104 IV 217
50. Urteil des Kassationshofes vom 19. Dezember 1978 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft gegen R.
Regeste (de):
- Art. 20
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 20 - Besteht ernsthafter Anlass, an der Schuldfähigkeit des Täters zu zweifeln, so ordnet die Untersuchungsbehörde oder das Gericht die sachverständige Begutachtung durch einen Sachverständigen an.
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 191 - Wer eine urteilsunfähige oder eine zum Widerstand unfähige Person zum Beischlaf, zu einer beischlafsähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung missbraucht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe bestraft.
- 1. Begriff des Rechtsirrtums.
- 2. Irrtum bejaht im Falle eines 19jährigen Süditalieners, der seiner 15jährigen Freundin beischlief.
Regeste (fr):
- Art. 20 et 191 ch. 1 CP.
- 1. Définition de l'erreur de droit.
- 2. Admission de l'erreur de droit dans le cas d'un Italien du Sud qui a entretenu, alors qu'il avait dix-neuf ans, des relations sexuelles avec son amie âgée de quinze ans.
Regesto (it):
- Art. 20 e 191 n. 1 CP.
- 1. Nozione di errore di diritto.
- 2. Errore di diritto ammesso in un caso in cui un Italiano del Sud diciannovenne aveva avuto relazioni sessuali con la propria amica quindicenne.
Sachverhalt ab Seite 217
BGE 104 IV 217 S. 217
A.- Der heute 20jährige, aus Sizilien stammende und seit 1972 in der Schweiz lebende R. hatte von Frühsommer bis Herbst 1977 mit seiner 15jährigen Freundin, deren Alter er kannte, wiederholt Geschlechtsverkehr.
B.- Das Strafgericht Baselland sprach R. des fortgesetzten Beischlafs mit einem Kinde schuldig, nahm aber in Anwendung von Art. 20
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 20 - Besteht ernsthafter Anlass, an der Schuldfähigkeit des Täters zu zweifeln, so ordnet die Untersuchungsbehörde oder das Gericht die sachverständige Begutachtung durch einen Sachverständigen an. |
C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und dieses sei anzuweisen, R. gemäss Art. 191 Ziff. 1
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Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Zur Entscheidung steht einzig die Frage, ob die Vorinstanz dem Beschwerdegegner zu Recht Rechtsirrtum zugute
BGE 104 IV 217 S. 218
gehalten habe. Davon ausgehend, dass der Täter sein Verhalten nicht juristisch exakt würdigen müsse, sondern dieses bloss in der ihm als Laien zugänglichen Art an den rechtlichen Wertvorstellungen zu messen habe, die vom durchschnittlichen Bürger der Gemeinschaft getragen würden, der er angehöre, nimmt das Obergericht an, "ein etwelches Bewusstsein der Sittenwidrigkeit, das der Täter je nachdem hat", genüge nicht zur Annahme, er besitze das Unrechtsbewusstsein. Der gegen den Täter gerichtete Vorwurf könne nur dahin lauten, er habe sich in seinem Handeln nicht durch die Normen des Rechts leiten lassen. Sittliche Forderungen gingen über das rechtlich geschützte ethische Minimum weit hinaus, ja könnten sogar mit rechtlichen Vorschriften in Konflikt geraten. Sittenwidriges Verhalten stehe mit der Rechtsordnung häufig in Einklang, während sittengemässes zu ihr mitunter im Widerspruch stehe. Im Bewusstsein der Rechtswidrigkeit seines Tuns handle deshalb, wer wisse, dass sein Verhalten den Rechtsvorstellungen seiner Rechtsgemeinschaft widerspreche. Der Beschwerdeführer habe von allem Anfang an glaubhaft dargetan, dass er das in dieser Weise gekennzeichnete Unrechtsbewusstsein zur Zeit der Tat nicht besessen habe. Da das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit eine subjektive Voraussetzung der Strafbarkeit sei, wären selbst Zweifel, ob es bestanden habe, zugunsten des Beschuldigten zu lösen. Die Staatsanwaltschaft wendet sich dagegen mit dem Vorwurf, die Vorinstanz sei von einem unzutreffenden Begriff des Unrechtsbewusstseins ausgegangen. Aus ihren tatsächlichen Feststellungen ergebe sich nämlich, dass R. das Unzuchtsdelikt nicht aufgrund irgendwelcher Überlegungen für zulässig erachtet habe, sondern weil er - nach seiner von der Vorinstanz akzeptierten Behauptung - um ihre Strafbarkeit nicht gewusst habe. Es handle sich mithin um einen nach Art. 20
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 20 - Besteht ernsthafter Anlass, an der Schuldfähigkeit des Täters zu zweifeln, so ordnet die Untersuchungsbehörde oder das Gericht die sachverständige Begutachtung durch einen Sachverständigen an. |
2. Nach der Rechtsprechung zu Art. 20
