Bundesstrafgericht Tribunal pénal fédéral Tribunale penale federale Tribunal penal federal

Geschäftsnummer: BG.2009.8

Entscheid vom 27. April 2009 I. Beschwerdekammer

Besetzung

Bundesstrafrichter Emanuel Hochstrasser, Vorsitz, Tito Ponti und Alex Staub, Gerichtsschreiber Stefan Graf

Parteien

Kanton Luzern, Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern,

Gesuchsteller

gegen

1. Cantone Ticino, Ministero pubblico,

2. Kanton St. Gallen, Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen,

Gesuchsgegner

Gegenstand

Örtlicher Gerichtsstand (Art. 279 Abs. 1 BStP i.V.m. Art. 345 StGB)

Sachverhalt:

A. Infolge eines Canyoning-Unfalls, welcher sich am 8. Mai 2008 in einer Schlucht bei Z. (Kanton Tessin) ereignete, erhob die Geschädigte am 4. August 2008 bei der Kantonspolizei Luzern eine Strafanzeige gegen A. und B. Am 22. Oktober 2008 gelangte das Amtsstatthalteramt Hochdorf an das Ministero pubblico des Kantons Tessin und ersuchte dieses um die Übernahme der beiden Verfahren (Gerichtsstandsakten, Beleg 1). Dieses lehnte am 18. November 2008 seine Zuständigkeit und das entsprechende Übernahmeersuchen ab (Gerichtsstandsakten, Beleg 2). Am 3. Dezember 2008 ersuchte das Amtsstatthalteramt Hochdorf das Ministero pubblico des Kantons Tessin, die Zuständigkeitsfrage nochmals zu überprüfen und die allfällige Übernahme des Verfahrens zu bestätigen (Gerichtsstandsakten, Beleg 4). Das Minstero pubblico des Kantons Tessin wies dieses Ersuchen am 12. Dezember 2008 erneut ab (Gerichtsstandsakten, Beleg 6), worauf das Amtsstatthalteramt Hochdorf am 27. Januar 2009 die Akten der Staats­anwaltschaft des Kantons St. Gallen zur Prüfung der Gerichtsstandsfrage zugehen liess (Gerichtsstandsakten, Beleg 7). Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen teilte daraufhin am 10. Februar 2009 mit, dass sie den Gerichtsstand nicht anerkennen könne (Gerichtsstandsakten, Beleg 8). Mit Schreiben vom 18. März 2009 lehnte das Ministero pubblico des Kantons Tessin das neuerliche Ersuchen des Amtsstatthalteramtes Hochdorf um Übernahme des Strafverfahrens vom 13. März 2009 ab (Gerichtsstandsakten, Beleg 9 und 10).

B. Hierauf gelangte die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern am 25. März 2009 an die I. Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts und beantragte, es seien die Behörden des Kantons Tessin (eventualiter des Kantons St. Gallen) als berechtigt und verpflichtet zu erklären, die zurzeit im Kanton Luzern gegen A. und B. hängigen Strafverfahren zu verfolgen und zu beurteilen (act. 1).

Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen beantragte in ihrer Gesuchsantwort vom 1. April 2009, es seien die Behörden des Kantons Tessin als verpflichtet und berechtigt zu erklären, die zurzeit im Kanton Luzern gegen A. und B. hängigen Strafverfahren zu verfolgen und zu beurteilen (act. 3).

In seiner Gesuchsantwort vom 6. April 2009 beantragte das Minstero pubblico des Kantons Tessin die Abweisung des Gesuchs, soweit darin die Feststellung der Zuständigkeit der Behörden des Kantons Tessin beantragt werde (act. 4).

Die jeweiligen Gesuchsantworten wurden den Parteien am 7. April 2009 zur Kenntnis gebracht (act. 5, 6 und 7).

Auf die Ausführungen der Parteien und die eingereichten Akten wird, soweit erforderlich, in den folgenden rechtlichen Erwägungen Bezug genommen.

