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Auszug aus dem Urteil der Abteilung IV
i.S. A. gegen Bundesamt für Migration
D 4808/2010 vom 4. Februar 2013

Asylverfahren. Sudan. Innerstaatliche Schutzalternative für Personen aus Darfur im Grossraum Khartoum. Grundsatzurteil.

Art. 1 A Ziff. 2 FK. Art. 3
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 3 Flüchtlingsbegriff - 1 Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
1    Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
2    Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken. Den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen.
4    Keine Flüchtlinge sind Personen, die Gründe geltend machen, die wegen ihres Verhaltens nach der Ausreise entstanden sind und die weder Ausdruck noch Fortsetzung einer bereits im Heimat- oder Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Vorbehalten bleibt die Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951.6
AsylG.

In Abänderung der in EMARK 2006 Nr. 25 publizierten Praxis der vormaligen Schweizerischen Asylrekurskommission kann für Personen aus Darfur wegen des im Grossraum Khartoum nunmehr grundsätzlich vorhandenen Schutzes eine innerstaatliche Schutzalternative angenommen werden, sofern das - gemäss geltender Praxis nach BVGE 2011/51 E. 8 - zusätzlich zu beachtende Kriterium der Zumutbarkeit erfüllt ist (E. 5.3 5.5).

Procédure d'asile. Soudan. Possibilité de protection interne pour les personnes provenant du Darfour dans la région de Khartoum. Arrêt de principe.

Art. 1 A ch. 2 Convention du 28 juillet 1951 relative au statut des réfugiés. Art. 3 LAsi.

En modification de la pratique de l'ancienne Commission suisse de recours en matière d'asile, publiée dans la décision JICRA 2006 no 25, on peut admettre que les personnes du Darfour bénéficient en principe désormais d'une possibilité de protection interne compte tenu de la situation existant dans la région de Khartoum, à la condition supplémentaire que le critère de l'exigibilité soit rempli, conformément à la pratique actuelle définie à l'ATAF 2011/51 consid. 8 (consid. 5.3 5.5).

Procedura d'asilo. Sudan. Alternativa di protezione interna nell'area di Khartoum per le persone provenienti dal Darfur. Sentenza di principio.

Art. 1 A n. 2 della Convenzione del 28 luglio 1951 sullo statuto dei rifugiati. Art. 3 LAsi.

A modifica della prassi della già Commissione svizzera di ricorso in materia d'asilo, pubblicata nella GICRA 2006 n. 25, la protezione di cui è ormai possibile usufruire nell'area di Khartoum consente di principio di ammettere, per le persone provenienti dal Darfur, un'alternativa di protezione interna, a condizione che sia adempiuto anche il criterio dell'esigibilità conformemente alla nuova prassi definita in DTAF 2011/51 consid. 8 (consid. 5.3 5.5).


A., ein sudanesischer Staatsangehöriger aus Darfur, stellte am 17. Januar 2005 ein Asylgesuch. Zur Begründung machte er im Wesentlichen geltend, im Oktober 2004 sei bei einem Angriff der sudanesischen Miliz der Janjaweed sein Bruder getötet worden. Am 4. Dezember 2004 sei sein Dorf durch die Janjaweed überfallen und zerstört worden. Deswegen habe er den Sudan am 10. Dezember 2004 verlassen.

Am 30. März 2010 wurden im Auftrag des Bundesamts für Migration (BFM) die landeskundlich-kulturellen und sprachlichen Kenntnisse des Beschwerdeführers hinsichtlich der von ihm geltend gemachten Herkunft aus Darfur analysiert. Die diesbezüglich erstellten LINGUA-Gutachten vom 12. April 2010 und vom 26. Mai 2010 ergaben, dass er eindeutig in Darfur sozialisiert worden sei.

Das BFM stellte mit Verfügung vom 1. Juni 2010 fest, der Beschwerdeführer erfülle die Flüchtlingseigenschaft nicht und lehnte dessen Asylgesuch ab. Gleichzeitig wurde die Wegweisung aus der Schweiz angeordnet und der Vollzug der Wegweisung wegen Unzumutbarkeit zugunsten einer vorläufigen Aufnahme aufgeschoben. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Vorbringen des Beschwerdeführers hielten den Anforderungen an die Flüchtlingseigenschaft gemäss Art. 3
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 3 Flüchtlingsbegriff - 1 Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
1    Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
2    Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken. Den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen.
4    Keine Flüchtlinge sind Personen, die Gründe geltend machen, die wegen ihres Verhaltens nach der Ausreise entstanden sind und die weder Ausdruck noch Fortsetzung einer bereits im Heimat- oder Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Vorbehalten bleibt die Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951.6
des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 (AsylG, SR 142.31) nicht stand. Aufgrund dessen, dass der Beschwerdeführer über kein verwandtschaftliches Beziehungsnetz in einer der sicheren Regionen des Sudans verfüge, sei seine vorläufige Aufnahme wegen Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs anzuordnen.

Mit Beschwerde vom 3. Juli 2010 beantragte der Beschwerdeführer die Anerkennung als Flüchtling und die Gewährung von Asyl.

Das Bundesverwaltungsgericht heisst die Beschwerde gut.


