Urteilskopf

100 V 158

39. Auszug aus dem Urteil vom 28. August 1974 i.S. Rieser gegen Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden
Regeste (de):

Regeste (fr):

Regesto (it):


Sachverhalt ab Seite 159

BGE 100 V 158 S. 159

A.- Die gebürtige Schweizerin Aloisia Rieser, die durch ihre Heirat österreichische Staatsangehörige geworden war, ist auf den 30. März 1954 wieder ins Schweizer Bürgerrecht aufgenommen worden. Seit dem 6. Januar 1968 verwitwet, lebte sie noch bis zum 1. Mai 1973 in Österreich. Hernach nahm sie im Kanton Graubünden Wohnsitz. Im Mai 1973 meldete sie sich zum Bezug einer AHV-Altersrente an. Das Begehren wurde jedoch von der Ausgleichskasse des Kantons Graubünden mit Verfügung vom 24. Januar 1974 abgewiesen: sie habe nie Beiträge an die schweizerische AHV geleistet und eine ausserordentliche Rente könne sie nicht beanspruchen, weil die hierfür massgebende Einkommensgrenze um Fr. 714.-- überschritten werde.
B.- Für die Versicherte beschwerte sich ihr Sohn, Hubert Rieser, gegen diese Verfügung beim Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden. Er machte geltend, vom Schweizer Konsulat die Auskunft erhalten zu haben, seine Mutter habe bis zu einer Einkommensgrenze von Fr. 6000.-- Anspruch auf eine ausserordentliche AHV-Rente von Fr. 4800.--; dieses jährliche Rentenbetreffnis werde um den Betrag, um den die Einkommensgrenze überschritten werde, gekürzt; daher sei seiner Mutter eine Rente von Fr. 4084.-- zuzusprechen, nachdem sie im Vertrauen auf die erhaltene amtliche Information ihre Arbeit aufgegeben und sich in der Schweiz niedergelassen habe. Die Vorinstanz hat die Beschwerde mit Entscheid vom 8. März 1974 abgewiesen.
C.- Hubert Rieser führt für seine Mutter Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Er bringt vor, dass ihr auch ein Beamter der Ausgleichskasse des Kantons Graubünden "mit praktisch 99prozentiger Wahrscheinlichkeit den Erhalt einer ausserordentlichen Rente" zugesichert und seine Mutter veranlasst habe, sofort ein Schweizer Konto zu eröffnen. Später habe man ihm wiederum seitens der Ausgleichskasse erklärt, wenn das anrechenbare Einkommen nur 10 Franken unter der Einkommensgrenze läge, würde die Jahresrente doch nur Fr. 10.- betragen. Anderseits habe eine weitere Vorsprache beim Schweizer Konsulat ergeben, dass ein Versicherter entweder die ganze ausserordentliche Rente oder überhaupt nichts beanspruchen könne. Hubert Rieser beantragt, den Entscheid des Verwaltungsgerichtes Graubünden für nichtig
BGE 100 V 158 S. 160

zu erklären und seiner Mutter eine ausserordentliche Rente von Fr. 4800.-- minus Fr. 714.-- zuzuerkennen. Die Ausgleichskasse hat dem Entscheid des Verwaltungsgerichtes des Kantons Graubünden nichts beizufügen, und das Bundesamt für Sozialversicherung stellt den Antrag auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Erwägungen