Die I. Beschwerdekammer zieht in Erwägung:

1.

1.1 Die Zuständigkeit der I. Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts zum Entscheid über Gerichtsstandsstreitigkeiten ergibt sich aus Art. 345 StGB i.V.m. Art. 279 Abs. 1 BStP, Art. 28 Abs. 1 lit. g SGG und Art. 9 Abs. 2 des Reglements vom 20. Juni 2006 für das Bundesstrafgericht (SR 173.710). Voraussetzung für die Anrufung der I. Beschwerdekammer ist allerdings, dass ein Streit über einen interkantonalen Gerichtsstand vorliegt und dass die Kantone über diesen Streit einen Meinungsaustausch durchgeführt haben (Schweri/Bänziger, Interkantonale Gerichtsstandsbestimmung in Strafsachen, 2. Aufl., Bern 2004, N. 599). Die Behörden, welche berechtigt sind, ihren Kanton im Meinungsaustausch und im Verfahren vor der I. Beschwerdekammer zu vertreten, bestimmen sich nach dem jeweiligen kantonalen Recht (Schweri/Bänziger, a.a.O., N. 564; Guidon/Bänziger, Die aktuelle Rechtsprechung des Bundesstrafgerichts zum interkantonalen Gerichtsstand in Strafsachen, in: Jusletter 21. Mai 2007, [Rz 12] in fine). Eine Frist für die Anrufung der I. Beschwerdekammer besteht für die Kantone nicht (Schweri/Bänziger, a.a.O., N. 623).

1.2 Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern ist berechtigt, den Gesuchsteller bei interkantonalen Gerichtsstandskonflikten vor der I. Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts zu vertreten (§ 24 Abs. 3 des Gesetzes über die Strafprozessordnung des Kantons Luzern vom 3. Juni 1957 [StPO/LU; SRL 305]). Bezüglich der Gesuchsgegner steht diese Befugnis praxisgemäss dem Ministero pubblico des Kantons Tessin (vgl. Schweri/Bänziger, a.a.O., Anhang II – der dort enthaltene Hinweis auf die entsprechende gesetzliche Grundlage ist mittlerweile jedoch veraltet) sowie der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen zu (Art. 31 Abs. 2 des Strafprozessgesetzes des Kantons St. Gallen vom 1. Juli 1999 [StP/SG; sGS 962.1]. Der Gesuchsteller hat mit den Gesuchsgegnern vor Einreichung des Gesuchs einen Meinungsaustausch durchgeführt. Auch die übrigen Eintretensvoraussetzungen geben vorliegend zu keinen weiteren Bemerkungen Anlass, so dass auf das Gesuch einzutreten ist.

2.

2.1 Der Gesuchsteller bringt vor, dass sich der Canyoning-Unfall mit Verletzungsfolgen in einer Schlucht bei Z. im Kanton Tessin ereignet habe. Ausführungs- und Erfolgsort seien identisch, zumal sich alle wesentlichen Faktoren, die zur Verletzung führten, vor Ort in der Schlucht abgespielt hätten. Für das Unfallereignis ursächlich gewesen sei ein Knoten, der sich gelöst habe. Gegenstand der Untersuchung sei, wer hierfür die Verantwortung zu tragen habe. Der Gesuchsgegner 1 hält demgegenüber dafür, dass sich im vorliegenden Fall offensichtlich – und das ergebe sich aus den Akten – auch Probleme hinsichtlich der Organisation des Kurses für die Canyoning-Guides ergeben hätten. Es bestehe somit die konkrete Möglichkeit, dass das Unfallereignis im Tessin die Folge vorangehender organisatorischer Mängel gewesen sei. Die Organisatorin des Kurses habe ihren Sitz im Kanton St. Gallen, weswegen die dortigen Strafverfolgungsbehörden zuständig seien.