Aus den Erwägungen:

5.1 Wie (...) hervorgeht, hat die Vorinstanz die Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers mit der Begründung verneint, es bestehe für ihn ausserhalb Darfurs eine innerstaatliche Schutzalternative. Dass der Beschwerdeführer hingegen in seiner Herkunftsregion Darfur Verfolgungsmassnahmen ausgesetzt war, hat indessen die Vorinstanz nicht in Abrede gestellt.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht nicht in Zweifel, dass der Beschwerdeführer in Darfur einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt war. Wie aus der Lageanalyse im Sinne von Entscheidungen und Mitteilungen der Schweizerischen Asylrekurskommission (EMARK) 2006 Nr. 25 hervorgeht, richten sich die Übergriffe der Janjaweed und der anderen auf Regierungsseite kämpfenden Streitkräfte gegen ethnisch definierte Gruppen von Opfern. Der Beschwerdeführer, als Angehöriger der Zaghawa, ist somit ebenfalls gezielt Opfer der Janjaweed geworden. Die Gezieltheit ergibt sich daraus, dass die Verfolgungshandlungen konkret gegen ihn gerichtet waren und er nicht bloss zufällig Opfer allgemeiner Bürgerkriegswirren geworden ist. Die erlebte Verfolgung beruht folglich auf einer im Sinne von Art. 3
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 3 Flüchtlingsbegriff - 1 Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
1    Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
2    Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken. Den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen.
4    Keine Flüchtlinge sind Personen, die Gründe geltend machen, die wegen ihres Verhaltens nach der Ausreise entstanden sind und die weder Ausdruck noch Fortsetzung einer bereits im Heimat- oder Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Vorbehalten bleibt die Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951.6
AsylG relevanten Verfolgungsmotivation (vgl. EMARK 2006 Nr. 25 E. 8.2). Nach dem Gesagten ist hervorzuheben, dass es dem Beschwerdeführer, einem Zaghawa ohne politisches Profil, insgesamt gelungen ist, eine Verfolgung in seiner Heimatregion Darfur glaubhaft zu machen. Dies ergibt sich nicht nur angesichts des Umstands, wonach die in Darfur herrschende Situation allgemeiner Gewalt gerichtsnotorisch ist, sondern auch aufgrund der übereinstimmenden Angaben des
Beschwerdeführers zu den Übergriffen der Janjaweed-Milizen im Oktober und Dezember 2004. Für seine Glaubhaftigkeit spricht im Weiteren, dass er laut dem Ergebnis der LINGUA-Expertisen vom 12. April 2010 und 26. Mai 2010 eindeutig in Darfur sozialisiert wurde.

Streitig ist somit einzig die Frage, ob die von der Vorinstanz getroffene Annahme einer - die Flüchtlingseigenschaft ausschliessenden - innerstaatlichen Schutzalternative im Raum Khartoum bestätigt werden kann oder nicht.

5.2 Die vormals zuständige Schweizerische Asylrekurskommission (ARK) hat in EMARK 2006 Nr. 25 zur Lage von Personen aus Darfur in Darfur und ausserhalb ihrer Region festgehalten, dass innerhalb der Landesgrenzen Sudans nicht von einer Schutzalternative ausgegangen werden könne. Der Beschwerdeführer müsse am Zufluchtsort Schutz finden können, an dessen Effektivität hohe Anforderungen zu stellen seien (vgl. EMARK 1996 Nr. 1). In Anbetracht der direkten Ausübung von Gewalt in Darfur durch die staatlichen Streitkräfte beziehungsweise der Unterstützung der Janjaweed-Milizen durch die sudanesische Zentralregierung sei nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer an einem Ort innerhalb der Landesgrenzen Sudans vor Verfolgung sicher wäre. Gemäss des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) lebten alleine in der Hauptstadt Khartoum ungefähr zwei Millionen Binnenflüchtlinge (Internally Displaced Persons, nachfolgend: IDPs) - davon etwa 10 15 % aus Darfur - in vier Lagern und sechzehn Siedlungen in der Stadt und deren Umgebung verteilt. Diese seien täglich Belästigungen und Gewalttaten von Seiten der Behörden ausgesetzt. Flüchtlinge aus Darfur würden aus Lagern
vertrieben und zurück nach Darfur deportiert; die Gefährdung und Bedrohung sei dermassen verbreitet, dass nicht von einer innerstaatlichen Schutzalternative ausgegangen werden könne. Schliesslich deute die Haltung der Regierung Sudans im Friedensprozess in Darfur bisher ebenfalls nicht auf einen Schutzwillen hin; zum einen verhindere sie die Ablösung der African Union Mission in Sudan (AMIS) durch UN-Blauhelme, welche sie als westliche Invasion bezeichne, zum andern seien bisher keine Bemühungen seitens der Regierung zur in den Friedensverträgen vereinbarten Entwaffnung der Janjaweed sichtbar gewesen. Daraus sei abzuleiten, dass Personen aus Darfur nicht davon ausgehen könnten, vom sudanesischen Staat in Darfur und ausserhalb ihrer Region den nötigen Schutz gegen allfällige Diskriminierungen, Behelligungen und weitere Verfolgungsmassnahmen beanspruchen zu können (vgl. EMARK 2006 Nr. 25 E. 8.3).

5.3 Vor diesem Hintergrund ist nachfolgend anhand einer Lagebeurteilung zu prüfen, ob Personen aus Darfur ausserhalb ihrer Region auch im heutigen Zeitpunkt allfällige Verfolgungsmassnahmen zu befürchten haben oder ob sich ihre Situation seit der in EMARK 2006 Nr. 25 vorgenommenen Einschätzung dahingehend verändert hat, dass die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Schutzalternative beispielsweise im Grossraum Khartoum bejaht werden kann. In einem ersten Schritt sind einige allgemeine Ausführungen zur Bevölkerung in Khartoum sowie zur dort herrschenden sozio-ökonomischen Situation erforderlich (vgl. E. 5.3.1 5.3.5).

