Urteilskopf

118 II 97

21. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 2. April 1992 i.S. L. gegen L. (Berufung)
Regeste (de):

Regeste (fr):

Regesto (it):


Erwägungen ab Seite 98

BGE 118 II 97 S. 98

Aus den Erwägungen:

4. Der Unterhaltsbeitrag hat grundsätzlich den wirtschaftlichen Verhältnissen des Unterhaltspflichtigen zu entsprechen. Wer mittellos ist, kann nicht verpflichtet werden, Unterhalt zu leisten, es sei denn, er könne seine Mittellosigkeit durch zumutbare Arbeit selber beheben (HEGNAUER, Grundriss des Kindesrechts, 3. Aufl., Bern 1989, S. 144, Rz. 21.15). Das eigene Existenzminimum des Unterhaltspflichtigen ist somit bei der Festsetzung von Unterhaltsbeiträgen grundsätzlich zu respektieren.
a) Gemäss konstanter bundesgerichtlicher Rechtsprechung kommt der über die Mündigkeit des Kindes hinausgehenden Unterhaltspflicht der Eltern Ausnahmecharakter zu (BGE 111 II 416; BGE 113 II 376; BGE 115 II 126 f.; die Kritik bei STETTLER, Das Kindesrecht, SPR, Basel 1992, S. 306 f., richtet sich an den Gesetzgeber, nicht an die Rechtsprechung). Dies zeigt sich einmal darin, dass Unterhalt überhaupt nur geschuldet ist, wenn sich der Jugendliche noch in Ausbildung befindet und diese beruflichen Charakter hat (BGE 115 II 126). Zudem besteht eine Unterhaltspflicht nur für eine berufliche Ausbildung; Zweitausbildung, Weiterbildung und Zusatzausbildung fallen grundsätzlich nicht darunter, auch wenn sie als nützlich angesehen werden können. Anders verhält es sich jedoch, wenn es um die erste eigentliche Berufsausbildung geht, selbst wenn sie erst begonnen wird, nachdem der Jugendliche bereits erwerbstätig gewesen ist (BGE 107 II 409 E. 2a). Die Ausbildung muss überdies einem - zumindest in seinen Grundzügen (vgl. BGE 107 II 408 f.) - bereits vor der Mündigkeit angelegten Lebensplan entsprechen (BGE 115 II 127; kritisch: STETTLER, SPR, S. 304 f.). Schliesslich folgt aus dem Ausnahmecharakter auch, dass die Unterhaltsleistungen aufgrund der persönlichen Beziehung zwischen den Parteien und der wirtschaftlichen Leistungskraft des Pflichtigen als zumutbar erscheinen müssen. Soll dem letzten Erfordernis eine selbständige Bedeutung zukommen, bedeutet dies, dass eine Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem mündigen Kind nur in Frage kommen kann, wenn ein Elternteil über
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einiges mehr als den eigenen Notbedarf verfügt. Während es den Eltern zuzumuten ist, sich für den Unterhalt des unmündigen Kindes bis zu ihrem eigenen Existenzminimum einzuschränken, rechtfertigt es sich nicht, Eltern volljähriger Kinder eine ebenso weitgehende Einschränkung zuzumuten. Die Unterhaltsbedürfnisse weisen unterschiedliche Dringlichkeitsgrade auf. Während die unmittelbaren Bedürfnisse eines Kindes wie Kleidung, Nahrung, Wohnung und dergleichen zweifellos an erster Stelle stehen und es den Eltern zuzumuten ist, nötigenfalls selbst auf einen bescheidenen Wohlstand zu verzichten, um diese Bedürfnisse zu decken, stellt eine höhere Berufsausbildung ein weniger elementares Bedürfnis dar, obgleich sie keinesfalls als Luxus bezeichnet werden kann. Es erscheint mit dem Ausnahmecharakter der Unterhaltspflicht über die Mündigkeit hinaus nicht vereinbar, den Eltern den Verzicht auf jeden noch so bescheidenen Wohlstand zuzumuten, um eine höhere Ausbildung ihres Kindes zu finanzieren (vgl. JAKOB GROB, Die familienrechtlichen Unterhalts- und Unterstützungsansprüche des Studenten, Diss. Bern 1975, S. 