Aus den Erwägungen:
a) Nach Art. 42 Abs. 1
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 42 Bezügerkreis - 1 Anspruch auf eine ausserordentliche Rente haben Schweizer Bürger mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt (Art. 13 ATSG202) in der Schweiz, die während der gleichen Zahl von Jahren versichert waren wie ihr Jahrgang, denen aber keine ordentliche Rente zusteht, weil sie bis zur Entstehung des Rentenanspruchs nicht während eines vollen Jahres der Beitragspflicht unterstellt gewesen sind.203 Der Anspruch steht auch ihren Hinterlassenen zu.
1    Anspruch auf eine ausserordentliche Rente haben Schweizer Bürger mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt (Art. 13 ATSG202) in der Schweiz, die während der gleichen Zahl von Jahren versichert waren wie ihr Jahrgang, denen aber keine ordentliche Rente zusteht, weil sie bis zur Entstehung des Rentenanspruchs nicht während eines vollen Jahres der Beitragspflicht unterstellt gewesen sind.203 Der Anspruch steht auch ihren Hinterlassenen zu.
2    Das Erfordernis des Wohnsitzes und des gewöhnlichen Aufenthalts ist von jedem Versicherten, für den eine Rente ausgerichtet wird, einzeln zu erfüllen.
3    Der Ehegatte, der mit einem obligatorisch versicherten Schweizer Bürger verheiratet ist und im Ausland lebt, aber gemäss internationalem Abkommen oder völkerrechtlicher Übung der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung seines Wohnsitzstaates nicht angehört, ist dem in der Schweiz wohnhaften Ehegatten von Schweizer Bürgern gleichgestellt.
AHVG haben Anspruch auf eine ausserordentliche AHV-Rente die in der Schweiz wohnhaften Schweizer Bürger, denen keine ordentliche Rente zusteht oder deren ordentliche Rente kleiner ist als die ausserordentliche, soweit zwei Drittel des Jahreseinkommens für Ansprecher von einfachen Altersrenten den Betrag von 6000 Franken nicht erreichen. Die ausserordentliche Rente entspricht in der Regel dem Mindestbetrag der zutreffenden ordentlichen Vollrente (Art. 43 Abs. 1
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 43 Höhe der ausserordentlichen Renten - 1 Die ausserordentlichen Renten entsprechen dem Mindestbetrag der zutreffenden ordentlichen Vollrenten. Vorbehalten bleibt Absatz 3.204
1    Die ausserordentlichen Renten entsprechen dem Mindestbetrag der zutreffenden ordentlichen Vollrenten. Vorbehalten bleibt Absatz 3.204
2    ...205
3    In Abweichung von Artikel 69 Absätze 2 und 3 ATSG206 werden die ausserordentlichen Kinder- und Waisenrenten gekürzt, soweit sie zusammen mit den Renten des Vaters und der Mutter einen vom Bundesrat festzusetzenden Höchstbetrag übersteigen.207
AHVG) und würde im vorliegenden Fall monatlich 400 Franken betragen.
Die Beschwerdeführerin bestreitet mit Recht nicht, dass die Ausgleichskasse das anrechenbare Einkommen mit Fr. 6714.-- zutreffend ermittelt hat. Damit wird die Einkommensgrenze von 6000 Franken weit überschritten, weshalb kein Anspruch auf eine ausserordentliche Rente besteht (auch nicht auf eine in dem Umfang reduzierte Rente, als die Einkommensgrenze überschritten wird). b) Aloisia Rieser meint nun allerdings, sie könne dennoch eine ausserordentliche Rente beanspruchen, weil sie im Vertrauen auf eine falsche Auskunft des Schweizer Konsulats ihre Erwerbstätigkeit in Österreich aufgegeben und in der Schweiz Wohnsitz genommen habe. Gemäss Rechtsprechung und Doktrin ist eine falsche Auskunft bindend, wenn die Behörde für die Erteilung der Auskunft zuständig war, der Bürger deren Unrichtigkeit nicht ohne weiteres erkennen konnte, wenn er im Vertrauen auf die Richtigkeit der Auskunft Dispositionen getroffen hat, die nicht ohne Nachteil rückgängig gemacht werden können, und wenn die gesetzliche Ordnung seit der Auskunftserteilung keine Änderung erfahren hat (BGE 99 I b 101, 99 V 8, 97 V 220, EVGE 1967 S. 40). Das Vertrauensprinzip als allgemeiner Rechtsgrundsatz tritt aber gegenüber einer Sonderregelung, die sich unmittelbar und zwingend aus
BGE 100 V 158 S. 161

dem Gesetz selber ergibt, zurück. So verhält es sich im vorliegenden Fall: Nach Art. 47
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 47
AHVG sind unrechtmässig bezogene Renten und Hilflosenentschädigungen innerhalb der Verjährungsfrist zurückzuerstatten. Die Rückerstattung ist zu erlassen, wenn der Rückerstattungspflichtige in gutem Glauben annehmen konnte, die Leistung zu Recht bezogen zu haben, und wenn die Rückerstattung für ihn eine grosse Härte bedeuten würde (vgl. Art. 79 Abs. 1
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 47
AHVV). Diese Rückerstattungspflicht schliesst in sich, dass die betreffende Leistung auch in Zukunft nicht mehr erbracht wird. Wenn mithin Renten und Hilflosenentschädigungen, die sogar auf einer rechtskräftigen Verfügung beruhen, zurückgefordert werden müssen und in Zukunft nicht mehr ausgerichtet werden dürfen, so müssen diese Leistungen erst recht verweigert werden, wenn sich der Versicherte bloss auf eine entsprechende, materiell falsche Auskunft oder Zusicherung berufen kann, und zwar selbst dann, wenn im übrigen die von der Praxis entwickelten Voraussetzungen des Vertrauensschutzes gegeben wären. Die lediglich auf den Grundsatz von Treu und Glauben gegründete Gewährung von Rente und Hilflosenentschädigung würde unmittelbar gegen Art. 47
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 47
AHVG verstossen... Daraus ergibt sich, dass sich die Beschwerdeführerin nicht auf das Prinzip des Vertrauensschutzes berufen kann, um gesetzwidrig eine ausserordentliche AHV-Rente zu erlangen. In diesem Punkt muss die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abgewiesen werden...
Dispositiv

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 100 V 158
Date : 28. August 1974
Published : 31. Dezember 1975
Source : Bundesgericht
Status : 100 V 158
Subject area : BGE - Sozialversicherungsrecht (bis 2006: EVG)
Subject : Gesetzwidrige Zusicherung einer AHV-Rente durch eine Behörde (Art. 42 AHVG). Der Grundsatz des Vertrauensschutzes tritt


Legislation register
AHVG: 42  43  47
AHVV: 79
BGE-register
100-V-158 • 97-V-217 • 99-V-1
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