Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
I 868/02
Urteil vom 21. März 2003
II. Kammer
Besetzung
Präsident Schön, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Frésard; Gerichtsschreiber Schmutz
Parteien
E.________, 1950, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Cristina Schiavi, Kirchgasse 22, 8024 Zürich,
gegen
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, Beschwerdegegnerin
Vorinstanz
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
(Entscheid vom 26. November 2002)
Sachverhalt:
A.
E.________ meldete sich zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung an. Am 29. Juli 2002 bevollmächtigte sie Rechtsanwältin Dr. Christina Schiavi, Zürich, mit der Wahrung ihrer Interessen in dieser Sache. Mit Schreiben vom gleichen Tage zeigte die Anwältin der IV-Stelle des Kantons Zürich die Mandatsübernahme an und reichte die Vollmacht ein. Zudem ersuchte sie um Akteneinsicht und sie kündigte die Abgabe einer Stellungnahme zu dem bereits erlassenen Renten-Vorbescheid an. Mit Verfügung vom 4. September 2002 sprach die IV-Stelle E.________ mit Wirkung ab 1. Januar 1999 eine IV-Viertelsrente zu. Sie eröffnete diese nur der Versicherten am 7. September 2002 mit normaler Post über die Ausgleichskasse Zürcher Arbeitgeber (nachfolgend: Ausgleichskasse). Die Versicherte informierte die Anwältin am 11. September 2002 telefonisch über den Eingang. Diese bemühte sich in der Folge wiederholt ebenfalls telefonisch bei der IV-Stelle und der Ausgleichskasse um die Zustellung des Entscheides. Die Ausgleichskasse übermittelte ihr am 18. September 2002 per Fax eine Kopie davon.
B.
Am 17. Oktober 2002 reichte die Anwältin Beschwerde ein und beantragte, die Verfügung sei aufzuheben und E.________ sei eine ganze, eventuell eine halbe IV-Rente zuzusprechen.
Mit Entscheid vom 26. November 2002 trat das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich nicht auf das Rechtsmittel ein, weil die 30-tägige Beschwerdefrist bereits am 11. Oktober 2002 abgelaufen und damit die Beschwerde am 17. Oktober 2002 verspätet erhoben worden sei.
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt E.________ beantragen, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben und die Sache zur materiellen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde richtet sich gegen einen vorinstanzlichen Nichteintretensentscheid. Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat daher nur zu prüfen, ob das kantonale Gericht zu Recht auf die bei ihm erhobene Beschwerde nicht eingetreten ist. Streitig ist, ob die Rechtsvertreterin, welche am 11. September 2002 von der der Beschwerdeführerin gegenüber erfolgten Eröffnung der Verfügung vom 4. September 2002 telefonisch Kenntnis erhielt, am 17. Oktober 2002 rechtzeitig Beschwerde erhob.
2.
Im Sozialversicherungsrecht des Bundes gilt der allgemeine Grundsatz, dass Mitteilungen von Behörden an die Vertretung einer Partei zu richten sind, solange die Partei ihre Vollmacht nicht widerruft. Dieser Grundsatz dient - im Interesse der Rechtssicherheit - dazu, allfällige Zweifel darüber zum Vornherein zu beseitigen, ob die Mitteilungen an die Partei selber oder an ihre Vertretung zu erfolgen haben, sowie um klarzustellen, welches die für einen Fristenlauf massgebenden Mitteilungen sein sollen (ZAK 1991 S. 377 Erw. 2a, RKUV 1997 Nr. U 288 S. 444 Erw. 2b, je mit Hinweisen).
Ferner darf nach einem weiteren, im gesamten Bundessozialversicherungsrecht geltenden Grundsatz den Parteien aus mangelhafter Eröffnung einer Verfügung kein Nachteil erwachsen. Nach der Rechtsprechung ist nicht jede mangelhafte Eröffnung schlechthin nichtig mit der Konsequenz, dass die Rechtsmittelfrist nicht zu laufen beginnen könnte. Aus dem Grundsatz, dass den Parteien aus mangelhafter Eröffnung keine Nachteile erwachsen dürfen, folgt vielmehr, dass dem beabsichtigten Rechtsschutz schon dann Genüge getan wird, wenn eine objektiv mangelhafte Eröffnung trotz ihres Mangels ihren Zweck erreicht. Das bedeutet nichts anderes, als dass nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu prüfen ist, ob die betroffene Partei durch den gerügten Eröffnungsmangel tatsächlich irregeführt worden ist. Richtschnur für die Beurteilung dieser Frage ist der auch in diesem prozessualen Bereich geltende Grundsatz von Treu und Glauben, an welchem die Berufung auf Formmängel in jedem Fall ihre Grenze findet (BGE 111 V 150 mit Hinweisen; ZAK 1989 S. 176 Erw. 2a; ARV 1987 S. 119). So lässt sich mit den Grundsätzen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit nicht vereinbaren, dass ein Verwaltungsakt wegen mangelnder Rechtsmittelbelehrung jederzeit an
den Richter weitergezogen werden kann; vielmehr muss ein solcher Verwaltungsakt innert einer vernünftigen Frist in Frage gestellt werden (BGE 111 V 150, 106 V 97 Erw. 2a, 104 V 166 Erw. 3, vgl. auch BGE 105 V 111 Erw. 3 in fine). Der Zeitraum dieser vernünftigen Frist wird praxisgemäss nach den besonderen Umständen des Einzelfalls bemessen (nicht veröffentlichte Urteile B. vom 22. Mai 1987 [H 16/86] und F. vom 28. März 1991 [I 320/89]).
3.