32). b) Es fragt sich, um wieviel das Einkommen des Unterhaltspflichtigen dessen Notbedarf übersteigen muss, damit diesem Unterhaltsleistungen an ein mündiges Kind zugemutet werden können. aa) Im Zusammenhang mit der Bedürftigkeitsrente geschiedener Ehegatten nach Art. 152 ZGB geht die neuere bundesgerichtliche Rechtsprechung davon aus, dass von einer Bedürftigkeit im Sinne dieser Bestimmung grundsätzlich dann gesprochen werden kann, wenn das Einkommen nicht mehr als 20% über dem Notbedarf liegt (BGE 114 II 304 mit Hinweis auf einen nicht publizierten Entscheid vom 16. (recte: 15.) Juni 1982; bestätigt im nicht publ. Entscheid vom 10. Mai 1990 i.S. R. c. R., E. 5b; HAUSHEER, Neuere Tendenzen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung im Bereiche der Ehescheidung, ZBJV 1986, S. 63; SPÜHLER/FREI-MAURER, Berner Kommentar, Ergänzungsband, 1991, N. 10 zu Art. 152 ZGB). Dabei ist der Notbedarf schon um die laufende Steuerlast zu erweitern, da die Beitragsfestsetzung - im Gegensatz zur Zwangsvollstreckung - auf eine gewisse Dauer angelegt ist und deshalb Schulden nicht einfach nach ihrer zeitlichen Priorität berücksichtigt werden können, sondern dem Umstand Rechnung getragen werden muss, dass Einkommen und Ausgaben auf die Dauer ausgewogen zu sein haben.
Entsprechende Überlegungen gelten auch, wenn im Zusammenhang mit der Bedürftigkeitsrente nach Art. 152 ZGB die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners beurteilt werden muss. Das Ausrichten
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einer in der dargestellten Art errechneten Bedürftigkeitsrente kann einem Ehegatten nur zugemutet werden, wenn der verbleibende Teil seines Einkommens wenigstens seinen um 20% erhöhten Notbedarf noch deckt (vgl. BGE 114 II 304). Die gleichen Überlegungen treffen aber auch auf die Lage des Unterhaltspflichtigen zu, der für die Ausbildung eines mündigen Kindes aufkommen soll. Auch bei ihm müssen die Einnahmen und Ausgaben auf die Dauer ausgeglichen sein. Zudem kann ihm nicht zugemutet werden, bloss über den nackten Notbedarf zu verfügen, um seinem volljährigen Kind eine höhere Ausbildung zu finanzieren. Es rechtfertigt sich deshalb, Unterhaltsleistungen gegenüber dem volljährigen Kind grundsätzlich nur dann als wirtschaftlich zumutbar anzusehen, wenn dem Unterhaltspflichtigen nach Abzug der Unterhaltsbeiträge noch ein Einkommen verbleibt, das dessen (erweiterten) Notbedarf um ungefähr 20% übersteigt. bb) Dies darf allerdings - wie beim Begriff der grossen Bedürftigkeit nach Art. 152 ZGB (vgl. Bundesgericht in BJM 1980, S. 192 f., und Urteil vom 10. Mai 1990 i.S. R. c. R., E. 5b) - nur als Grundsatz verstanden werden, von dem im Einzelfall nach oben oder unten abgewichen werden kann, wenn es die konkreten Umstände rechtfertigen. Ein Unterschreiten dieser Limite könnte sich im Einzelfall rechtfertigen, wenn es beispielsweise darum geht, nur noch wenige Monate einer Ausbildung zu finanzieren, oder wenn der Unterhaltspflichtige Aussicht darauf hat, in absehbarer Zeit sein Einkommen wesentlich zu verbessern. Andererseits könnte die Limite höher anzusetzen sein, wenn der Unterhaltspflichtige nachweist, dass er auf Rückstellungen für die Zukunft angewiesen ist. cc) Der Beklagte geht in der Berufungsschrift nicht von einem Zuschlag von 20% auf dem gesamten (erweiterten) Notbedarf aus, um das Mindestmass seiner Leistungsfähigkeit zu bestimmen, sondern fordert eine Erhöhung des im Notbedarf inbegriffenen Grundbetrages um die