Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas

Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts

Prozess
{T 7}
I 611/04

Urteil vom 10. Januar 2005
III. Kammer

Besetzung
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Kernen; Gerichtsschreiber Jancar

Parteien
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdeführerin,

gegen

R.________, 1957, Beschwerdegegner, vertreten durch Fürsprecherin Alessia Chocomeli-Lisibach, avenue du Moléson 3, 1700 Freiburg

Vorinstanz
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 19. August 2004)

Sachverhalt:
A.
Mit Verfügung vom 23. Oktober 2003 verneinte die IV-Stelle Bern den Anspruch des 1957 geborenen R.________ auf eine Invalidenrente. Die hiegegen erhobene Einsprache wies sie zunächst mit Entscheid vom 26. April 2004 ebenso ab wie das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung. Mit weiterem Einspracheentscheid vom 30. April 2004 hob sie den Entscheid vom 26. April 2004 auf und hiess die Einsprache insofern gut, als sie die Verfügung vom 23. Oktober 2003 zwecks weiterer Abklärungen aufhob (Dispositiv-Ziff. 1 und 2); das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung wies sie erneut ab (Dispositiv-Ziff. 3).
B.
In Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde hob das Verwaltungsgericht des Kantons Bern Dispositiv-Ziff. 3 des Einspracheentscheides vom 30. April 2004 auf und wies die IV-Stelle an, die Parteientschädigung des Versicherten für das Einspracheverfahren festzulegen (Dispositiv-Ziff. 1); weiter verpflichtete es die IV-Stelle, dem Versicherten für das kantonale Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 1287.40 zu bezahlen (Dispositiv-Ziff. 3; Entscheid vom 19. August 2004).
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die IV-Stelle die Aufhebung von Ziff. 1 und 3 des Dispositivs des kantonalen Entscheides.

