Bundesverwaltungsgericht
Tribunal administratif fédéral
Tribunale amministrativo federale
Tribunal administrativ federal


Abteilung IV

D-4592/2013

Urteil vom 8. Januar 2014

Richter Bendicht Tellenbach (Vorsitz),

Besetzung Richter Walter Stöckli, Richter Thomas Wespi,

Gerichtsschreiber Linus Sonderegger.

A._______,geboren (...),

Türkei,

Parteien vertreten durch Dr. iur. Oliver Brunetti,

BAS Beratungsstelle für Asylsuchende der Region Basel, (...),

Beschwerdeführerin,

gegen

Bundesamt für Migration,

Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

Asyl (ohne Wegweisung);
Gegenstand
Verfügung des BFM vom 10. Juli 2013 / N (...).

Sachverhalt:

A.
Die Beschwerdeführerin ist türkische Staatsangehörige kurdischer Ethnie mit letztem Wohnsitz in B._______ (Südostanatolien). Sie verliess ihr Heimatland am 28. März 2012 und reiste am 31. März 2012 in die Schweiz ein. Am darauf folgenden Tag suchte sie im Empfangs- und Verfahrenszentrum (EVZ) Basel um Asyl nach.

B.
Die Beschwerdeführerin wurde am 13. April 2012 zu ihrer Person und summarisch zum Reiseweg sowie ihren Gesuchsgründen befragt (Befragung zur Person [BzP]). Eine eingehende Anhörung zu den Asylgründen fand am 15. Juni 2012 statt.

C.
In diesen Befragungen machte die Beschwerdeführerin im Wesentlichen geltend, dass ihre Eltern sie mit ihrem Cousin hätten zwangsverheiraten wollen. Ausserdem sei sie von ihrer Familie geschlagen, bedroht und eingesperrt worden.

Im Rahmen der Anhörung beim BFM reichte die Beschwerdeführerin mehrere Artikel über Ehrenmorde und einen Artikel über das Zwangsheiratsverbot in der Schweiz zu den Akten.

D.
Am 24. Januar 2013 heiratete die Beschwerdeführerin einen türkischen Staatsangehörigen, welcher über eine Niederlassungsbewilligung "C" verfügt. Anlässlich der Ehevorbereitung übergab die Beschwerdeführerin ihre türkische Identitätskarte (Nüfus) den kantonalen Behörden, welche diese zuhanden des BFM sicherstellten.

E.
Mit Verfügung vom 10. Juli 2013 - eröffnet am 15. Juli 2013 - verneinte das BFM die Flüchtlingseigenschaft der Beschwerdeführerin und lehnte ihr Asylgesuch ab. Eine Wegweisung wurde nicht verfügt, da deren allfällige Anordnung in die Zuständigkeit der kantonalen Behörden fällt.

F.
Mit Eingabe ihres Rechtsvertreters vom 14. August 2013 focht die Beschwerdeführerin die ablehnende Verfügung beim Bundesverwaltungsgericht an. Dabei beantragte sie die Aufhebung der angefochtenen Verfügung, die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft und die Gewährung von Asyl.

Mit der Beschwerdeschrift wurde ein Arztbericht von C._______ vom (...) August 2013 eingereicht.

G.
Mit Zwischenverfügung vom 20. August 2013 wurde die Beschwerdeführerin aufgefordert, einen Kostenvorschuss zu leisten, welcher am 2. September 2013 fristgerecht einbezahlt wurde.

H.
In seiner Vernehmlassung vom 19. September 2013 nahm das BFM zu den Vorbringen in der Beschwerdeschrift Stellung und beantragte die Abweisung der Beschwerde.

I.
In der Replik vom 8. Oktober 2013 äusserte sich die Beschwerdeführerin zur vorinstanzlichen Vernehmlassung.

J.
Mit Zwischenverfügung vom 18. Oktober 2013 wurde die Beschwerdeführerin auf verschiedene Widersprüche in den Schilderungen des Sachverhalts hingewiesen und ihr Gelegenheit geboten, sich zur Glaubhaftigkeit der Vorbringen zu äussern. Am 15. November 2013 reichte die Beschwerdeführerin ihre Stellungnahme ein.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.