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 20 - Besteht ernsthafter Anlass, an der Schuldfähigkeit des Täters zu zweifeln, so ordnet die Untersuchungsbehörde oder das Gericht die sachverständige Begutachtung durch einen Sachverständigen an. |
BGE 104 IV 217 S. 219
durchschnittlichen Bürger eignet, ausreicht. Im Bewusstsein der Rechtswidrigkeit seines Tuns handelt deshalb, wer im vorgenannten Sinne weiss, dass sein Verhalten den Rechtsvorstellungen der Rechtsgemeinschaft widerspricht, in der er lebt. Dabei ist nicht zu übersehen, dass im allgemeinen die Rechtsordnung den vorherrschenden ethischen Wertvorstellungen in dem Sinne entspricht, dass jedenfalls erhebliche Verstösse gegen diese regelmässig auch rechtlich verpönt sind. Das Empfinden des Täters, seine Handlungen widersprächen den herrschenden sittlichen Massstäben, stellt diesfalls einen gewichtigen Hinweis auf sein Unrechtsbewusstsein dar (BGE 99 IV 185 mit Verweisungen). Insbesondere dort, wo grundlegende ethische Werte in Frage stehen, liegt auch eine rechtliche Regelung derart nahe, dass das Bewusstsein um die Verletzung der ersteren dasjenige eines Verstosses gegen die letztere für den Regelfall indiziert. In diesem Sinne ist deshalb die absolute Aussage der Vorinstanz, wonach ein "etwelches Bewusstsein der Sittenwidrigkeit" zur Annahme des Unrechtsbewusstseins nicht genüge, einzuschränken. Was die sexuelle Integrität von Kindern anbelangt, so gehört sie in schweizerischen Verhältnissen zum Bestand grundlegender ethischer Werte und wird entsprechend auch von der Rechtsordnung geschützt. Das Bewusstsein der Sittenwidrigkeit eines die geschlechtliche Unantastbarkeit eines Kindes in grober Weise verletzenden Verhaltens wirkt deshalb als starkes Indiz für das Bestehen des Unrechtsbewusstseins, das nur durch aussergewöhnliche Umstände entkräftet werden kann. Dieser gegenüber der rechtlichen Begründung des angefochtenen Entscheides notwendige Vorbehalt zwingt indessen nicht zur Aufhebung des Urteils. Wie die Vorinstanz feststellt, war dem Beschwerdegegner die Möglichkeit der rechtlichen Regelung nicht im entferntesten bewusst, habe er doch nicht einmal von der Existenz eines Schutzalters ganz allgemein Kenntnis gehabt. Der Begriff des Schutzalters sei ihm vollkommen fremd gewesen; er habe nie daran gedacht, dass es überhaupt so etwas geben könnte; weder in der Schule noch von Verwandten oder Freunden sei er je darauf aufmerksam gemacht worden. Auch habe er von einer entsprechenden schweizerischen Sittennorm keine Kenntnis gehabt. Den süditalienischen Auffassungen entsprechend sei ihm nur bewusst gewesen, dass es sittenwidrig sei, mit einer weiblichen Person intime Beziehungen zu haben und
BGE 104 IV 217 S. 220
sie nachher nicht zu heiraten, wobei diese Norm vom Alter des Mädchens oder der Frau unabhängig sei. Da R. schon damals und auch heute noch das missbrauchte Mädchen heiraten wolle, habe er gegen diese ihm einzig bekannte Norm nicht verstossen. Nach diesen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz, die den Kassationshof unbekümmert um ihre Überzeugungskraft binden (Art. 277bis Abs. 1
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3. Die Staatsanwaltschaft wendet weiter ein, die rechtlichen Erwägungen der Vorinstanz, wonach der Beschwerdegegner keinen Anlass gehabt habe, sich über sein Verhalten Gedanken zu machen, weil ihm der Begriff des Schutzalters völlig fremd gewesen sei, vermöchten nicht zu überzeugen. Dass nämlich der Umgang mit einem Kleinkind nicht statthaft sei, wisse jedermann; folglich müsse altersmässig auch irgendwo eine Grenze liegen, welche dieselbe Tat als strafbar bzw. nicht strafbar erkläre. Sich hierüber zu orientieren, wäre deshalb geboten gewesen.
Damit stellt die Staatsanwaltschaft sich auf den Standpunkt, R. habe keine zureichenden Gründe zur Annahme gehabt, sein Verhalten sei rechtmässig. a) Zureichend ist ein Grund gemäss Art. 20
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BGE 104 IV 217 S. 221
werden kann, weil er auf Tatsachen beruht, durch die sich auch ein gewissenhafter Mensch hätte in die Irre führen lassen. Das Gesetz verlangt damit vom Täter eine Gewissensanspannung, eine gewissenhafte Überlegung oder ein Erkundigen bei Behörden oder vertrauenswürdigen Personen. Unterlässt er dies, obgleich zu solchem Tun Anlass bestand, so handelt er in einem vermeidbaren und damit nach Art. 20
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Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.