Für seine Beurteilung hat sich das Gericht auf folgende Quellen gestützt: Sudan Central Bureau of Statistics, 2009, erwähnt in: Sara Pantuliano et al. (Overseas Development Institute, London [Hrsg.]), City limits: urbanisation and vulnerability in Sudan, Khartoum case study, Januar 2011; Observatory for the Protection of Human Rights Defenders (Hrsg.), Sub-Saharan Africa, Annual Report 2010, Sudan, September 2010, S. 89ff.; U.S. Department of State (Hrsg.), 2010 Human Rights Report: Sudan, 08.04.2011; United Nations Security Council (Hrsg.), Report of the Secretary-General on the African Union United Nations Hybrid Operation in Darfur, 08.07.2011; United Nations General Assembly (Hrsg.), Report of the independent expert on the situation of human rights in the Sudan, Mohamed Chande Othman, 22.08.2011; African Centre for Justice and Peace Studies (ACJPS) (Hrsg.), Sudan Human Rights Monitor, Issue 9, December 2010 January 2011; ACJPS, Sudan Human Rights Monitor, Issue 10, February March 2011; ACJPS, Sudan Human Rights Monitor, Issue 11, April May 2011; Inter Press Service (IPS), SUDAN: Feeling the Economic Impact Before Secession, 23.06.2011; NZZ Online, Ölfeld « mit allen Mitteln » zurückerobern, 13.04.2012; NZZ Online,
Gefährliche Eskalation im Sudan, 13.04.2012; NZZ Online, Sudans Präsident droht dem Süden mit Krieg, 19.04.2012; NZZ Online, Kriegsgefahr scheint gebannt, 21.04.2012; UNHCR (Hrsg.), A tale of three cities: internal displacement, urbanization and humanitarian action in Abidjan, Khartoum and Mogadishu, März 2009; Ibrahim Elnur, Contested Sudan: the political economy of war and reconstruction, 2009, Routledge (New York), S. 104f.; Landinfo Norwegian Country of Information Centre (Hrsg.), Sudan - Internally displaced persons in Khartoum, 03.11.2008; Karen Jacobsen, Feinstein International Center, Tufts University in collaboration with Internal Displacement Monitoring Centre, Internal Displacement to Urban Areas: the Tufts-IDMC Profiling Study. Khartoum, Sudan: Case 1, August 2008; UNHCR, Donor Update: Sudan, July 2011; Agnès de Geoffroy, From Internal to International Displacement in Sudan, Paper prepared for the Migration and Refugee Movements in the Middle East and North Africa, 23. 25. Oktober 2007; UNHCR, Update on Demolitions in Mayo and Challenges to the Implementation of the Guiding Principles on Relocation, Juni 2009 (unpubliziert), erwähnt in: Sara Pantuliano et al. (Overseas Development Institute, London), City limits:
urbanisation and vulnerability in Sudan, Synthesis report, Januar 2011; Reuters, Sudan police surround Khartoum camp-residents, 22.03.2010; Center for Strategic and International Studies (CSIS), Sudan: Assessing Risks to Stability, Juni 2011; United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) (Hrsg.), Sudan: Abyei Crisis Situation Report No. 11, 06.06.2011; Human Rights Watch (Hrsg.), Sudan: Southern Kordofan Civilians Tell of Air Strike Horror, 30.08.2011; OCHA, Sudan: South Kordofan and Blue Nile Situation Report No. 17, 06.09.2011; Donor Relations and Resource Mobilization Service (Hrsg.), UNHCR's emergency response for Sudanese refugees in Ethiopia and South Sudan, Januar 2012.

5.3.1 Nach der Unabhängigkeit des Südsudans am 9. Juli 2011 hat sich die Lage im Sudan verändert, auch wenn die Lage in Khartoum bisher ruhig ist: Die regierende National Congress Party (NCP) und Präsident Bashir sind durch den « Verlust » des Südsudans, durch die ökonomischen Auswirkungen, die Streichungen von gewissen Subventionen und die Preissteigerungen innenpolitisch geschwächt. Im Frühjahr 2011 sympathisierten mehrere Oppositionsparteien im Sudan mit den Aufständischen in Nordafrika und begannen in Khartoum Proteste zu organisieren. Diese wurden von Sicherheitskräften verhindert oder aufgelöst; dabei kam es zu Verhaftungen.

In der Grenzregion zwischen Nord- und Südsudan ist es seit Anfang 2011 zu mehreren bewaffneten Auseinandersetzungen gekommen: Im Mai und Juni 2011 nahmen die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Truppen der sudanesischen Armee und der südsudanesischen Sudan People's Liberation Army (SPLA) im Grenzgebiet Abyei zu; rund 96 000 Personen wurden durch die Kämpfe aus der Region vertrieben. Seit dem Referendum über die Unabhängigkeit des Südsudans im Januar 2011 und der damit verbundenen Ungewissheit, wie hoch die künftigen Einnahmen aus der Erdölförderung, die vor allem im Südsudan liegt, sein werden, ist die Wirtschaft ins Stocken geraten: Die nationale Währung verlor an Wert, Preise steigen, die Inflation nimmt zu. Staatliche Subventionen für Treibstoff und Zucker wurden Anfang 2011 gestrichen, was zu einem Dominoeffekt mit höheren Preisen für Güter und Transport führte.