1.1 Gemäss Art. 31 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 (VGG, SR 173.32) beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vom 20. Dezember 1968 (VwVG, SR 172.021). Das BFM gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls endgültig, ausser bei Vorliegen eines Auslieferungsersuchens des Staates, vor welchem die beschwerdeführende Person Schutz sucht (Art. 105 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 [AsylG, SR 142.31]; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 [BGG, SR 173.110]). Eine solche Ausnahme im Sinne von Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG liegt nicht vor, weshalb das Bundesverwaltungsgericht endgültig entscheidet.

1.2 Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, dem VGG und dem BGG, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG).

1.3 Die Beschwerde ist frist- und formgerecht eingereicht. Die Beschwerdefürherin hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, ist durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung. Sie ist daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 105 und Art. 108 Abs. 1 AsylG, Art. 48 Abs. 1 sowie Art. 52 VwVG). Auf die Beschwerde ist einzutreten.

2.
Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht, die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts und die Unangemessenheit gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).

3.

3.1 Gemäss Art. 2 Abs. 1 AsylG gewährt die Schweiz Flüchtlingen grundsätzlich Asyl. Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden. Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken. Den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen (Art. 3 AsylG).

3.2 Wer um Asyl nachsucht, muss die Flüchtlingseigenschaft nachweisen oder zumindest glaubhaft machen. Diese ist glaubhaft gemacht, wenn die Behörde ihr Vorhandensein mit überwiegender Wahrscheinlichkeit für gegeben hält. Unglaubhaft sind insbesondere Vorbringen, die in wesentlichen Punkten zu wenig begründet oder in sich widersprüchlich sind, den Tatsachen nicht entsprechen oder massgeblich auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel abgestützt werden (Art. 7 AsylG).

4.

4.1 Die Beschwerdeführerin begründete ihr Gesuch damit, dass sie kurdischer Volkszugehörigkeit sei und aus B._______ stamme. Sie habe nie Probleme mit den türkischen Behörden gehabt. Allerdings habe ihre Familie sie gegen ihren Willen mit einem Cousin verheiraten wollen, welchem sie bereits als Kind versprochen worden sei. Ihr Vater habe sie geschlagen und eingesperrt, um seiner Anordnung Nachdruck zu verleihen. Nachdem ihr Vater ihr mitgeteilt habe, dass die Hochzeit im Juni 2012 stattfinden werde, habe sie sich entschieden, die Familie zu verlassen. Zuerst habe sie versucht, sich dem bewaffneten kurdischen Kampf anzuschliessen, sei jedoch nicht aufgenommen worden. Sie habe sich im Januar 2012 nach C._______ zu einer Freundin begeben und sei am 28. März 2012 mit Hilfe von Schleppern an Bord eines Lastwagens ausgereist. Bei einer Rückkehr in die Heimat befürchte sie, aufgrund ihres Verhaltens von Familienangehörigen getötet zu werden. Sie habe von einer Freundin erfahren, dass ihr Vater, ihr Onkel, ihr Cousin und ihre Brüder ihre Mutter beschuldigen würden, und diese geschlagen worden sei. Die Familienangehörigen würden überdies darüber beraten, was mit ihr (der Beschwerdeführerin) geschehen solle.

Als Beweismittel reichte die Beschwerdeführerin drei Internetartikel über Ehrenmorde (einer betreffend einen Mord in B._______, einen hinsichtlich einer Bekannten und einen über eine Tötung in Berlin) sowie einen Zeitungsartikel über das Verbot von Zwangsheirat in der Schweiz zu den Akten.