2.2 Für die Verfolgung und Beurteilung einer strafbaren Handlung sind die Behörden des Ortes zuständig, wo die strafbare Handlung ausgeführt wurde (Art. 340 Abs. 1 StGB). Bei der Beurteilung der Gerichtsstandsfrage muss von der aktuellen Verdachtslage ausgegangen werden. Massgeblich ist nicht, was dem Beschuldigten nachgewiesen werden kann, sondern der Tatbestand, der Gegenstand der Untersuchung bildet, es sei denn, dieser erweise sich von vornherein als haltlos oder sei sicher ausgeschlossen. Der Gerichtsstand bestimmt sich also nicht nach dem, was der Täter begangen hat, sondern nach dem, was ihm vorgeworfen wird, das heisst was aufgrund der Aktenlage überhaupt in Frage kommt (vgl. zuletzt auch TPF BG.2008.18 vom 6. April 2009 E. 2.1 und BG.2009.7 vom 1. April 2009 E. 2). Dabei stützt sich die I. Beschwerdekammer auf Fakten, nicht auf Hypothesen (TPF BG.2008.25 vom 9. Januar 2009 E. 3.3 in fine mit Hinweis auf TPF BK_G 108/04 vom 20. August 2004 E. 4; vgl. zum Ganzen Guidon/Bänziger, a.a.O., [Rz 25] m.w.H.).

2.3 Vorliegend unbestritten ist, dass sich das Gegenstand der Untersuchung bildende Unfallereignis im Kanton Tessin abgespielt hat. Anhand der Akten ergibt sich, dass sich im Rahmen einer speziellen Abseilübung ein Knoten gelöst hat, weshalb in der Folge das ganze Seilbahnsystem zusammenbrach und zum Sturz der Geschädigten führte (vgl. zusammenfassend den Bericht der Kantonspolizei Luzern vom 16. Oktober 2008). Der den beiden Beschuldigten gegenüber erhobene strafrechtliche Vorwurf besteht demzufolge primär darin, für die allenfalls unsorgfältige Einrichtung des Seilbahnsystems verantwortlich zu sein. Die vom Gesuchsgegner 1 erhobenen Einwände hinsichtlich organisatorischer Versäumnisse im Vorfeld des durchgeführten Canyoning-Kurses dürften hierbei allenfalls bezüglich der Vorwerfbarkeit eines unsorgfältigen Verhaltens in der Schlucht eine gewisse Rolle spielen, ändern jedoch nichts daran, dass das Unfallereignis unmittelbar durch in der Schlucht bei Z. und somit im Kanton Tessin begangene Handlungen herbeigeführt worden ist. Selbst wenn man die allenfalls vorliegenden organisatorischen Versäumnisse im Vorfeld des Canyoning-Kurses in Z. als natürlich und adäquat kausale Ursache des Unfallereignisses ansehen wollte, gilt zu beachten, dass bei der Abgrenzung zwischen einem Begehungs- und einem Unterlassungsdelikt nach dem Subsidiaritätsprinzip eine Unterlassung nur dann in Betracht gezogen werden soll, wenn die strafrechtliche Haftung nicht an eine Handlung des Täters angeknüpft werden kann (Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht Allgemeiner Teil I: Die Straftat, 3. Aufl., Bern 2005, S. 418 f. N. 2 m.w.H. u. a. auf BGE 129 IV 119 E. 2.2 S. 122). Dies ist hier nach dem Gesagten nicht der Fall. Zwar kann gesagt werden, dass mutmasslich eine gebotene Handlung (sorgfältige Einrichtung des Seilbahnsystems) unterblieb, doch wird beim Begehungsdelikt eine unter bestimmten Sorgfaltsanforderungen stehende Handlung tatsächlich, wenn auch eben unsorgfältig, vorgenommen. Vorliegend ist aufgrund der Akten von letzterer Sachlage auszugehen.

3. Nach dem Gesagten ist das Gesuch bzw. dessen Hauptantrag gutzuheissen und es sind die Strafverfolgungsbehörden des Kantons Tessin für berechtigt und verpflichtet zu erklären, die A. und B. zur Last gelegten strafbaren Handlungen zu verfolgen und zu beurteilen.