5.3.2 Im Teilstaat South Kordofan an der Grenze zum Südsudan begannen im Juni 2011 Kämpfe zwischen der sudanesischen Armee und der südsudanesischen SPLA (mittlerweile seit der Unabhängigkeit des Südsudans: südsudanesische Armee). Die sudanesische Armee bombardierte Ortschaften in den Nuba-Bergen aus der Luft und beging zahlreiche Menschenrechtsverletzungen in dem Gebiet. Rund 150 000 Personen wurden durch die Kämpfe vertrieben. Im Teilstaat Blue Nile an der Grenze zum Südsudan attackierten im September 2011 sudanesische Truppen den dortigen Gouverneur, der als einziger sudanesischer Gouverneur einer Oppositionspartei (Sudan People's Liberation Movement-North, SPLM-N) angehört. Bei den folgenden bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Truppen des Gouverneurs und der sudanesischen Armee setzte diese unter anderem Bomben aus der Luft ein. Rund 50 000 Personen flüchteten. Alle Büros der SPLM-N im Sudan wurden von den Behörden geschlossen.

Während der letzten sechs Monate des Jahres 2011 hatten humanitäre Akteure beschränkten Zugang zu den beiden Teilstaaten und nur begrenzte Hilfestellung erreichte die Bevölkerung. Obwohl es schwierig ist, verlässliche Informationen zur humanitären Situation erhältlich zu machen, steht fest, dass die kämpferischen Auseinandersetzungen, kombiniert mit einem Mangel an humanitärer Unterstützung, die Lebensbedingungen für die ansässige Bevölkerung massiv verschlechtert haben. Der Anteil der Landwirtschaftsfläche ist in bestimmten Gebieten South Kordofans auf weniger als 20 % des normalerweise bewirtschafteten Landes gesunken. Ausserdem steigen die Lebensmittelpreise stetig an und die Gewalt geht weiter. Ende 2011 wurden schätzungsweise mehr als 305 000 Personen innerhalb South Kordofans vertrieben. Während desselben Zeitraums flüchteten nahezu 20 000 Personen von Blue Nile nach Äthiopien. Mehr als 60 000 Personen von South Kordofan und Blue Nile flüchteten in den Südsudan.

5.3.3 Noch ist unklar, wie die Aufteilung der Erdöleinnahmen zwischen Norden und Süden künftig ausgestaltet sein wird. Bis vor kurzem teilten sich Norden und Süden die Einnahmen, da das Erdöl über den nordsudanesischen Hafen Port Sudan exportiert wird. Seit der Abspaltung des Südsudans im Juli 2011 eskalieren jedoch die Spannungen zwischen den beiden Staaten, angefacht von Gebietsstreitigkeiten, ethnischen Vorurteilen und dem Streit um die Ölreserven im Grenzgebiet. Im Januar 2012 hatte sich der Südsudan energiepolitisch vom Norden abgekoppelt und leitet seither kein Erdöl mehr in die ausschliesslich nach Norden führenden Pipelines ein. Noch immer ist unklar, zu welchem Staat ölreiche Regionen im Grenzgebiet künftig gehören sollen. So hat der bewaffnete Konflikt um das umstrittene Ölfeld Heglig im April 2012 die Ölindustrie, auf die die beiden armen Länder angewiesen sind, nahezu vollständig zum Erliegen gebracht. Hingegen beschränken sich die Kämpfe bisher auf die Grenzregionen und tangieren den Grossraum Khartoum nicht. Im Folgenden ist auf die Situation im Grossraum Khartoum einzugehen.

5.3.4 Aufgrund historischer Migration innerhalb des Sudans sowie zahlreicher IDPs aus Konfliktregionen ist « Greater Khartoum » (Städtekonglomerat bestehend aus den drei Städten Khartoum, Khartoum-Nord und Omdurman) mit rund fünf Millionen Einwohnern eine multi-ethnische Metropole mit Gemeinschaften von Personen aus Darfur und anderen Regionen des Landes. Besonders viele Personen aus Darfur leben in Omdurman. Die Darfuri-Bevölkerung in der Hauptstadtregion ist heterogen: Manche Personen leben als IDPs; andere Darfuris sind Händler, studieren an Universitäten oder arbeiten in der Verwaltung.

5.3.5 Ein Bericht des UNHCR erwähnt im Jahr 2009, dass Aussichten auf Arbeit in Khartoum besser als in regionalen Städten sind, die Arbeitslosigkeit in Khartoum aber dennoch hoch ist. Ein auf Recherchen in Khartoum basierender Bericht kam im Jahr 2008 zum Schluss, dass die Arbeitslosigkeit unter IDPs hoch ist und 80 % der IDPs ausserhalb des formellen Arbeitsmarktes ein Einkommen erzielen. Eine andere Studie ergab 2008, dass 20 % der IDPs in Khartoum eine Vollzeit-Anstellung hatten. 27 % hatten eine Teilzeitstelle, 25 % waren selbständig erwerbend, 18 % waren Hausfrauen und 7,7 % waren arbeitslos. Zwischen IDPs und Nicht-IDPs bestand kein signifikanter Unterschied in Bezug auf die Arbeitslosigkeit; bei beiden Gruppen betrug sie zwischen 7 und 8 %. Allerdings wurden weder das effektive Einkommen noch die Art der Arbeit (etwa im informellen Sektor) oder die Wahrscheinlichkeit, mit dem erzielten Einkommen eine Familie zu ernähren, erhoben. In vielen IDP-Familien müssen Kinder zum Einkommen der Familie beitragen, was auf Kosten der Schulbildung geht.