Hälfte. Der Grundbetrag ist eine nicht individuell bestimmte Pauschale, welche die allgemeinen Kosten für Ernährung, Bekleidung, kulturelle Bedürfnisse, Taschengeld und anderes mehr erfassen soll. Diese Betrachtungsweise führt indessen vorliegend nicht zu einem wesentlich anderen Ergebnis. Es braucht deshalb auch nicht geprüft zu werden, ob sich ein Abweichen von der aufgestellten Regel rechtfertigt, wenn sich bei einer fünfzigprozentigen Erhöhung des Grundbedarfs ein erheblich anderer Betrag ergibt als bei der Erhöhung des (erweiterten) Notbedarfs um 20%.
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dd) Das Obergericht hat einen erweiterten Lebensbedarf des Beklagten von Fr. 4'025.-- errechnet. Schlägt man 20% dazu, ergibt sich ein Betrag von Fr. 4'830.--. Die Vorinstanz geht von einem Einkommen des Beklagten von Fr. 4'629.-- aus. Das Einkommen erreicht den um 20% erhöhten (erweiterten) Notbedarf somit nicht. Es sind keinerlei Umstände nachgewiesen, die eine Abweichung vom dargelegten Grundsatz rechtfertigen könnten. Der 1928 geborene Beklagte steht vor seiner Pensionierung. Mit einer künftigen Verbesserung seiner wirtschaftlichen Lage ist nicht zu rechnen. In diesem Sinne ist auch die Bemerkung in der Berufungsschrift zu verstehen, dass sich der Beklagte in einer wirtschaftlich ungleich schlechteren Lage befinde als der Kläger, der noch sein ganzes Leben vor sich habe. Der vom Kläger verlangte Unterhaltsbeitrag bezieht sich auch nicht nur auf einige wenige Monate. Vielmehr soll der Vater während über sieben Jahren für die Ausbildung seines mündigen Sohnes aufkommen. Es ist dem Beklagten somit nicht zuzumuten, während der Ausbildung des Klägers einen Beitrag an dessen Unterhalt zu leisten. c) Fehlt es an der Leistungsfähigkeit des Beklagten, so bleibt es ohne Bedeutung, ob der Kläger seinen Notbedarf mit seinen übrigen Einkünften decken kann oder nicht. Es kann deshalb auch offenbleiben, ob das Obergericht diesen Notbedarf im einzelnen richtig errechnet hat, namentlich ob der Kläger tatsächlich auf eine eigene Wohnung angewiesen ist. Die fehlende Leistungsfähigkeit des Vaters führt dazu, dass der volljährige Student versuchen muss, seine Ausbildung auf andere Weise zu finanzieren. Da die Leistungsfähigkeit eines Elternteils eine selbständige Voraussetzung für die Unterhaltspflicht gegenüber dem mündigen Studenten darstellt, muss, wenn diese fehlt, auch unberücksichtigt bleiben, ob dem andern Elternteil - vorliegend der Mutter des Klägers - eine Mehrleistung zumutbar ist oder nicht.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 118 II 97
Datum : 02. April 1992
Publiziert : 31. Dezember 1992
Quelle : Bundesgericht
Status : 118 II 97
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Art. 277 Abs. 2 ZGB; Voraussetzungen des Unterhaltsanspruchs des mündigen Kindes gegenüber seinen Eltern. 1. Wann schulden


Gesetzesregister
ZGB: 152
BGE Register
107-II-406 • 111-II-413 • 113-II-374 • 114-II-301 • 115-II-123 • 118-II-97
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
angewiesener • ausnahme • beklagter • berechnung • berufsausbildung • bundesgericht • charakter • dauer • ehegatte • eltern • entscheid • ertrag • existenzminimum • finanzielle verhältnisse • frage • leben • monat • mutter • mündigkeit • pensionierung • richtigkeit • stelle • student • taschengeld • treffen • unterhaltspflicht • vater • voraussetzung • vorinstanz • weiterbildung • zumutbare arbeit • zwangsvollstreckung • zweitausbildung
BJM
1980 S.192