Die Beschwerdeführerin bestellte die Anwältin nach Erhalt des Vorbescheids zur Rechtsvertreterin. Jene teilte dies der IV-Stelle sofort mit und reichte die Vollmacht ein, wobei sie gleichzeitig um Akteneinsicht ersuchte und die Abgabe einer Stellungnahme zum Vorbescheid ankündigte. Wie aus der Begründung der Rentenverfügung hervor geht (Anrede: "Guten Tag Frau Dr. Schiavi"), hat sie dann im Anhörungsverfahren Einwände zum Vorbescheid eingebracht. Offenbar versäumte es die IV-Stelle, die für die Eröffnung der Verfügung zuständige Ausgleichskasse über das Vertretungsverhältnis zu informieren oder ihr die Vollmacht zu übermitteln. Der Vorgang ist durch die Vorinstanz nicht geklärt worden, es ist aber erstellt, dass der Rechtsvertreterin die Verfügung nicht - oder zumindest nicht mangelfrei - direkt eröffnet worden ist. Die Beschwerdeführerin setzte sich bereits am vierten Tag nach der bei ihr mit normaler Briefpost erfolgten Eröffnung mit ihrer Anwältin in Verbindung, welche sich nach unbestrittener Darstellung noch am gleichen Tage und dann während einer ganzen Woche mehrfach bei der IV-Stelle und der Ausgleichskasse um die Zustellung der Verfügung bemühte. Die Beschwerdeführerin und die Anwältin haben damit ihre Sorgfaltspflicht
unzweifelhaft erfüllt, und der von der Vorinstanz unter Verweis auf ARV 2002 S. 66 gezogene Schluss auf den vorliegend zu beurteilenden Sachverhalt ist gerade unter diesem Gesichtspunkt nicht angängig.
4.
Zudem kann sich nach BGE 115 Ia 20 Erw. 5c die Rechtsmittelfrist gestützt auf den verfassungsmässigen Anspruch auf Vertrauensschutz dann verlängern, wenn noch vor ihrem Ende eine entsprechende vertrauensbegründende Auskunft erteilt wird. Eine solche Auskunft kann darin bestehen, dass der mit Rechtsmittelbelehrung versehene Entscheid dem Betroffenen noch vor Ablauf der Frist erneut zugestellt wird. Vorliegend wurde zwar der Entscheid nicht der Beschwerdeführerin, sondern der Rechtsvertreterin ein zweites Mal zugestellt, wenn auch bloss in Kopie und per Fax. Die Rechtsvertreterin brachte jedoch in der vorinstanzlichen Beschwerde vor, dass ihres Erachtens auch bei der zweiten Zustellung die Eröffnung mangelhaft erfolgt sei, und es ist auf Grund der Aktenlage nicht auszuschliessen, dass ihr von der Verwaltung telefonisch eine nochmalige formgültige Eröffnung in Aussicht gestellt wurde. Die IV-Stelle und die Ausgleichskasse hatten sich gegenüber der Vorinstanz nicht zu dieser Problematik zu äussern, die IV-Stelle hat aber darauf verzichtet, sich vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht dazu vernehmen zu lassen. Bei den von der Rechtsvertreterin eingereichten Unterlagen (Telefonnotizen vom 11. September 2002 [IV-Stelle und
Ausgleichskasse], 12. September 2002 [Ausgleichskasse], 18. September 2002 [IV-Stelle oder Ausgleichskasse] und 18. September 2002 [Ausgleichskasse]; Schreiben Rechtsvertreterin an IV-Stelle vom 20. September 2002) und in ihren Ausführungen im gesamten Beschwerdeverfahren finden sich keine Hinweise dafür, dass sie unter den konkreten Umständen des Einzelfalls nicht darauf vertrauen durfte, dass ihr die zunächst nicht direkt eröffnete Verfügung innert nützlicher Frist rechtsgültig eröffnet werde. Sie hat damit den Fristenlauf nicht hinausgezögert, sondern mit ihrem Vorgehen, die Verfügung bei der zuständigen Behörde einzufordern, die durch den Formmangel geschaffene Rechtsunsicherheit zu beseitigen versucht. Wenn aus dem Grundsatz, dass den Parteien aus mangelhafter Eröffnung keine Nachteile erwachsen dürfen, folgt, dass dem beabsichtigten Rechtsschutz dann Genüge getan wird, wenn eine objektiv mangelhafte Eröffnung trotz ihres Mangels ihren Zweck erreicht (vgl. Erw. 2), so sind die betreffenden Voraussetzungen vorliegend klar nicht gegeben. Unter den sich hier präsentierenden Umständen darf unter den massgebenden Gesichtspunkten des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit nicht behauptet werden, die Beschwerde gegen die falsch
zugestellte Verfügung vom 4. September 2002 sei am 17. Oktober 2002, dem 30. Tag nach der Übermittlung der Faxkopie an die Anwältin, zu spät erhoben worden. Nach dem Gesagten ist die Vorinstanz zu Unrecht auf das Rechtsmittel nicht eingetreten. Sie wird die materielle Prüfung der damit gestellten Anträge nachzuholen haben.
5.
Da im vorliegenden Verfahren nicht die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen streitig war, fällt es nicht unter die Kostenfreiheit gemäss Art. 134 OG. Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 134 OG e contrario; Art. 156 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG) und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 159 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 135 OG).
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der vorinstanzliche Nichteintretensentscheid vom 26. November 2002 aufgehoben und es wird die Sache an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen, damit es die Beschwerde materiell behandle.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
3.
Der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 500.- ist der Beschwerdeführerin zurückzuerstatten.
4.
Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.- (inkl. Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, der Ausgleichskasse Zürcher Arbeitgeber und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 21. März 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber: