cumali Adir, mit einer Schweizerin verheirateter Inhaber der Niederlassungsbewilligung, von Selahattin Kilinc, Inhaber der Jahresaufenthaltsbewilligung, und von Mehmet Sari, Asylbewerber, erhob Rechtsanwalt Peter Frei am 29. Mai 1995 staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss des Regierungsrats. Mit der Beschwerde wird im wesentlichen hinsichtlich der im Sinne von Art. 13a und 13b ANAG (SR 142.20) Inhaftierten und der übrigen administrativ Verhafteten die Aufhebung verschiedener Paragraphen der Polizeigefängnis-Verordnung beantragt. Für das bundesgerichtliche Verfahren wird um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und der unentgeltlichen Verbeiständung durch Rechtsanwalt Peter Frei ersucht.
2. a) Das Bundesgericht gewährt einer Partei auf Antrag Befreiung von der Bezahlung der Gerichtskosten unter den zwei Voraussetzungen, dass sie bedürftig ist und ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint (Art. 152 Abs. 1 OG). "Nötigenfalls" kann ihr zudem ein Rechtsanwalt beigegeben werden, dessen Honorar im Falle des Unterliegens vom Bundesgericht festgesetzt und von der Bundesgerichtskasse ausgerichtet wird (Art. 152 Abs. 2 OG).
b) Art. 152 OG enthält keine Einschränkungen in bezug auf die Art des jeweiligen Verfahrens, und das Armenrecht kann an sich für alle vom Organisationsgesetz vorgesehenen Verfahren beansprucht werden. Demgegenüber anerkannte die Rechtsprechung einen direkt aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
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dass die über das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege entscheidende Behörde der Natur und den Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens Rechnung trägt (vgl. BGE 114 V 228 E. 5a S. 234), wenn sie prüft, ob die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege sachlich geboten ist (BGE 119 Ia 264 E. 3b S. 265). So verhält es sich auch für Gesuche nach Art. 152 OG. c) Die Gesuchsteller fechten nicht eine konkrete, sie persönlich treffende Verfügung an, sondern einzelne Bestimmungen einer regierungsrätlichen Verordnung. Sie beantragen deren Überprüfung im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle. Dieses zeichnet sich durch Besonderheiten aus, die für die Beurteilung des Armenrechtsgesuchs von Bedeutung sind.
3. a) Gemäss ständiger Rechtsprechung kann mit staatsrechtlicher Beschwerde lediglich die Verletzung in rechtlich geschützten eigenen Interessen gerügt werden (BGE 117 Ia 90 E. 2a S. 93; BGE 114 Ia 307 E. 3b S. 311 mit Hinweisen). Zur Verfolgung allgemeiner öffentlicher Interessen ist die staatsrechtliche Beschwerde nicht gegeben (ebenda). Dies ergibt sich aus Art. 88
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bedürftigen legitimierten Partei gestellte Normenkontrollbegehren nicht aussichtslos ist, kann schon aus diesem Grund nicht ohne weiteres Anspruch auf Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege geben. b) Auszugehen ist von Sinn und Zweck des Instituts der unentgeltlichen Rechtspflege, welches sich am Rechtsgleichheitsgebot orientiert. Danach soll eine nicht über genügend finanzielle Mittel verfügende Partei in den Stand versetzt werden, zur Durchsetzung ihrer Rechte einen Prozess zu führen, und es soll ihr, gleich wie einer vermögenden Partei, der Zugang zum Gericht möglich sein (vgl. BGE 119 Ia 134 E. 4 S. 135; Andreas KLEY-STRULLER, Der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, in AJP 2/95 S. 179). Die Aufgabe des Staates beschränkt sich darauf, den einzelnen dann zu unterstützen, wenn er ohne diese Unterstützung eines Rechtes verlustig ginge oder sich gegen einen als unzulässig erachteten Eingriff nicht wehren könnte. Derartige Nachteile drohen in der Regel nicht bereits dann unmittelbar, wenn ein Gesetz oder eine Verordnung erlassen wird; erst die Anwendung einer Norm im Einzelfall führt zu einem massgeblichen Eingriff in Rechte, und es genügt, wenn einer betroffenen bedürftigen Partei die unentgeltliche Prozessführung in jenem Zeitpunkt bewilligt wird und der erforderliche individuelle Rechtsschutz auf diese Weise garantiert bleibt (nicht veröffentlichter Beschluss des Bundesgerichts i.S. O.D. vom 10. Mai 1988). Nur ausnahmsweise wird es sich anders verhalten und ein Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege bereits für die präventive Anfechtung einer generell-abstrakten Norm zu bejahen sein, nämlich dann etwa, wenn aufgrund der Umstände mit einem sofortigen Anwendungsakt zu rechnen ist und der Betroffene sich gegenüber den rechtsanwendenden Behörden, zum Beispiel mangels förmlicher Anfechtungsmöglichkeiten, nicht wirksam wird wehren können.
