116 IV 157
29. Urteil des Kassationshofes vom 26. März 1990 i.S. Generalprokurator des Kantons Bern gegen W. (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste (de):
- Art. 36 Abs. 2
SR 741.01 Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SVG)
SVG Art. 36 - 1 Wer nach rechts abbiegen will, hat sich an den rechten Strassenrand, wer nach links abbiegen will, gegen die Strassenmitte zu halten.
SR 741.11 Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 (VRV)
VRV Art. 14 Ausübung des Vortritts - (Art. 36 Abs. 2-4 SVG)
1 Wer zur Gewährung des Vortritts verpflichtet ist, darf den Vortrittsberechtigten in seiner Fahrt nicht behindern. Er hat seine Geschwindigkeit frühzeitig zu mässigen und, wenn er warten muss, vor Beginn der Verzweigung zu halten. 2 Der Vortrittsberechtigte hat auf Strassenbenützer Rücksicht zu nehmen, welche die Strassenverzweigungen erreichten, bevor sie ihn erblicken konnten. 3 Dem vortrittsberechtigten Verkehr in parallelen Kolonnen ist der Vortritt auch zu lassen, wenn die nähere Kolonne stillsteht. 4 Reiter sowie Führer von Pferden und anderen grösseren Tieren sind den Fahrzeugführern beim Vortritt gleichgestellt.85 5 In nicht geregelten Fällen, zum Beispiel wenn auf einer Verzweigung zugleich aus allen Richtungen Fahrzeuge eintreffen, haben die Führer besonders vorsichtig zu fahren und sich über den Vortritt zu verständigen. - Massgebliche Verzweigungsfläche ist auch dann die ganze Schnittfläche der zusammentreffenden Strassen, wenn auf der vortrittsberechtigten Fahrbahn eine Sicherheitslinie angebracht ist; diese ist keine abweichende Markierung bzw. Signalisation, welche - wie etwa eine Wartelinie - den Beginn der Verzweigungsfläche zu verändern vermag.
Regeste (fr):
- Art. 36 al. 2 LCR, art. 14 al. 1 OCR; priorité. Définition de l'intersection.
- L'entier de la surface sur laquelle se recoupent les tracés de deux routes appartient à l'intersection, même si une ligne de sécurité figure sur la voie prioritaire; cette ligne ne constitue pas un signal ou une marque portant atteinte à ce principe qui pourrait - au même titre qu'une ligne d'attente - déplacer le début de l'intersection.
Regesto (it):
- Art. 36 cpv. 2 LCS, art. 14 cpv. 1 ONCS; diritto di precedenza.
- Fa parte dell'intersezione l'intera superficie sulla quale s'intersecano i tracciati delle due strade, e ciò anche se una linea di sicurezza sia stata apposta sulla strada prioritaria; tale linea non costituisce un segnale o una demarcazione suscettibile di comportare una deroga a questo principio e - alla stregua di una linea di attesa - di spostare l'inizio dell'intersezione.
Sachverhalt ab Seite 157
BGE 116 IV 157 S. 157
A.- Am 8. Juli 1988 ereignete sich in Walperswil bei der Einmündung der Bühlstrasse von rechts in die eine Linkskurve beschreibende "Hauptstrasse" ein Verkehrsunfall. W. fuhr auf der "Hauptstrasse" auf die Strassenverzweigung - auf welcher gemäss Art. 36 Abs. 2

SR 741.01 Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SVG) SVG Art. 36 - 1 Wer nach rechts abbiegen will, hat sich an den rechten Strassenrand, wer nach links abbiegen will, gegen die Strassenmitte zu halten. |
BGE 116 IV 157 S. 158
"Hauptstrasse" kam es dann ungefähr in der Mitte der Schnittfläche, die diese mit der verlängerten linken Fahrbahn der Bühlstrasse bildet, zu einer Kollision mit dem Personenwagen W.
B.- G. wurde wegen ungenügenden Rechtsfahrens und Überfahrens einer Sicherheitslinie verurteilt; das Urteil ist rechtskräftig. W. sprach der Gerichtspräsident I von Nidau der Nichtgewährung des Rechtsvortrittes gemäss Art. 36 Abs. 2

SR 741.01 Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SVG) SVG Art. 36 - 1 Wer nach rechts abbiegen will, hat sich an den rechten Strassenrand, wer nach links abbiegen will, gegen die Strassenmitte zu halten. |