Der Versicherte und das Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Der strittige Entscheid hat nicht die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen zum Gegenstand. Das Eidgenössische Versicherungsgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).
2.
2.1 Das kantonale Gericht hat die gesetzliche Bestimmung über die unentgeltliche Verbeiständung im Sozialversicherungsverfahren (Art. 37 Abs. 4
SR 830.1 Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)
ATSG Art. 37 Vertretung und Verbeiständung - 1 Die Partei kann sich, wenn sie nicht persönlich zu handeln hat, jederzeit vertreten oder, soweit die Dringlichkeit einer Untersuchung es nicht ausschliesst, verbeiständen lassen.
1    Die Partei kann sich, wenn sie nicht persönlich zu handeln hat, jederzeit vertreten oder, soweit die Dringlichkeit einer Untersuchung es nicht ausschliesst, verbeiständen lassen.
2    Der Versicherungsträger kann die Vertretung auffordern, sich durch schriftliche Vollmacht auszuweisen.
3    Solange die Partei die Vollmacht nicht widerruft, macht der Versicherungsträger seine Mitteilungen an die Vertretung.
4    Wo die Verhältnisse es erfordern, wird der gesuchstellenden Person ein unentgeltlicher Rechtsbeistand bewilligt.
ATSG; vgl. auch Art. 29 Abs. 3
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 29 Allgemeine Verfahrensgarantien - 1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
1    Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
2    Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör.
3    Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand.
BV) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt hinsichtlich der im Rahmen von alt Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV zu den Voraussetzungen der unentgeltlichen Verbeiständung im Verwaltungs- und Einspracheverfahren ergangenen Rechtsprechung (Bedürftigkeit der Partei, fehlende Aussichtslosigkeit der Rechtsbegehren, sachliche Gebotenheit im konkreten Fall; BGE 125 V 34 Erw. 2, 117 V 408; AHI 2000 S. 164 Erw. 2b), die nach dem Willen des Gesetzgebers weiterhin anwendbar ist (Urteil M. vom 29. November 2004 Erw. 2.1, I 557/04; BBl 1999 V S. 4595; Kieser, ATSG-Kommentar, Art. 37 Rz. 15 ff.). Darauf wird verwiesen.
2.2 Zu ergänzen ist, dass hinsichtlich der sachlichen Gebotenheit der unentgeltlichen anwaltlichen Verbeiständung im Einspracheverfahren die Umstände des Einzelfalls, die Eigenheiten der anwendbaren Verfahrensvorschriften sowie die Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens zu berücksichtigen sind. Dabei fallen neben der Komplexität der Rechtsfragen und der Unübersichtlichkeit des Sachverhalts auch in der Person des Betroffenen liegende Gründe in Betracht, wie etwa seine Fähigkeit, sich im Verfahren zurechtzufinden (Schwander, Anmerkung zu BGE 122 I 8, in: AJP 1996 S. 495). Falls ein besonders starker Eingriff in die Rechtsstellung des Bedürftigen droht, ist die Verbeiständung grundsätzlich geboten, andernfalls bloss, wenn zur relativen Schwere des Falls besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen der Gesuchsteller auf sich alleine gestellt nicht gewachsen ist (BGE 130 I 182 Erw. 2.2 mit Hinweisen), und wenn auch eine Verbeiständung durch Verbandsvertreter, Fürsorger oder andere Fach- und Vertrauensleute sozialer Institutionen nicht in Betracht fällt (BGE 125 V 34 Erw. 2, 114 V 236 Erw. 5b; AHI 2000 S. 163 f. Erw. 2a und b). Die sachliche Notwendigkeit wird nicht allein dadurch ausgeschlossen, dass das
in Frage stehende Verfahren von der Offizialmaxime oder dem Untersuchungsgrundsatz beherrscht wird, die Behörde also gehalten ist, an der Ermittlung des rechtserheblichen Sachverhaltes mitzuwirken (BGE 130 I 183 f. Erw. 3.2 und 3.3 mit Hinweisen). Die Offizialmaxime rechtfertigt es jedoch, an die Voraussetzungen, unter denen eine anwaltliche Verbeiständung sachlich geboten ist, einen strengen Massstab anzulegen (BGE 125 V 35 f. Erw. 4b; AHI 2000 S. 164 Erw. 2b; Urteil M. vom 29. November 2004 Erw. 2.2, I 557/04).
3.
Streitig ist der Anspruch des Versicherten auf anwaltliche Verbeiständung in dem der Verfügung vom 23. Oktober 2003 folgenden Einspracheverfahren.
3.1 Die Vorinstanz hat die Voraussetzungen der Bedürftigkeit des Versicherten und der fehlenden Aussichtslosigkeit seiner Rechtsbegehren als erfüllt angesehen, was unbestritten und nicht zu beanstanden ist.
3.2
3.2.1 Das kantonale Gericht hat mit einlässlicher und überzeugender Begründung, auf die verwiesen wird, die sachliche Gebotenheit der anwaltlichen Verbeiständung im Einspracheverfahren bejaht.
3.2.2 Die Einwendungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vermögen an diesem Ergebnis nichts zu ändern.

Die Vorinstanz hat berücksichtigt, dass an die Erforderlichkeit der anwaltlichen Verbeiständung im Einspracheverfahren ein strenger Massstab anzulegen ist.

Die IV-Stelle macht geltend, dem Versicherten wäre es zumutbar gewesen, eine Verbeiständung durch Verbandsvertreter, Fürsorger oder andere Fach- und Vertrauenspersonen in Anspruch zu nehmen. Auch diesbezüglich hat die Vorinstanz korrekt erwogen, dass die direkte Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe angesichts der nicht einfachen Fallumstände gerechtfertigt war.
4.
Streitigkeiten im Zusammenhang mit der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung unterliegen grundsätzlich nicht der Kostenpflicht, weshalb keine Gerichtskosten zu erheben sind (SVR 2002 ALV Nr. 3 S. 7 Erw. 5).

Da der Beschwerdegegner auf eine Vernehmlassung verzichtete, hat es mit der ihm vorinstanzlich zugesprochenen Parteientschädigung sein Bewenden.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 10. Januar 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Die Präsidentin der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
Decision information   •   DEFRITEN
Document : I_611/04
Date : 10. Januar 2005
Published : 28. Januar 2005
Source : Bundesgericht
Status : Unpubliziert
Subject area : Invalidenversicherung
Subject : Invalidenversicherung


Legislation register
ATSG: 37
BV: 4  29
OG: 104  105  132
BGE-register
114-V-228 • 117-V-408 • 122-I-8 • 125-V-32 • 130-I-180
Weitere Urteile ab 2000
I_557/04 • I_611/04
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BBl
1999/V/4595
AHI
2000 S.163 • 2000 S.164
AJP
1996 S.495