Einige Zaghawa, die nach der Migration nach Khartoum Kapital investierten und sich auf ethnische Netzwerke stützten, wurden in Omdurman erfolgreiche lokale Händler. In IDP-Camps dominieren Personen aus Darfur den Handel in den dortigen Märkten.

5.3.6 In Khartoum existieren vier offizielle IDP-Camps: Mayo, Jebel Awlia, Wad el Bashir und Omdurman el Salaam. Die IDP-Camps in den Aussenquartieren unterscheiden sich kaum von anderen Armenvierteln, wo auch arme Araber unter ähnlichen Bedingungen leben. Die genaue Zahl der IDPs in Khartoum ist nicht bekannt. Das UNHCR schätzt sie auf 1,7 Millionen, wovon lediglich rund 400 000 in den vier offiziellen IDP-Camps leben, der Rest in informellen Siedlungen in und um die Stadt. Personen aus Darfur machen mit rund 14 % einen vergleichsweise geringen Anteil an IDPs in Khartoum aus; die meisten IDPs stammen aus dem Südsudan. Im Kontext des Referendums über die Unabhängigkeit des Südsudans (Januar 2011) und der Unabhängigkeit des Südsudans (Juli 2011) kehrten bis Juni 2011 rund 300 000 IDPs in den Südsudan zurück. Manche IDPs leben bereits in zweiter Generation in Khartoum. Die sozio-ökonomische Lage der meisten IDPs sowohl aus Darfur als auch aus anderen Regionen des Sudans entspricht jener anderer armer Einwohner der Stadt.

Bereits während der Dürreperioden in den 1980er-Jahren migrierten IDPs aus Darfur nach Khartoum. Junge Männer aus Darfur zogen zudem saisonal nach Khartoum, um dort als Tagelöhner zu arbeiten oder kleine Läden zu unterhalten und monatlich Geld an ihre Verwandten nach Darfur zu senden. Seit 2003 hat der Konflikt in Darfur eine Zunahme der Migration in den Grossraum Khartoum zur Folge. Die meisten Personen aus Darfur, welche nach Khartoum migrieren, verfügen dort über Kontakte oder Familienmitglieder. Im Gegensatz zu anderen Regionen des Landes existiert für IDPs in Khartoum kaum Unterstützung durch internationale Organisationen.

5.3.7 Als Anfang der 1990er-Jahre die sudanesischen Behörden IDPs in den offiziellen IDP-Camps ansiedelten, lagen diese ausserhalb der Stadt in der Wüste. Als Folge der raschen Ausbreitung der Stadt erhielt das Land einen steigenden kommerziellen Wert. Seit Jahren verkaufen Behörden in Khartoum Land, zerstören unter Einsatz von Sicherheitsdiensten Behausungen und siedeln Personen, welche nicht über Geldmittel verfügen, um die betroffenen Parzellen zu kaufen, zwangsweise um. Umsiedlungen geschehen primär aus ökonomischen Gründen. Die betroffenen Personen werden an die Peripherie in Wüstengegenden gedrängt, die teilweise Dutzende von Kilometern von Khartoum entfernt sind und kaum über Infrastruktur verfügen. Personen in entfernten Siedlungen sehen sich mit Transportkosten zu den Arbeitsplätzen in der Stadt konfrontiert, welche 20 bis 40 % des Tageseinkommens ausmachen.

Gemäss Schätzungen wurden durch Regierungsmassnahmen zwischen den Jahren 2004 und 2008 rund 330 000 Personen in Siedlungen an der Peripherie von Khartoum zwangsweise umgesiedelt und deren ursprüngliche Behausungen zerstört. Umsiedlungen betreffen nicht nur IDPs und Landbesetzer. Auch Bauern, welche an den Ufern des Nils ihre Felder bewirtschaften, sind als Folge von Bauprojekten von Umsiedlungen betroffen.

5.3.8 Nachdem es im Rahmen von zwangsweisen Umsiedlungen vor 2007 bei Ausschreitungen zu Todesfällen gekommen war, setzten internationale Geldgeber und UN-Organisationen die Behörden unter Druck, die Stadtplanung in Khartoum unter Wahrung der Menschenrechte zu praktizieren. Die « Road Map for Relocation » beziehungsweise « Guiding Principles on Relocation », welche zwischen den Stadtbehörden und den Vereinten Nationen (UN) 2007 unterzeichnet wurde, definiert Minimalstandards für Planungs- und Umsiedlungsprozesse. Die Umsetzung der Vereinbarung wird von der « Khartoum Protection Working Group », die aus UN-Organisationen und Nichtregierungsorganisationen besteht und deren Vorsitz das UNHCR innehat, verfolgt. 2009 stellte das UNHCR Verbesserungen bei der Stadtplanung und den weitgehenden Verzicht auf Gewalt bei Umsiedlungen fest.

5.3.9 Zwischen November 2008 und Juli 2009 wurden in der Siedlung Mayo ausserhalb von Khartoum Räumungen durchgeführt sowohl im dortigen offiziellen IDP-Camp als auch ausserhalb. Nach Schätzungen des UNHCR waren rund 10 000 Familien davon betroffen. Manchen Betroffenen wurde in Mayo alternatives Land angeboten; andere Familien wurden in entfernte Gebiete umgesiedelt, wo teilweise grundlegende Infrastruktur fehlte. Nach Aussagen von Behörden wurden die Bewohner über die Räumungen im Voraus informiert; Bewohner bestritten dies. Im März 2010 zerstörten Behörden in der Siedlung Soba al-Shahanat, die vor allem von Personen aus Darfur bewohnt wird, Dutzende von Wohnbauten und Läden.

