Urteilskopf

116 IV 157

29. Urteil des Kassationshofes vom 26. März 1990 i.S. Generalprokurator des Kantons Bern gegen W. (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste (de):

Regeste (fr):

Regesto (it):


Sachverhalt ab Seite 157

BGE 116 IV 157 S. 157

A.- Am 8. Juli 1988 ereignete sich in Walperswil bei der Einmündung der Bühlstrasse von rechts in die eine Linkskurve beschreibende "Hauptstrasse" ein Verkehrsunfall. W. fuhr auf der "Hauptstrasse" auf die Strassenverzweigung - auf welcher gemäss Art. 36 Abs. 2
SR 741.01 Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SVG)
SVG Art. 36 - 1 Wer nach rechts abbiegen will, hat sich an den rechten Strassenrand, wer nach links abbiegen will, gegen die Strassenmitte zu halten.
1    Wer nach rechts abbiegen will, hat sich an den rechten Strassenrand, wer nach links abbiegen will, gegen die Strassenmitte zu halten.
2    Auf Strassenverzweigungen hat das von rechts kommende Fahrzeug den Vortritt. Fahrzeuge auf gekennzeichneten Hauptstrassen haben den Vortritt, auch wenn sie von links kommen. Vorbehalten bleibt die Regelung durch Signale oder durch die Polizei.
3    Vor dem Abbiegen nach links ist den entgegenkommenden Fahrzeugen der Vortritt zu lassen.
4    Der Führer, der sein Fahrzeug in den Verkehr einfügen, wenden oder rückwärts fahren will, darf andere Strassenbenützer nicht behindern; diese haben den Vortritt.
SVG Rechtsvortritt galt - zu; dies in der Absicht, auf dieser weiterzufahren. G., der von der Bühlstrasse her kam, wollte in die "Hauptstrasse" einmünden und auf dieser nach links in Richtung Aarberg abbiegen. Auf der Bühlstrasse war eine sechs Meter lange Sicherheitslinie angebracht, die am Rande der "Hauptstrasse" endete. G. schnitt die Kurve und fuhr links von dieser Sicherheitslinie. Auf der rechten Fahrbahnhälfte der
BGE 116 IV 157 S. 158

"Hauptstrasse" kam es dann ungefähr in der Mitte der Schnittfläche, die diese mit der verlängerten linken Fahrbahn der Bühlstrasse bildet, zu einer Kollision mit dem Personenwagen W.
B.- G. wurde wegen ungenügenden Rechtsfahrens und Überfahrens einer Sicherheitslinie verurteilt; das Urteil ist rechtskräftig. W. sprach der Gerichtspräsident I von Nidau der Nichtgewährung des Rechtsvortrittes gemäss Art. 36 Abs. 2
SR 741.01 Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SVG)
SVG Art. 36 - 1 Wer nach rechts abbiegen will, hat sich an den rechten Strassenrand, wer nach links abbiegen will, gegen die Strassenmitte zu halten.
1    Wer nach rechts abbiegen will, hat sich an den rechten Strassenrand, wer nach links abbiegen will, gegen die Strassenmitte zu halten.
2    Auf Strassenverzweigungen hat das von rechts kommende Fahrzeug den Vortritt. Fahrzeuge auf gekennzeichneten Hauptstrassen haben den Vortritt, auch wenn sie von links kommen. Vorbehalten bleibt die Regelung durch Signale oder durch die Polizei.
3    Vor dem Abbiegen nach links ist den entgegenkommenden Fahrzeugen der Vortritt zu lassen.
4    Der Führer, der sein Fahrzeug in den Verkehr einfügen, wenden oder rückwärts fahren will, darf andere Strassenbenützer nicht behindern; diese haben den Vortritt.
SVG und Art. 14 Abs. 1
SR 741.11 Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 (VRV)
VRV Art. 14 Ausübung des Vortritts - (Art. 36 Abs. 2-4 SVG)
1    Wer zur Gewährung des Vortritts verpflichtet ist, darf den Vortrittsberechtigten in seiner Fahrt nicht behindern. Er hat seine Geschwindigkeit frühzeitig zu mässigen und, wenn er warten muss, vor Beginn der Verzweigung zu halten.
2    Der Vortrittsberechtigte hat auf Strassenbenützer Rücksicht zu nehmen, welche die Strassenverzweigungen erreichten, bevor sie ihn erblicken konnten.
3    Dem vortrittsberechtigten Verkehr in parallelen Kolonnen ist der Vortritt auch zu lassen, wenn die nähere Kolonne stillsteht.
4    Reiter sowie Führer von Pferden und anderen grösseren Tieren sind den Fahrzeugführern beim Vortritt gleichgestellt.85
5    In nicht geregelten Fällen, zum Beispiel wenn auf einer Verzweigung zugleich aus allen Richtungen Fahrzeuge eintreffen, haben die Führer besonders vorsichtig zu fahren und sich über den Vortritt zu verständigen.
VRV in Verbindung mit Art. 90 Ziff. 1
SR 741.01 Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SVG)
SVG Art. 90 - 1 Mit Busse wird bestraft, wer Verkehrsregeln dieses Gesetzes oder der Vollziehungsvorschriften des Bundesrates verletzt.
1    Mit Busse wird bestraft, wer Verkehrsregeln dieses Gesetzes oder der Vollziehungsvorschriften des Bundesrates verletzt.
2    Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe wird bestraft, wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt.
3    Mit Freiheitsstrafe von einem bis zu vier Jahren wird bestraft, wer durch vorsätzliche Verletzung elementarer Verkehrsregeln das hohe Risiko eines Unfalls mit Schwerverletzten oder Todesopfern eingeht, namentlich durch besonders krasse Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, waghalsiges Überholen oder Teilnahme an einem nicht bewilligten Rennen mit Motorfahrzeugen.
3bis    Die Mindeststrafe von einem Jahr kann bei Widerhandlungen gemäss Absatz 3 unterschritten werden, wenn ein Strafmilderungsgrund nach Artikel 48 StGB235 vorliegt, insbesondere wenn der Täter aus achtenswerten Beweggründen gehandelt hat.236
3ter    Der Täter kann bei Widerhandlungen gemäss Absatz 3 mit Freiheitsstrafe bis zu vier Jahren oder Geldstrafe bestraft werden, wenn er nicht innerhalb der letzten zehn Jahre vor der Tat wegen eines Verbrechens oder Vergehens im Strassenverkehr mit ernstlicher Gefahr für die Sicherheit anderer, respektive mit Verletzung oder Tötung anderer verurteilt wurde.237
4    Eine besonders krasse Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit liegt vor, wenn diese überschritten wird um:
a  mindestens 40 km/h, wo die Höchstgeschwindigkeit höchstens 30 km/h beträgt;
b  mindestens 50 km/h, wo die Höchstgeschwindigkeit höchstens 50 km/h beträgt;
c  mindestens 60 km/h, wo die Höchstgeschwindigkeit höchstens 80 km/h beträgt;
d  mindestens 80 km/h, wo die Höchstgeschwindigkeit mehr als 80 km/h beträgt.238
5    Artikel 237 Ziffer 2 des Strafgesetzbuches239 findet in diesen Fällen keine Anwendung.
SVG schuldig. Die II. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern hiess hingegen mit Urteil vom 25. April 1989 seine Berufung gut und sprach ihn von Schuld und Strafe frei.