4.2 Das BFM liess in der angefochtenen Verfügung die Glaubhaftigkeit der Fluchtgeschichte offen, führte jedoch aus, die Vorbringen seien nicht asylrelevant. Nicht-staatliche Übergriffe seien nur dann beachtlich, wenn der Staat seiner Schutzpflicht nicht nachkomme. Von effektiver Schutzgewährung sei auszugehen, wenn geeignete Massnahmen zur Verhinderung von Verfolgungshandlungen getroffen würden, insbesondere durch wirksame Polizei- und Justizorgane, zu denen der Zugang sichergestellt sei. Die Beschwerdeführerin werde durch ihre Familienangehörigen und somit durch nicht-staatliche Drittpersonen verfolgt. Sie habe bereits in B._______ die Möglichkeit gehabt, bei den zuständigen Behörden oder etwa Frauenhäusern um Schutz zu ersuchen. Dies habe sie jedoch nicht getan. Die türkischen Behörden seien gegenüber solchen Bedrohungslagen sensibilisiert, und es sei von einer wirksamen Schutzinfrastruktur auszugehen. Die Beschwerdeführerin habe auch tatsächlichen Zugang zu diesen Institutionen, indem sie als selbständige Frau über eine gute Ausbildung und berufliche Erfahrung verfüge, wodurch sie sich bei den zuständigen Behörden Gehör verschaffen könne, nötigenfalls mit Hilfe eines Anwalts. Zudem verfüge sie über eine innerstaatliche Schutzalternative, indem sie sich in einer türkischen Grossstadt niederlassen könnte. Zu denken sei etwa an C._______, wo sie bereits vorübergehend bei einer Freundin gelebt habe. Aufgrund ihrer Ausbildung und Berufserfahrung erscheine eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Eingliederung möglich. Die subjektive Furcht der Beschwerdeführerin, überall in der Türkei gefährdet zu sein, sei daher objektiv unbegründet. Da die Beschwerdeführerin bisher keine Komplikationen mit dem türkischen Staat gehabt habe und lediglich kurz erfolglos versucht habe, sich dem kurdischen Widerstand anzuschliessen, seien auch keine Nachteile seitens der türkischen Behörden zu befürchten.

4.3 Die Beschwerdeführerin hielt diesen Erwägungen entgegen, dass die Vorinstanz die Glaubhaftigkeit der Ausführungen nicht angezweifelt habe und daher von diesem Sachverhalt auszugehen sei. Als Ergänzung sei anzufügen, dass die Beschwerdeführerin während ihres Aufenthalts in C._______ von einem Bekannten vergewaltigt worden sei, worüber sie in der Anhörung nicht habe berichten können. Die Vergewaltigung habe sie erstmals gegenüber ihrem Psychiater erwähnt und habe auch dort nur sehr eingeschränkt darüber berichten können. Dem BFM sei zwar zuzustimmen, dass der türkische Staat in jüngster Zeit vermehrt Anstrengungen zur Bekämpfung häuslicher Gewalt unternommen habe. Dennoch könne nicht von einem effektiven Schutz ausgegangen werden, indem etwa die Gesetze nicht umgesetzt würden. Selbst wenn man von einem genügenden Schutz ausgehen würde, wäre der Beschwerdeführerin dessen Inanspruchnahme nicht zumutbar. Sie sei durch ihre traumatisierenden Erlebnisse schwer gezeichnet, wodurch sie nicht in der Lage wäre, sich effektiven Schutz bei den Behörden zu verschaffen. Dadurch sei auch das Vorliegen einer innerstaatlichen Schutzalternative zu verneinen.