4. Es werden keine Gerichtskosten erhoben (Art. 245 Abs. 1 BStP i.V.m. Art. 66 Abs. 4
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 66 Erhebung und Verteilung der Gerichtskosten - 1 Die Gerichtskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. Wenn die Umstände es rechtfertigen, kann das Bundesgericht die Kosten anders verteilen oder darauf verzichten, Kosten zu erheben.
1    Die Gerichtskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. Wenn die Umstände es rechtfertigen, kann das Bundesgericht die Kosten anders verteilen oder darauf verzichten, Kosten zu erheben.
2    Wird ein Fall durch Abstandserklärung oder Vergleich erledigt, so kann auf die Erhebung von Gerichtskosten ganz oder teilweise verzichtet werden.
3    Unnötige Kosten hat zu bezahlen, wer sie verursacht.
4    Dem Bund, den Kantonen und den Gemeinden sowie mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betrauten Organisationen dürfen in der Regel keine Gerichtskosten auferlegt werden, wenn sie in ihrem amtlichen Wirkungskreis, ohne dass es sich um ihr Vermögensinteresse handelt, das Bundesgericht in Anspruch nehmen oder wenn gegen ihre Entscheide in solchen Angelegenheiten Beschwerde geführt worden ist.
5    Mehrere Personen haben die ihnen gemeinsam auferlegten Gerichtskosten, wenn nichts anderes bestimmt ist, zu gleichen Teilen und unter solidarischer Haftung zu tragen.
BGG).

Demnach erkennt die I. Beschwerdekammer:

1. Die Strafverfolgungsbehörden des Kantons Tessin sind berechtigt und verpflichtet, die A. und B. zur Last gelegten strafbaren Handlungen zu verfolgen und zu beurteilen.

2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

Bellinzona, 28. April 2009

Im Namen der I. Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Zustellung an

- Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern

- Ministero pubblico

- Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen

Rechtsmittelbelehrung

Gegen diesen Entscheid ist kein ordentliches Rechtsmittel gegeben.

Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : BG.2009.8
Datum : 27. April 2009
Publiziert : 01. Juni 2009
Quelle : Bundesstrafgericht
Status : Unpubliziert
Sachgebiet : Beschwerdekammer: Strafverfahren
Gegenstand : Örtlicher Gerichtsstand (Art. 279 Abs. 1 BStP i.V.m. Art. 345 StGB)


Gesetzesregister
BGG: 66
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 66 Erhebung und Verteilung der Gerichtskosten - 1 Die Gerichtskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. Wenn die Umstände es rechtfertigen, kann das Bundesgericht die Kosten anders verteilen oder darauf verzichten, Kosten zu erheben.
1    Die Gerichtskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. Wenn die Umstände es rechtfertigen, kann das Bundesgericht die Kosten anders verteilen oder darauf verzichten, Kosten zu erheben.
2    Wird ein Fall durch Abstandserklärung oder Vergleich erledigt, so kann auf die Erhebung von Gerichtskosten ganz oder teilweise verzichtet werden.
3    Unnötige Kosten hat zu bezahlen, wer sie verursacht.
4    Dem Bund, den Kantonen und den Gemeinden sowie mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betrauten Organisationen dürfen in der Regel keine Gerichtskosten auferlegt werden, wenn sie in ihrem amtlichen Wirkungskreis, ohne dass es sich um ihr Vermögensinteresse handelt, das Bundesgericht in Anspruch nehmen oder wenn gegen ihre Entscheide in solchen Angelegenheiten Beschwerde geführt worden ist.
5    Mehrere Personen haben die ihnen gemeinsam auferlegten Gerichtskosten, wenn nichts anderes bestimmt ist, zu gleichen Teilen und unter solidarischer Haftung zu tragen.
BStP: 245  279
SGG: 28
StGB: 340  345
BGE Register
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Stichwortregister
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