C.- Gegen dieses Urteil führt der Generalprokurator des Kantons Bern beim Bundesgericht eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur Verurteilung von W. wegen Nichtgewährens des Rechtsvortrittes an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Vorinstanz verzichtete auf Gegenbemerkungen. W. beantragt in seiner Vernehmlassung die Abweisung der Nichtigkeitsbeschwerde.
Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Der Vortritt steht nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts dem Berechtigten - unter Vorbehalt einer abweichenden Signalisation oder Markierung - auf der ganzen Schnittfläche der zusammentreffenden Strassen zu (BGE 102 IV 259 mit Hinweisen). Die Vorinstanz ging davon aus, die Sicherheitslinie auf der Bühlstrasse habe zur Folge, dass bloss die sich aus der Verlängerung der rechten Fahrbahnhälfte der Bühlstrasse ergebende Schnittfläche die massgebliche Verzweigungsfläche darstelle; die Kollision habe sich ausserhalb dieser Schnittfläche ereignet und der Fahrzeuglenker W. hätte vor dieser Verzweigungsfläche anhalten können, weshalb er von der Anschuldigung des Nichtgewährens des Rechtsvortritts freizusprechen sei. Demgegenüber vertritt der Beschwerdeführer die Auffassung, die in Frage stehende Sicherheitslinie habe nicht die Bedeutung einer abweichenden Signalisation oder Markierung, wie sie im zitierten Bundesgerichtsentscheid vorbehalten sei.
2. Die massgebliche vortrittsberechtigte Schnitt- oder Verzweigungsfläche wird grundsätzlich durch die Verlängerung der Fahrbahnränder der beiden sich schneidenden Strassen begrenzt.
BGE 116 IV 157 S. 159