4.4 In der Vernehmlassung führte das BFM aus, dass die Wegweisung sowie der Wegweisungsvollzug nicht Prozessgegenstand seien und daher keine Veranlassung bestehe, sich zu den psychischen Problemen der Beschwerdeführerin zu äussern. Der Beschwerdeführerin könne die Inanspruchnahme des staatlichen Schutzes zugemutet werden und ihre diesbezügliche Unterlassung in der Vergangenheit könne nun nicht den staatlichen Behörden angelastet werden. Das staatliche Schutzniveau falle je nach Region unterschiedlich aus, indem im Osten des Landes eher Defizite auszumachen seien, während im Westen und Südwesten die Schutzfähigkeit eindeutig zu bejahen sei. Der Beschwerdeführerin könne aufgrund ihrer Biografie zugemutet werden, sich in anderen Regionen niederzulassen, um dadurch einer Gefährdung in B._______ zu entgehen. Die erst auf Beschwerdeebene geltend gemachte Vergewaltigung stelle ebenfalls einen rein kriminellen Übergriff von privater Seite dar, wovor sie bei staatlichen Stellen Schutz erlangen könne.

4.5 In der Replik wurde diesen Ausführungen entgegnet, dass - obwohl der Wegweisungsvollzug nicht Gegenstand des Verfahrens sei - die psychischen Beschwerden dennoch bei der Beurteilung einer innerstaatlichen Schutzalternative entscheidende Bedeutung besässen. So müsse eine alternative Schutzsuche im Lichte der aktuellen Rechtsprechung der privat verfolgten Person auch zumutbar sein. Dies setze voraus, dass der betreffenden Person individuell zugemutet werden könne, sich am Zufluchtsort längerfristig niederzulassen und eine neue Existenz aufzubauen. Das BFM führe aus, dass die Schutzgewährung insbesondere in den Städten der Westtürkei zu bejahen und der Beschwerdeführerin eine dortige Wohnsitznahme zumutbar sei. Dabei werde verkannt, dass die Umsetzung der in der Türkei jüngst erfolgten Sensibilisierung hinsichtlich frauenspezifischer Verfolgung landesweit noch sehr mangelhaft ausfalle, woraus sich trotz anderslautender Gesetze (noch) ein mangelhafter Schutz ergebe. Im Gegensatz zu den in der Beschwerde genannten Berichten vertrauenswürdiger Institutionen belege das BFM sein anderslautendes Fazit in keiner Weise. Auf subjektiver Ebene werde verkannt, dass bei der Beschwerdeführerin ärztlich attestiert davon auszugehen sei, eine Rückkehr in die Türkei würde zu einer Retraumatisierung, verbunden mit einer wesentlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes und einer akuten Suizidgefahr, führen. Die Möglichkeit einer Behandlung im Heimatstaat sei daher zu verneinen. Folglich könne vorliegend auch nicht von einer zumutbaren innerstaatlichen Schutzalternative ausgegangen werden.

