Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas

Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts

Prozess
{T 7}
I 557/04

Urteil vom 29. November 2004
III. Kammer

Besetzung
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger; Gerichtsschreiber Jancar

Parteien
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdeführerin,

gegen

M.________, 1963, Beschwerdegegner, vertreten durch Fürsprecher Andreas Gafner, Nidaugasse 24, 2502 Biel

Vorinstanz
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 9. August 2004)

Sachverhalt:
A.
Der 1963 geborene M.________ arbeitete seit 1989 als Bauarbeiter bei der Firma X.________ AG. Am 28. Januar 1999 erlitt er einen Arbeitsunfall, bei dem er sich undislozierte Frakturen des Talus und des Malleolus mediales links zuzog. Am 12. Februar 2001 meldete er sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 14. November 2003 sprach ihm die IV-Stelle Bern ab 1. Februar 2000 bis 31. Mai 2002 eine ganze Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 100 % zu. Dagegen erhob der nunmehr anwaltlich vertretene Versicherte Einsprache und beantragte, in Aufhebung der Verfügung sei ihm auch nach dem 31. Mai 2002 eine angemessene Invalidenrente auszurichten. Ferner ersuchte er um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung für das Einspracheverfahren. Mit Entscheid vom 29. Januar 2004 wies die IV-Stelle die Einsprache ab und verneinte den Anspruch auf unentgeltliche Prozessführung.
B.
Hiegegen erhob der Versicherte beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern Beschwerde und beantragte die Aufhebung des Einspracheentscheides; es sei ihm auch nach dem 31. Mai 2002 eine angemessene Invalidenrente auszurichten; es sei ihm sowohl für das kantonale Verfahren als auch für dasjenige vor der IV-Stelle die unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung zu gewähren. Mit Entscheid vom 9. August 2004 hiess das kantonale Gericht die Beschwerde insoweit teilweise gut, als es das Gesuch um Erteilung der unentgeltlichen Verbeiständung im Verwaltungsverfahren guthiess und die Sache im Sinne der Erwägungen zur Prüfung der finanziellen Bedürftigkeit und erneuten Verfügung über das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung an die IV-Stelle zurückwies. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab.
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die IV-Stelle, der kantonale Entscheid sei bezüglich der Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung aufzuheben.

Der Versicherte schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Es ist nicht die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen strittig. Das Eidgenössische Versicherungsgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).
2.
2.1 Das kantonale Gericht hat die gesetzliche Bestimmung über die unentgeltliche Verbeiständung im Sozialversicherungsverfahren (Art. 37 Abs. 4
SR 830.1 Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)
ATSG Art. 37 Vertretung und Verbeiständung - 1 Die Partei kann sich, wenn sie nicht persönlich zu handeln hat, jederzeit vertreten oder, soweit die Dringlichkeit einer Untersuchung es nicht ausschliesst, verbeiständen lassen.
1    Die Partei kann sich, wenn sie nicht persönlich zu handeln hat, jederzeit vertreten oder, soweit die Dringlichkeit einer Untersuchung es nicht ausschliesst, verbeiständen lassen.
2    Der Versicherungsträger kann die Vertretung auffordern, sich durch schriftliche Vollmacht auszuweisen.
3    Solange die Partei die Vollmacht nicht widerruft, macht der Versicherungsträger seine Mitteilungen an die Vertretung.
4    Wo die Verhältnisse es erfordern, wird der gesuchstellenden Person ein unentgeltlicher Rechtsbeistand bewilligt.
ATSG; vgl. auch Art. 29 Abs. 3
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 29 Allgemeine Verfahrensgarantien - 1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
1    Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
2    Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör.
3    Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand.
BV) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt hinsichtlich der im Rahmen von alt Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV zu den Voraussetzungen der unentgeltlichen Verbeiständung im Einspracheverfahren ergangenen Rechtsprechung (Bedürftigkeit der Partei, fehlende Aussichtslosigkeit der Rechtsbegehren, sachliche Gebotenheit im konkreten Fall; BGE 125 V 34 Erw. 2, 117 V 408; AHI 2000 S. 164 Erw. 2b), die nach dem Willen des Gesetzgebers weiterhin anwendbar ist (Urteil W. vom 12. Oktober 2004 Erw. 2.1, I 386/04; BBl 1999 V S. 4595; Kieser, ATSG-Kommentar, Art. 37 Rz. 15 ff.). Darauf wird verwiesen.
2.2 Zu ergänzen ist, dass hinsichtlich der sachlichen Gebotenheit der unentgeltlichen anwaltlichen Verbeiständung im Einspracheverfahren die Umstände des Einzelfalls, die Eigenheiten der anwendbaren Verfahrensvorschriften sowie die Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens zu berücksichtigen sind. Dabei fallen neben der Komplexität der Rechtsfragen und der Unübersichtlichkeit des Sachverhalts auch in der Person des Betroffenen liegende Gründe in Betracht, wie etwa seine Fähigkeit, sich im Verfahren zurechtzufinden (Schwander, Anmerkung zu BGE 122 I 8, in: AJP 1996 S. 495). Falls ein besonders starker Eingriff in die Rechtsstellung des Bedürftigen droht, ist die Verbeiständung grundsätzlich geboten, andernfalls bloss, wenn zur relativen Schwere des Falls besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen der Gesuchsteller auf sich alleine gestellt nicht gewachsen ist (BGE 130 I 182 Erw. 2.2 mit Hinweisen), und wenn auch eine Verbeiständung durch Verbandsvertreter, Fürsorger oder andere Fach - und Vertrauensleute sozialer Institutionen nicht in Betracht fällt (BGE 125 V 34 Erw. 2, 114 V 236 Erw. 5b; AHI 2000 S. 163 f. Erw. 2a und b). Die sachliche Notwendigkeit wird nicht allein dadurch ausgeschlossen, dass das
in Frage stehende Verfahren von der Offizialmaxime oder dem Untersuchungsgrundsatz beherrscht wird, die Behörde also gehalten ist, an der Ermittlung des rechtserheblichen Sachverhaltes mitzuwirken (BGE 130 I 183 f. Erw. 3.2 und 3.3 mit Hinweisen). Die Offizialmaxime rechtfertigt es jedoch, an die Voraussetzungen, unter denen eine anwaltliche Verbeiständung sachlich geboten ist, einen strengen Massstab anzulegen (BGE 125 V 35 f. Erw. 4b; AHI 2000 S. 164 Erw. 2b; Urteil W. vom 12. Oktober 2004 Erw. 2.2, I 386/04).
3.
Streitig ist der Anspruch des Versicherten auf anwaltliche Verbeiständung in dem der Verfügung vom 14. November 2003 folgenden Einspracheverfahren.
3.1 Das kantonale Gericht hat mit einlässlicher und überzeugender Begründung, auf die verwiesen wird, die sachliche Gebotenheit der anwaltlichen Verbeiständung im Einspracheverfahren bejaht.
3.2 Die Einwendungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vermögen an diesem Ergebnis nichts zu ändern.