5.3.10 Die Menschenrechtslage im Sudan ist im Fokus mehrerer internationaler (z.B. Human Rights Watch [< http://www.hrw.org/africa/ sudan >], Amnesty International [< http://www.amnesty.org/fr/region/ sudan >]) und sudanesischer (z.B. African Centre for Justice and Peace Studies [< http://www.acjps.org >]) Organisationen. Gemäss den vorliegenden Quellen geraten Personen dann ins Visier der sudanesischen Behörden und insbesondere des Geheim- und Sicherheitsdienstes NISS (« National Intelligence and Security Services »), wenn sie sich politisch engagieren, sich kritisch gegen die Regierung, die regierende NCP, gegen Behörden oder über die Lage in Darfur äussern oder verdächtigt werden, eine Rebellengruppe zu unterstützen, unabhängig von der regionalen Herkunft oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe. Wie die nachfolgende Übersicht von dokumentierten Übergriffen zeigt, wurden in den vergangenen Jahren immer wieder Menschenrechtsaktivisten, Journalisten und politisch aktive Studenten aus Darfur vom NISS in Khartoum festgenommen (nicht aufgeführt sind hier die dokumentierten Fälle von Verhaftungen von Personen, die nicht aus Darfur stammen oder deren Herkunft nicht dokumentiert ist):

- Im November 2010 wurde ein aus Darfur stammender Journalist verhaftet; ihm werfen die Behörden vor, er habe Berichte über Darfur an eine ungenannte Organisation weitergeleitet. Ende 2010 war er noch immer im Kober Prison in Khartoum inhaftiert.

- Zwischen Ende Oktober und Anfang November 2010 wurde eine Gruppe von einer Radiostation (Radio Dabanga) angegliederten Menschenrechtsaktivisten aus Darfur vom NISS ohne Anklage in Isolationshaft gesetzt. Sie hatten keine Möglichkeit, die Rechtmässigkeit ihrer Haft zu bestreiten. Neun der Aktivisten wurden zwischen dem 13. und 21. Januar 2011 freigelassen, während fünf weitere inhaftiert blieben. Einer der befreiten Aktivisten äusserte gegenüber Menschenrechtsüberwachern, er sei während Befragungen von Agenten des NISS geschlagen worden. Am 13. Februar 2011 wurden vier der freigelassenen Aktivisten erneut verhaftet.

- Im Januar 2011 wurde ein Mitglied der « Darfur Students Association » an der Universität Khartoum von Mitgliedern des NISS verhaftet und während mehreren Stunden festgehalten, nachdem er sich während eines Disputs für eine Studentin aus Darfur eingesetzt hatte.

- Im Januar und Februar 2011 wurden in Khartoum mehrere Studenten aus Darfur beschuldigt, Mitglieder einer Rebellengruppe in Darfur zu sein. Die Studenten wurden verhaftet und gefoltert.

- Im April 2011 wurden 17 angeblich der Universal Peace Federation (UPF) zugehörige Studenten an der Al Nilein University (Khartoum) festgenommen, nachdem sie in einer Demonstration einen Regierungswechsel forderten. Die Studenten wurden zunächst wegen Störung des öffentlichen Friedens angeklagt, danach aber freigelassen, mit Ausnahme eines Studenten, der eine Haftstrafe von drei Monaten erhielt. Im Mai 2011 wurden 17 Studenten aus Darfur, die Mitglieder der UPF waren, in Khartoum festgenommen.

- Der « Sudan Human Rights Monitor February - March 2011 » veröffentlichte eine Liste von 35 Personen aus Darfur, welche zwischen Mai 2008 und Dezember 2010 verhaftet wurden (davon wurden rund 20 Personen im Grossraum Khartoum verhaftet) und im Kober Prison in Khartoum ohne Anklage festgehalten werden. Bei den in Khartoum Verhafteten handelt es sich um Geschäftsleute, Studenten, Bauarbeiter, Lehrer, Fahrer. Die Umstände der Verhaftungen und allfällige politische Mitgliedschaften oder Aktivitäten werden in der Liste nicht erwähnt.

5.4 Nachfolgend gilt es vor diesem Hintergrund und gestützt auf die oben stehenden Erwägungen zu beurteilen, ob die Kriterien einer innerstaatlichen Schutzalternative im konkreten Fall erfüllt sind.

5.4.1 Wie das Bundesverwaltungsgericht in BVGE 2008/12 E. 7.2.6.2 f. festhielt, setzt die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäss Wortlaut von Art. 1 A Ziff. 2 des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (FK, SR 0.142.30) voraus, dass der betroffene Asylsuchende den Schutz seines Heimatlandes nicht beanspruchen kann oder wegen der Furcht vor Verfolgung nicht beanspruchen will. Diese Formulierung beschreibt den Grundsatz der Subsidiarität des asylrechtlichen Schutzes (vgl. EMARK 2000 Nr. 15). Die Schutz gewährende Körperschaft muss hohe Anforderungen an Organisation, Stabilität und Dauerhaftigkeit erfüllen (vgl. EMARK 2006 Nr. 18). Adäquater Schutz kann nur von einer stabilen und organisierten Autorität gewährt werden, die das betreffende Gebiet und dessen Bevölkerung uneingeschränkt kontrolliert (vgl. UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz: «Interne Flucht- oder Neuansiedlungsalternative» im Zusammenhang mit Art. 1 A (2) des Abkommens von 1951 beziehungsweise des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 23. Juli 2003, S. 6ff.).