5.1 Das BFM kam zu Recht zum Schluss, dass die Beschwerdeführerin die Flüchtlingseigenschaft nicht erfüllt. Einleitend ist zu erwähnen, dass auch durch die Stellungnahme ihres Rechtsvertreters zur teils widersprüchlichen Sachverhaltsdarstellung die Zweifel an deren Glaubhaftigkeit nicht vollständig beseitigt werden konnten. Wie jedoch bereits vom BFM ausgeführt, kann die Glaubhaftigkeit der Asylgründe offenbleiben. Die Beschwerdeführerin machte eine Verfolgung durch nicht-staatliche Akteure geltend, indem sie angab, wegen ihrer Weigerung, ihren Cousin zu ehelichen, wolle ihre Familie sie umbringen. Soweit auf Beschwerdeebene geltend gemacht wurde, den türkischen Behörden fehle es sowohl an Schutzfähigkeit als auch an Schutzwille, die von (häuslicher) Gewalt betroffenen Frauen vor ihren Peinigern zu schützen, ist Folgendes festzuhalten: Die Türkei hat in den vergangenen Jahren kontinuierlich Schritte zur Verbesserung der rechtlichen und gesellschaftlichen Situation der Frauen im Allgemeinen sowie im Besonderen zu deren Schutz vor Übergriffen mit soziokulturellem Hintergrund bis hin zum Ehrenmord unternommen. So trat im Jahre 1998 das Familienschutzgesetz Nr. 4320 in Kraft, welches im Jahre 2007 ergänzt wurde und auf Gewaltprävention, Opferschutz sowie Bestrafung von Übergriffen abzielt. Zu diesem Zweck wurden 166 Familiengerichte eingerichtet, von denen derzeit 157 operationell sind; der Zugang zu diesen Gerichten ist für die klagende Partei kostenlos, wie im Übrigen auch die Vollstreckung eines allfälligen Urteils. Mit einer entsprechenden Revision des türkischen Strafgesetzbuches wurden im Jahre 2004 zudem die Strafrahmen von Straftaten gegen Frauen erhöht und gleichzeitig die früher bestehenden Strafmilderungsgründe in Fällen von Ehrenmord und Vergewaltigung aufgehoben; gemäss Art. 82 des türkischen Strafgesetzbuches gilt Ehrenmord nunmehr als qualifiziertes Tötungsdelikt, welches mit lebenslänglicher Gefängnisstrafe zu ahnden ist (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
D-5327/2009 vom 26. März 2010 E. 6.3.3, mit weiteren Hinweisen). Bereits im Jahre 1990 wurden die offiziell als "Gästehäuser" bekannten Frauenhäuser in der Türkei eröffnet, um Hilfe für Opfer von häuslicher verbaler, emotionaler, wirtschaftlicher, sexueller oder körperlicher Gewalt zu bieten. Die Einrichtungen sind bemüht, die Frauen derart zu stärken, dass sie am Ende wirtschaftliche Unabhängigkeit erlangen können, und helfen auch bei der Lösung psychologischer oder sozialer Probleme, mit denen sich die Hilfesuchenden konfrontiert sehen (vgl. www.deutsch-tuerkische-nachrichten.de > Häusliche Gewalt in der Türkei: Rund 11'000 Frauen in staatlicher Obhut, vom 3. Dezember 2012, aufgerufen am 10. Dezember 2013). Das Ministerium arbeitet am Ausbau der Infrastruktur, um sicherzustellen, dass in jeder türkischen Provinz mindestens eine dieser Zufluchtstätten vorhanden ist. Mit Stand vom 19. November 2012 betrug die Anzahl der türkischen Frauenhäuser 76 (vgl. a.a.O.). Auf dem 30. Kongress über die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau in der Türkei (CEDAW) sagte Fatma ahin, die türkische Familienministerin, dass die Aktionen gegen diejenigen, die Gewalt gegen Frauen anwenden würden, verstärkt worden seien (vgl. www.deutsch-tuerkische-nachrichten.de Familienministerin ahin: "Häusliche Gewalt ist schlimmer als Rassismus", vom 3. November 2012, aufgerufen am 10. Dezember 2013). Im Jahr 2011 hat die Türkei eine neue europäische Konvention unterzeichnet, mit welcher der Europarat konkret gegen häusliche Gewalt vorgehen will. Die neue europäische Konvention soll Frauen besser vor Gewalt und häuslichen Übergriffen schützen. Die entsprechende Übereinkunft wurde bei einem Aussenministertreffen des Europarates von 13 Staaten unterzeichnet, unter anderem von Deutschland, Österreich und der Türkei. In dem Dokument verpflichten sich die Staaten erstmals auf ein konkretes Vorgehen gegen häusliche Gewalt (vgl. www.zeit.de > Gesellschaft > Neue Konvention > Europarat bekämpft Gewalt gegen Frauen, vom 11. Mai 2011, aufgerufen am 10. Dezember 2013). Dass die Türkei die Konvention in den Verhandlungen unterstützt und unterzeichnet hat, gilt als Erfolg (vgl. a.a.O.). So wird denn auch die Konvention von Menschenrechtlern als bahnbrechend bezeichnet. Ein Vertreter der Organisation "Human Rights Watch" sagte, es handle sich dabei um das erste, rechtlich verbindliche internationale Dokument, das einen übergreifenden rechtlichen Rahmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen schaffe (vgl. a.a.O.). Anfang März 2012 wurde in der Türkei ein Gesetz verabschiedet, das Frauen besser vor häuslicher Gewalt schützen soll. Die wichtigste Neuerung dieses Gesetzes ist, dass alle Frauen unabhängig von ihrem Beziehungsstatus Anrecht
auf Schutz haben. Ausserdem soll die Polizei nun schneller auf Anzeigen und Hilfegesuche durch Betroffene reagieren (vgl. www.big-berlin.info > BIG newsletter Ausgabe 33 // Juni 2012 > Türkei > Neues Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt, aufgerufen am 10. Dezember 2013). Ausserdem wurden unter dem Gesetz Nr. 6284 über die Verhütung von Gewalt gegen Frauen (verabschiedet am 8. März 2012) vorbeugende Massnahmen gegen häusliche Gewalt und Missbrauch geregelt (vgl. www.deutsch-tuerkische-nachrichten.de > Häusliche Gewalt in der Türkei: Rund 11'000 Frauen in staatlicher Obhut, vom 3. Dezember 2012, aufgerufen am 10. Dezember 2013). Zudem wurden unter diesem Gesetz 14 neue Zentren zur Gewaltprävention und Überwachung ( ÖNIM) geschaffen, weitere seien geplant, und bis Ende dieses Jahres sollte jede Provinz über eines dieser Zentren verfügen (vgl. a.a.O.; vgl. zum Ganzen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-4016/2013 vom 24. September 2013 E. 5.2).