Die Vorinstanz hat berücksichtigt, dass an die Erforderlichkeit der anwaltlichen Verbeiständung im Einspracheverfahren ein strenger Massstab anzulegen ist.

Die IV-Stelle macht geltend, dem Versicherten wäre es zumutbar gewesen, eine Verbeiständung durch Verbandsvertreter, Fürsorger oder andere Fach- und Vertrauenspersonen in Anspruch zu nehmen. Auch diesbezüglich hat die Vorinstanz korrekt erwogen, dass die direkte Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe angesichts der nicht einfachen Fallumstände gerechtfertigt war.
4.
Streitigkeiten im Zusammenhang mit der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung unterliegen grundsätzlich nicht der Kostenpflicht, weshalb keine Gerichtskosten zu erheben sind (SVR 2002 ALV Nr. 3 S. 7 Erw. 5).

Da der Beschwerdegegner obsiegt, ist ihm zu Lasten der IV-Stelle eine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 135
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
in Verbindung mit Art. 159
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Die Beschwerdeführerin hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 600.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Schweizerischen Baumeisterverbandes, Zürich, und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 29. November 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Die Präsidentin der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : I_557/04
Datum : 29. November 2004
Publiziert : 17. Dezember 2004
Quelle : Bundesgericht
Status : Unpubliziert
Sachgebiet : Invalidenversicherung
Gegenstand : -


Gesetzesregister
ATSG: 37
SR 830.1 Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)
ATSG Art. 37 Vertretung und Verbeiständung - 1 Die Partei kann sich, wenn sie nicht persönlich zu handeln hat, jederzeit vertreten oder, soweit die Dringlichkeit einer Untersuchung es nicht ausschliesst, verbeiständen lassen.
1    Die Partei kann sich, wenn sie nicht persönlich zu handeln hat, jederzeit vertreten oder, soweit die Dringlichkeit einer Untersuchung es nicht ausschliesst, verbeiständen lassen.
2    Der Versicherungsträger kann die Vertretung auffordern, sich durch schriftliche Vollmacht auszuweisen.
3    Solange die Partei die Vollmacht nicht widerruft, macht der Versicherungsträger seine Mitteilungen an die Vertretung.
4    Wo die Verhältnisse es erfordern, wird der gesuchstellenden Person ein unentgeltlicher Rechtsbeistand bewilligt.
BV: 4 
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
29
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 29 Allgemeine Verfahrensgarantien - 1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
1    Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
2    Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör.
3    Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand.
OG: 104  105  132  135  159
BGE Register
114-V-228 • 117-V-408 • 122-I-8 • 125-V-32 • 130-I-180
Weitere Urteile ab 2000
I_386/04 • I_557/04
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BBl
1999/V/4595
AHI
2000 S.163 • 2000 S.164
AJP
1996 S.495