4. a) Nach dem Gesagten wird die Beigabe eines unentgeltlichen Rechtsanwalts für ein Verfahren der abstrakten Normenkontrolle regelmässig ausgeschlossen sein. Der Staat kann zur Übernahme eines anwaltlichen Honorars nur verpflichtet sein, wenn andernfalls die Rechte der Partei nicht wirksam gewahrt werden können. Art. 152 Abs. 2 OG knüpft diese staatliche Hilfe ausdrücklich an die Voraussetzung der Notwendigkeit ("nötigenfalls"). Notwendig erscheint die Beigabe eines unentgeltlichen Rechtsanwalts von vornherein nur dann, wenn durch das in Frage stehende Verfahren die Interessen einer Partei in schwerwiegender Weise unmittelbar
BGE 121 I 314 S. 318
betroffen sind (vgl. BGE 120 Ia 43 E. 2a S. 44 f.). Der Erlass einer Norm hat in der Regel noch keine derartigen Auswirkungen.
b) Das Gesetz knüpft die Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung im engeren Sinne (Befreiung von der Bezahlung von Gerichtskosten und damit Befreiung von der Bezahlung eines Kostenvorschusses) an weniger strenge Bedingungen als die Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung durch einen Rechtsanwalt. Art. 152 Abs. 1 OG nennt nur die zwei Voraussetzungen, dass die Partei bedürftig sein muss und ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint; bloss für die Beigabe eines unentgeltlichen Rechtsanwalts wird das Kriterium der Notwendigkeit erwähnt ("nötigenfalls"; Art. 152 Abs. 2 OG).
Die publizierte Rechtsprechung (zu Art. 4
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aber noch andere Rechtswege offenstehen und die Anrufung des Bundesgerichts deshalb nicht erforderlich ist. Auch ein Anspruch auf Kostenbefreiung ist einer Partei nur dann zuzuerkennen, wenn sie anders ihre Rechte nicht wirksam wahrnehmen könnte, der Prozess für sie also notwendig erscheint. Dies ist, wie vorne dargelegt, in der Regel nicht der Fall, wenn eine Norm angefochten wird. Der Staat ist nicht verpflichtet, einer bedürftigen Partei, welche eine sie nicht unmittelbar treffende staatliche Massnahme überprüfen lassen will, die Prozessführung durch finanzielle Hilfe zu ermöglichen. Dies gilt gleichermassen für die Übernahme des Honorars eines Rechtsanwalts wie für das Einräumen der Möglichkeit, den Justizapparat kostenlos zu beanspruchen.
5. a) Die Gesuchsteller sind von den angefochtenen Verordnungsbestimmungen vorerst nicht unmittelbar betroffen. Die Verordnung käme auf sie dann zur Anwendung, wenn gegen sie gestützt auf Art. 13a oder 13b (ANAG) in der Fassung des Bundesgesetzes vom 18. März 1994 über Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht (AS 1995 151) Vorbereitungs- oder Ausschaffungshaft angeordnet würde. Dass es dazu kommen könnte, erscheint zumindest im Falle von Cumali Adir, welcher als mit einer Schweizerin verheirateter Ausländer die Niederlassungsbewilligung hat, äusserst wenig wahrscheinlich. Auch für Selahattin Kilinc, welcher wegen Vorliegens eines Härtefalles eine von den Höchstzahlen ausgenommene Aufenthaltsbewilligung hat, werden in absehbarer Zeit die Verordnungsbestimmungen nicht praktische Bedeutung erlangen. Am ehesten könnte die Verordnung wohl im Falle von Mehmet Sari zur Anwendung kommen, welcher Asylbewerber ist. Verschiedene Haftgründe gemäss Art. 13a ANAG (Vorbereitungshaft) fallen für ihn allerdings vermutlich bereits definitiv ausser Betracht, nämlich Art. 13a lit. a
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Sollte in Zukunft gegen einen der Gesuchsteller dennoch Haft gemäss Zwangsmassnahmengesetz angeordnet werden, könnten die gegen die angefochtene Verordnung geltend gemachten Rügen allenfalls dem Haftrichter vorgetragen werden, der innert 96 Stunden nach Haftanordnung, ferner nach drei Monaten Haftdauer und zusätzlich auf Haftentlassungsgesuche hin tätig werden müsste und dabei auch die Umstände des Haftvollzugs zu prüfen hätte (Art. 13c Abs. 3
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BGE 121 I 314 S. 320
in konkreter Normenkontrolle prüfen würde. Dem Rechtsschutzbedürfnis der Gesuchsteller ist Genüge getan, wenn sie in einem derartigen Verfahren - unter den Bedingungen des Art. 152 OG - die unentgeltliche Rechtspflege beanspruchen können. Es besteht somit keine Notwendigkeit, den Gesuchstellern für das bundesgerichtliche Verfahren einen unentgeltlichen Rechtsanwalt beizugeben und sie von der Kostenpflicht bzw. der Pflicht zur Bezahlung eines Vorschusses zu befreien. b) Das Gesuch ist demnach vollumfänglich abzuweisen, ohne dass geprüft werden muss, ob die eingereichten Belege ausreichen, um für jeden einzelnen Gesuchsteller die Bedürftigkeit im Sinne von Art. 152 Abs. 1 OG nachzuweisen. Es ist ihnen vom Abteilungspräsidenten mit separater Verfügung Frist zur Bezahlung eines Kostenvorschusses anzusetzen.