5.2 Auch wenn - wie in der Beschwerde vorgebracht und was an sich nicht zu bestreiten ist - in der Türkei nach wie vor häufig Ehrenmorde geschehen, so bedeutet dies keineswegs, dass die bedrohten Frauen innerfamiliären Übergriffen völlig schutzlos ausgeliefert wären. Vielmehr zeigt sich gemäss vorstehenden Ausführungen, dass die türkischen Behörden entschlossen sind, gegen das Phänomen der Ehrenmorde effektiv vorzugehen und dass sie grundsätzlich auch in der Lage sind, Schutz zu gewähren. Daran vermögen auch die Hinweise auf die beiden in Zeitungsberichten der Jahre 2010 und 2011 genannten Ehrenmorde in B._______ nichts zu ändern, zumal diese keinen direkten Bezug zur Beschwerdeführerin aufweisen. Entgegen den anderslautenden Ausführungen auf Beschwerdeebene ist somit in Übereinstimmung mit der Vorinstanz vom behördlichen Schutzwillen und der behördlichen Schutzfähigkeit auszugehen. Dies trifft insbesondere auf die türkischen Grossstädte zu, so dass die Beschwerdeführerin sich allenfalls dort niederzulassen hätte.

5.3 Zu Recht wird in der Beschwerde darauf hingewiesen, dass die Inanspruchnahme einer staatlichen Schutzinfrastruktur der betroffenen Person auch subjektiv zumutbar sein müsse (vgl. dazu etwa BVGE 2013/5 E. 5.4.3 S. 57; BVGE 2008/4 E. 5.2 S. 38; Entscheidungen und Mitteilungen der Schweizerischen Asylrekurskommission [EMARK] 2006 Nr. 18 E. 10.3.1 und 10.3.2 S. 203).

5.4 Dies ist im vorliegenden Fall zu bejahen. Bei der Beschwerdeführerin handelt es sich um eine selbständige Frau mit guter Ausbildung und beruflicher Erfahrung, wodurch von ihr erwartet werden kann, dass sie sich bei den zuständigen Behörden Gehör verschaffen kann, nötigenfalls mit Hilfe eines Anwalts.