Wenn der Vortrittsverpflichtete gemäss Art. 14 Abs. 1
SR 741.11 Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 (VRV)
VRV Art. 14 Ausübung des Vortritts - (Art. 36 Abs. 2-4 SVG)
1    Wer zur Gewährung des Vortritts verpflichtet ist, darf den Vortrittsberechtigten in seiner Fahrt nicht behindern. Er hat seine Geschwindigkeit frühzeitig zu mässigen und, wenn er warten muss, vor Beginn der Verzweigung zu halten.
2    Der Vortrittsberechtigte hat auf Strassenbenützer Rücksicht zu nehmen, welche die Strassenverzweigungen erreichten, bevor sie ihn erblicken konnten.
3    Dem vortrittsberechtigten Verkehr in parallelen Kolonnen ist der Vortritt auch zu lassen, wenn die nähere Kolonne stillsteht.
4    Reiter sowie Führer von Pferden und anderen grösseren Tieren sind den Fahrzeugführern beim Vortritt gleichgestellt.85
5    In nicht geregelten Fällen, zum Beispiel wenn auf einer Verzweigung zugleich aus allen Richtungen Fahrzeuge eintreffen, haben die Führer besonders vorsichtig zu fahren und sich über den Vortritt zu verständigen.
VRV "vor Beginn der Verzweigung" halten muss, so heisst dies, dass er vor dem verlängerten linken Fahrbahnrand einer von rechts einmündenden Strasse anzuhalten hat, wenn er sonst den von rechts herannahenden Fahrzeuglenker in seiner Weiterfahrt auf der Verzweigungsfläche behindern würde (vgl. dazu BGE 115 IV 141 /2). Wenn diese Begrenzung der Schnittfläche nach dem zitierten Bundesgerichtsentscheid nur unter dem Vorbehalt einer abweichenden Signalisation oder Markierung gilt, so kann dies nur bedeuten, dass sich der für das Anhalten des Vortrittsbelasteten massgebliche Beginn der Verzweigungsfläche beispielsweise unter besonderen Umständen durch Anbringen einer Wartelinie (Ziff. 6.13 des Anhanges zur SSV; sog. Haifischzähne), dort wo die verlängerte Mittellinie der vortrittsberechtigten Strasse die vortrittsbelastete Fahrbahn schneidet, entsprechend verändert werden könnte. Einer Sicherheitslinie auf der vortrittsberechtigten Fahrbahn kommt eine solche Wirkung indessen nicht zu (so auch die deutsche Rechtsprechung: vgl. JAGUSCH/HENTSCHEL, Strassenverkehrsrecht, 30. Auflage, § 8 StVO N 28, mit Hinweis auf ein Urteil des Oberlandesgerichts Oldenburg, in: Deutsches Autorecht, 1968, S. 329). Auch wenn eine solche Sicherheitslinie angebracht ist, bildet die ganze Schnittfläche, einschliesslich die Verlängerung der linken Fahrbahnhälfte der vortrittsberechtigten Strasse, die zu beachtende Verzweigungsfläche. In gleicher Weise sprach das Bundesgericht im durch den Beschwerdeführer zu Recht angeführten unveröffentlichten Entscheid vom 29. Oktober 1981 i.S. B. einer Sperrfläche eine die Verzweigungsfläche einschränkende Wirkung ab, allerdings unter den besonderen Umständen einer Umleitung des Verkehrs vor einer Baustelle. In BGE 102 IV 262 wird als Beispiel angeführt, dass bei Schnellstrassen gelegentlich die äusserste linke Spur im Bereich von Einmündungen und eine gewisse Strecke darüber hinaus durch eine Sicherheitslinie von den anderen Spuren getrennt werde. Diese Sicherheitslinie unterscheidet sich indessen von jener im vorliegenden Fall dadurch, dass sie nicht den Beginn der Verzweigungsfläche für den Vortrittsbelasteten, sondern deren Ende festlegt. Daraus kann der Beschwerdegegner daher nichts zu seinen Gunsten ableiten.
3. Wenn die Vorinstanz davon ausging, die Kollision habe sich ausserhalb der massgeblichen Verzweigungsfläche ereignet,
BGE 116 IV 157 S. 160

und gestützt darauf den objektiven Tatbestand der Nichtgewährung des Rechtsvortritts verneinte, verletzte sie Bundesrecht. Die Nichtigkeitsbeschwerde ist daher gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung, insbesondere auch des subjektiven Tatbestandes (vgl. dazu BGE 80 IV 200 E. 2 und das zitierte unveröffentlichte Bundesgerichtsurteil i.S. B. S. 5 E. 2), an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 116 IV 157
Date : 26. März 1990
Published : 31. Dezember 1991
Source : Bundesgericht
Status : 116 IV 157
Subject area : BGE - Strafrecht und Strafvollzug
Subject : Art. 36 Abs. 2 SVG, Art. 14 Abs. 1 VRV; Rechtsvortritt. Begriff der Strassenverzweigung. Massgebliche Verzweigungsfläche


Legislation register
SVG: 36  90
VRV: 14
BGE-register
102-IV-259 • 115-IV-139 • 116-IV-157 • 80-IV-196
Keyword index
Sorted by frequency or alphabet
lower instance • main street • beginning • federal court • language • outside • road marking • right of way • statement of affairs • decision • road • signal • turning • curve • convicted person • court of cassation • question • road accident • driving on the right • sentencing
... Show all