5.4.2 Die vormals zuständige ARK führte zur Begründung ihrer im Grundsatzurteil EMARK 1996 Nr. 1 präzisierten Rechtsprechung im Wesentlichen aus, bei der Beantwortung der Frage, ob eine in einem Teilgebiet ihres Heimatstaates verfolgte Person landesintern um wirksamen Schutz vor ebendieser Verfolgung nachsuchen könne, sei die Intention der staatlichen Behörden am Zufluchtsort von entscheidender Bedeutung. Von einer Verweigerung effizienten Schutzes könne nicht gesprochen werden, wenn der Heimatstaat die Person weder unmittelbar noch mittelbar asylrechtlich relevanten Behelligungen aussetzen wollte. Es fehle auch nicht an staatlichem Schutzwillen, wenn die in einem Teilgebiet ihres Heimatstaates verfolgte Person am Zufluchtsort ungünstige Lebensbedingungen, wie beispielsweise einen angespannten Arbeitsmarkt oder kulturelle oder religiöse Integrationserschwernisse, vorfinde. Hier werde sie in derselben Weise betroffen wie andere Personen in vergleichbaren Lebensverhältnissen, welche im Gegensatz zu ihr nicht in einem anderen Teil des Landes verfolgt worden seien. Aus Gründen der Systematik der Asylgesetzgebung - wonach allgemein ungünstige Lebensbedingungen flüchtlingsrechtlich irrelevant und
lediglich unter dem Aspekt der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs zu berücksichtigen seien - und der Rechtsgleichheit verbiete sich daher eine ungleiche Behandlung dieser Personengruppen (vgl. EMARK 1996 Nr. 1 E. 5d/cc S. 9f.).

5.4.3 Im Gegensatz zu dieser, noch auf der sogenannten Zurechenbarkeitstheorie beruhenden früheren Praxis, bei der eine Verfolgung nur dann als flüchtlingsrechtlich relevant erachtet wurde, wenn sie unmittelbar oder mittelbar dem Staat zugerechnet werden konnte (vgl. EMARK 2004 Nr. 14 E. 6d S. 92, EMARK 2004 Nr. 3 E. 4d S. 24, EMARK 2002 Nr. 16 E. 5c/cc S. 133, EMARK 1996 Nr. 16 E. 4c/aa S. 146), ist gemäss der heute geltenden, auf der Schutztheorie basierenden Praxis für die Beantwortung der Frage, ob der in einem anderen Landesteil von Verfolgung betroffenen Person eine innerstaatliche Flucht- beziehungsweise Schutzalternative zur Verfügung steht, nicht allein entscheidend, dass sie am Zufluchtsort nicht weiterhin oder erneut staatlicher Verfolgung ausgesetzt ist. Die Annahme einer innerstaatlichen Schutzalternative bedingt im Lichte der Schutztheorie, dass am Zufluchtsort eine funktionierende und effiziente Schutzinfrastruktur besteht und der Staat gewillt ist, der in einem anderen Landesteil von Verfolgung betroffenen Person am Zufluchtsort Schutz zu gewähren. Die betroffene Person muss darüber hinaus den Zufluchtsort ohne unzumutbare Gefahren auf legalem Weg erreichen und sich dort legal
aufhalten können. Schliesslich muss es ihr individuell zuzumuten sein, den am Zufluchtsort erhältlichen Schutz längerfristig in Anspruch nehmen zu können. Dabei sind die allgemeinen Verhältnisse am Zufluchtsort und die persönlichen Umstände der betroffenen Person zu beachten und es ist unter Berücksichtigung des länderspezifischen Kontextes im Rahmen einer individuellen Einzelfallprüfung zu beurteilen, ob ihr angesichts der sich konkret abzeichnenden Lebenssituation am Zufluchtsort realistischerweise zugemutet werden kann, sich dort niederzulassen und sich eine neue Existenz aufzubauen (vgl. BVGE 2011/51 E. 8.5.1 und 8.6).

5.4.4 Gemäss den Erkenntnissen des Gerichts finden die willkürlichen Übergriffe der Janjaweed-Milizen lokal beschränkt in der Region Darfur statt. Nach den Verhaftungen im Mai 2008 nach dem Angriff von Zaghawa-Rebellen auf Omdurman sind ausserhalb Darfurs nur wenige Übergriffe gegen Personen aus Darfur allein aufgrund ihrer Herkunft bekannt. Sicherheitsprobleme mit den Behörden können im Einzelfall bestehen, aber sie betreffen nicht die Minderheit als Kollektiv. Demgegenüber haben Personen von den sudanesischen Behörden und insbesondere vom Geheim- und Sicherheitsdienst unabhängig von ihrer regionalen Herkunft oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe dann asylrechtlich relevante Nachteile zu befürchten, wenn sie sich politisch engagieren, sich kritisch gegen die Regierung, die regierende NCP, gegen Behörden oder über die Lage in Darfur äussern oder verdächtigt werden, eine Rebellengruppe zu unterstützen (vgl. E. 5.3.10). Vorliegend ist hingegen weder aktenkundig noch wird auf Beschwerdeebene nachgewiesen, dass zwischenzeitlich Übergriffe auf sich politisch nicht exponierende Zaghawa begangen worden wären. So sind auch der in E. 5.3.10 vorgenommenen Auflistung keine Vorfälle zu
entnehmen, welche sich gegen Zaghawa ohne politisches Profil gerichtet hätten.