An dieser Einschätzung vermögen auch die mit Beschwerde geltend gemachten psychischen Probleme der Beschwerdeführerin nichts zu ändern. Gemäss Arztbericht vom (...) August 2013 leidet sie an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS; ICD-10 F43.1) und einer rezidivierenden depressiven Störung (ICD-10 F33.11). Die Türkei verfügt jedoch über eine medizinische Infrastruktur, welche eine Therapie dieser psychischen Leiden ermöglicht. Auch wenn in der Türkei der Standard der Behandlung von psychisch Erkrankten nicht dem schweizerischen Standard entsprechen dürfte, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass es der Beschwerdeführerin möglich wäre, die notwendigen ärztlichen Behandlungen zu erhalten. Psychotherapien können in Universitätsspitälern oder in landesweit tätigen psychiatrischen Einrichtungen, welche über ausgebildetes Personal verfügen, durchgeführt werden (vgl. Urteile des Bundesverwaltungsgerichts D-5797/2012 vom 12. März 2013 E. 12.5.3 und D-1062/2012 vom 10. Januar 2013 E. 11.4.3). Einer allfälligen Retraumatisierung im Zusammenhang mit der Rückkehr in die Heimat könnte mit geeigneter psychiatrischer Betreuung im Zeitraum der Rückkehr begegnet werden. Somit sind keine individuellen Gründe ersichtlich, welche die Inanspruchnahme der staatlichen Schutzinfrastruktur - eventuell verbunden mit der Niederlassung in einer türkischen Grossstadt - als unzumutbar erscheinen lassen würden.

5.5 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Türkei hinsichtlich der von der Beschwerdeführerin geltend gemachten privaten Verfolgung als schutzwillig und schutzfähig zu erachten ist, und dass der Beschwerdeführerin die Inanspruchnahme dieses Schutzes zumutbar ist. Somit hat das BFM zu Recht die Flüchtlingseigenschaft verneint und das Asylgesuch abgelehnt.

6.

Wie von der Vorinstanz zu Recht ausgeführt, fällt die Prüfung des Wegweisungs- und Wegweisungsvollzugspunkts vorliegend in die Zuständigkeit der kantonalen Migrationsbehörden, wodurch darüber nicht weiter zu befinden ist.

7.
Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die angefochtene Verfügung Bundesrecht nicht verletzt, den rechtserheblichen Sachverhalt richtig und vollständig feststellt und angemessen ist (Art. 106 AsylG). Die Beschwerde ist abzuweisen.

8.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Kosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1 VwVG) und auf insgesamt Fr. 600.- festzusetzen (Art. 1 -3 des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]). Sie sind mit dem in gleicher Höhe geleisteten Kostenvorschuss zu verrechnen.

(Dispositiv nächste Seite)

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Verfahrenskosten von Fr. 600.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. Sie werden mit dem in gleicher Höhe geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.

3.
Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführerin, das BFM und die zuständige kantonale Behörde.

Der vorsitzende Richter: Der Gerichtsschreiber:

Bendicht Tellenbach Linus Sonderegger

Versand:
Informazioni decisione   •   DEFRITEN
Documento : D-4592/2013
Data : 08. gennaio 2014
Pubblicato : 24. gennaio 2014
Sorgente : Tribunale amministrativo federale
Stato : Inedito
Ramo giuridico : Asilo
Oggetto : Asyl (ohne Wegweisung); Verfügung des BFM vom 10. Juli 2013


Registro di legislazione
LAsi: 2  3  6  7  105  106  108
LTAF: 31  32  33  37
LTF: 83
PA: 5  48  52  63
TS-TAF: 1  3
Parole chiave
Elenca secondo la frequenza o in ordine alfabetico
tribunale amministrativo federale • violenza domestica • autorità inferiore • fattispecie • famiglia • regione • anticipo delle spese • padre • autorità cantonale • violenza carnale • consiglio d'europa • stato d'origine • legge sull'asilo • rapporto medico • atto di ricorso • replica • esperienza • legge federale sul tribunale federale • mezzo di prova • cancelliere
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