SR 741.11 Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 (VRV) VRV Art. 14 Ausübung des Vortritts - (Art. 36 Abs. 2-4 SVG) |
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1 | Wer zur Gewährung des Vortritts verpflichtet ist, darf den Vortrittsberechtigten in seiner Fahrt nicht behindern. Er hat seine Geschwindigkeit frühzeitig zu mässigen und, wenn er warten muss, vor Beginn der Verzweigung zu halten. |
2 | Der Vortrittsberechtigte hat auf Strassenbenützer Rücksicht zu nehmen, welche die Strassenverzweigungen erreichten, bevor sie ihn erblicken konnten. |
3 | Dem vortrittsberechtigten Verkehr in parallelen Kolonnen ist der Vortritt auch zu lassen, wenn die nähere Kolonne stillsteht. |
4 | Reiter sowie Führer von Pferden und anderen grösseren Tieren sind den Fahrzeugführern beim Vortritt gleichgestellt.85 |
5 | In nicht geregelten Fällen, zum Beispiel wenn auf einer Verzweigung zugleich aus allen Richtungen Fahrzeuge eintreffen, haben die Führer besonders vorsichtig zu fahren und sich über den Vortritt zu verständigen. |

SR 741.01 Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SVG) SVG Art. 90 - 1 Mit Busse wird bestraft, wer Verkehrsregeln dieses Gesetzes oder der Vollziehungsvorschriften des Bundesrates verletzt. |
C.- Gegen dieses Urteil führt der Generalprokurator des Kantons Bern beim Bundesgericht eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur Verurteilung von W. wegen Nichtgewährens des Rechtsvortrittes an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Vorinstanz verzichtete auf Gegenbemerkungen. W. beantragt in seiner Vernehmlassung die Abweisung der Nichtigkeitsbeschwerde.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Der Vortritt steht nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts dem Berechtigten - unter Vorbehalt einer abweichenden Signalisation oder Markierung - auf der ganzen Schnittfläche der zusammentreffenden Strassen zu (BGE 102 IV 259 mit Hinweisen). Die Vorinstanz ging davon aus, die Sicherheitslinie auf der Bühlstrasse habe zur Folge, dass bloss die sich aus der Verlängerung der rechten Fahrbahnhälfte der Bühlstrasse ergebende Schnittfläche die massgebliche Verzweigungsfläche darstelle; die Kollision habe sich ausserhalb dieser Schnittfläche ereignet und der Fahrzeuglenker W. hätte vor dieser Verzweigungsfläche anhalten können, weshalb er von der Anschuldigung des Nichtgewährens des Rechtsvortritts freizusprechen sei. Demgegenüber vertritt der Beschwerdeführer die Auffassung, die in Frage stehende Sicherheitslinie habe nicht die Bedeutung einer abweichenden Signalisation oder Markierung, wie sie im zitierten Bundesgerichtsentscheid vorbehalten sei.
2. Die massgebliche vortrittsberechtigte Schnitt- oder Verzweigungsfläche wird grundsätzlich durch die Verlängerung der Fahrbahnränder der beiden sich schneidenden Strassen begrenzt.
BGE 116 IV 157 S. 159
Wenn der Vortrittsverpflichtete gemäss Art. 14 Abs. 1

SR 741.11 Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 (VRV) VRV Art. 14 Ausübung des Vortritts - (Art. 36 Abs. 2-4 SVG) |
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1 | Wer zur Gewährung des Vortritts verpflichtet ist, darf den Vortrittsberechtigten in seiner Fahrt nicht behindern. Er hat seine Geschwindigkeit frühzeitig zu mässigen und, wenn er warten muss, vor Beginn der Verzweigung zu halten. |
2 | Der Vortrittsberechtigte hat auf Strassenbenützer Rücksicht zu nehmen, welche die Strassenverzweigungen erreichten, bevor sie ihn erblicken konnten. |
3 | Dem vortrittsberechtigten Verkehr in parallelen Kolonnen ist der Vortritt auch zu lassen, wenn die nähere Kolonne stillsteht. |
4 | Reiter sowie Führer von Pferden und anderen grösseren Tieren sind den Fahrzeugführern beim Vortritt gleichgestellt.85 |
5 | In nicht geregelten Fällen, zum Beispiel wenn auf einer Verzweigung zugleich aus allen Richtungen Fahrzeuge eintreffen, haben die Führer besonders vorsichtig zu fahren und sich über den Vortritt zu verständigen. |
3. Wenn die Vorinstanz davon ausging, die Kollision habe sich ausserhalb der massgeblichen Verzweigungsfläche ereignet,
BGE 116 IV 157 S. 160
und gestützt darauf den objektiven Tatbestand der Nichtgewährung des Rechtsvortritts verneinte, verletzte sie Bundesrecht. Die Nichtigkeitsbeschwerde ist daher gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung, insbesondere auch des subjektiven Tatbestandes (vgl. dazu BGE 80 IV 200 E. 2 und das zitierte unveröffentlichte Bundesgerichtsurteil i.S. B. S. 5 E. 2), an die Vorinstanz zurückzuweisen.