Da der Beschwerdeführer selbst nie politisch engagiert gewesen sein will und geltend machte, er sei bei der Oppositionsbewegung lediglich Sympathisant, ist seine Befürchtung, wegen der aktiven Mitgliedschaft des Bruders bei der Opposition umgebracht zu werden, als unbegründet zu erachten. Auch aus den auf Beschwerdeebene eingereichten Beweismitteln lässt sich keine andere Lageeinschätzung ableiten, zumal darin die allgemeine Sicherheitssituation in Darfur thematisiert wird, ein konkreter Bezug zum Beschwerdeführer dagegen nicht ersichtlich ist.

Angesichts dessen ist - in Abänderung der erwähnten Praxis der vormaligen Asylrekurskommission (EMARK 2006 Nr. 25) - davon auszugehen, dass diese Personengruppe - und damit der Beschwerdeführer - im Grossraum Khartoum genügenden Schutz vor Verfolgung finden kann.

Dies allein bedeutet nun allerdings noch nicht, dass eine valable innerstaatliche Schutzalternative besteht. Eine solche setzt aufgrund der neuen Praxis gemäss dem in vorstehender E. 5.4.3 wiedergegebenen Grundsatzurteil BVGE 2011/51 zusätzlich voraus, dass die Schutzalternative nicht bloss hypothetischen Charakter hat, sondern auch zumutbarerweise am Zufluchtsort in Anspruch genommen werden kann. Dies ist im Einzelfall zu prüfen.

5.4.5 Wie bereits ausgeführt wurde, lebt heute eine Vielzahl von Darfuris aller Ethnien in Khartoum. So gibt es Zaghawa, die sich schon seit Jahrzehnten in Landesteilen ausserhalb Darfurs niedergelassen haben und von den Konflikten in ihrer Heimatregion kaum oder nur indirekt betroffen sind. Der Beschwerdeführer gab in diesem Zusammenhang an, seine Sippe befände sich überall im Sudan und sei nicht an einen Ort gebunden. Ausschlaggebend erscheint hingegen, dass die Vorinstanz in der angefochtenen Verfügung den Vollzug seiner Wegweisung in den Herkunfts- beziehungsweise den Heimatstaat oder in einen Drittstaat in Würdigung sämtlicher Umstände und unter Berücksichtigung der Aktenlage als unzumutbar erachtete. Diesbezüglich stellte das Bundesamt fest, aufgrund dessen, dass der Beschwerdeführer über kein verwandtschaftliches Beziehungsnetz in einer der sicheren Regionen des Sudans verfüge, sei entsprechend der Asyl- und Wegweisungspraxis zum Sudan seine vorläufige Aufnahme wegen Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs anzuordnen. Vor diesem Hintergrund und gestützt auf die in BVGE 2011/51 umschriebenen Kriterien für die Annahme einer valablen innerstaatlichen Schutzalternative ergibt sich, dass dem
Beschwerdeführer nicht zugemutet werden kann, sich im Grossraum Khartoum niederzulassen und sich dort eine neue Existenz aufzubauen.

5.4.6 Unter den gegebenen Umständen kommt das Bundesverwaltungsgericht zusammenfassend zum Schluss, dass in casu die Voraussetzungen für die Feststellung einer valablen innerstaatlichen Schutzalternative gemäss BVGE 2011/51 nicht erfüllt sind.

5.5 Angesichts dessen, dass der Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft erfüllt und keine Asylausschlussgründe im Sinne von Art. 53
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 53 Asylunwürdigkeit - Flüchtlingen wird kein Asyl gewährt, wenn:
a  sie wegen verwerflicher Handlungen des Asyls unwürdig sind;
b  sie die innere oder die äussere Sicherheit der Schweiz verletzt haben oder gefährden; oder
c  gegen sie eine Landesverweisung nach Artikel 66a oder 66abis StGB156 oder Artikel 49a oder 49abis MStG157 ausgesprochen wurde.
AsylG ersichtlich sind, ist ihm in der Schweiz Asyl zu gewähren (vgl. Art. 49
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 49 Grundsatz - Asyl wird Personen gewährt, wenn sie die Flüchtlingseigenschaft besitzen und kein Asylausschlussgrund vorliegt.
AsylG). Die Beschwerde ist somit gutzuheissen, die angefochtene Verfügung vom 1. Juni 2010 aufzuheben und das BFM anzuweisen, dem Beschwerdeführer Asyl zu gewähren.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 2013/5
Datum : 04. Februar 2013
Publiziert : 10. Juli 2013
Quelle : Bundesverwaltungsgericht
Status : 2013/5
Sachgebiet : Abteilung IV (Asylrecht)
Gegenstand : Asyl und Wegweisung


Gesetzesregister
AsylG: 3 
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 3 Flüchtlingsbegriff - 1 Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
1    Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
2    Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken. Den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen.
4    Keine Flüchtlinge sind Personen, die Gründe geltend machen, die wegen ihres Verhaltens nach der Ausreise entstanden sind und die weder Ausdruck noch Fortsetzung einer bereits im Heimat- oder Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Vorbehalten bleibt die Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951.6
49 
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 49 Grundsatz - Asyl wird Personen gewährt, wenn sie die Flüchtlingseigenschaft besitzen und kein Asylausschlussgrund vorliegt.
53
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 53 Asylunwürdigkeit - Flüchtlingen wird kein Asyl gewährt, wenn:
a  sie wegen verwerflicher Handlungen des Asyls unwürdig sind;
b  sie die innere oder die äussere Sicherheit der Schweiz verletzt haben oder gefährden; oder
c  gegen sie eine Landesverweisung nach Artikel 66a oder 66abis StGB156 oder Artikel 49a oder 49abis MStG157 ausgesprochen wurde.
Stichwortregister
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EMARK
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