Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
U 362/05
Urteil vom 6. März 2006
III. Kammer
Besetzung
Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Seiler; Gerichtsschreiberin Polla
Parteien
P.________, 1961, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Hans Ulrich Würgler, Merkurstrasse 25, 8400 Winterthur,
gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdegegnerin
Vorinstanz
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
(Entscheid vom 10. August 2005)
Sachverhalt:
A.
Die 1961 geborene P.________ war mit einem rund zweijährigen Unterbruch von 1993 bis 30. November 2003 (letzter Arbeitstag: 5. Mai 2002) in der Firma A.________ als Hilfsarbeiterin tätig und damit bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die Folgen von Unfall und Berufskrankheit versichert. Mit Blick auf den am 16. Juli 2002 als Unfall gemeldeten Gehörschaden prüfte die SUVA das Vorliegen einer berufsbedingten Erkrankung. Sie holte hiezu ein Arztzeugnis des Dr. med. W.________, Spezialarzt FMH für Otorhinolaryngologie, vom 27. August 2002, sowie eine Stellungnahme des Dr. med. G.________, Facharzt FMH für Ohren, Nasen- und Halskrankheiten, Hals- und Gesichtschirurgie, Allergologie, klinische Immunologie und Arbeitsmedizin, Abteilung Arbeitsmedizin der SUVA, vom 4. November 2002 ein, welchem die technische Beurteilung der beruflichen Lärmbelastung am ehemaligen Arbeitsplatz der Versicherten vom 29. Oktober 2002 vorlag. Zudem befragte der Unfallversicherer P.________ am 20. August 2002 bezüglich ihres Leidens und besichtigte den Arbeitsplatz. Mit Verfügung vom 27. November 2002 verneinte die SUVA den Anspruch auf Versicherungsleistungen, da keine Berufskrankheit vorliege. Daran hielt sie mit
Einspracheentscheid vom 15. Dezember 2003 fest.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 10. August 2005 ab.
C.
P.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit den Anträgen, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei die SUVA zu verpflichten, ihr die gesetzlichen Versicherungsleistungen in Form von Taggeld und Heilbehandlung zu erbringen sowie die Frage der Invalidenrente zu prüfen. Zudem sei ein umfassendes, unabhängiges Gutachten durch eine Fachperson italienischer Muttersprache über die Ursachen und das Ausmass der Gehörschädigung zu erstellen. Weiter seien die Akten der Invalidenversicherung beizuziehen; eventuell sei der Versicherten Gelegenheit zu geben, selber ein Gutachten über die Kausalität der Gehörschädigung einzureichen.
D.
Nach Abschluss des Schriftenwechsels lässt P.________ mit Schreiben vom 25. November 2005 an die in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gestellten Verfahrensanträge erinnern. In einer weiteren Eingabe vom 16. Januar 2006 wird ein zweiter Schriftenwechsel anbegehrt, da sich aus den beiliegenden Akten der Invalidenversicherung neue erhebliche Tatsachen und Beweismittel ergäben.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Nach Art. 110 Abs. 4 OG (anwendbar auf das Verfahren des Eidgenössischen Versicherungsgerichts gemäss Art. 132 OG) findet ein zweiter Schriftenwechsel nur ausnahmsweise statt. Der Anspruch auf das rechtliche Gehör gebietet einen weiteren Schriftenwechsel, wenn in der Vernehmlassung der Gegenpartei oder der Mitbeteiligten neue tatsächliche Behauptungen aufgestellt werden, deren Richtigkeit nicht ohne weiteres aktenkundig ist und die für die Entscheidung von wesentlicher Bedeutung sind. Was allfällige neue rechtliche Argumente betrifft, ist zu berücksichtigen, dass das Eidgenössische Versicherungsgericht das Recht von Amtes wegen anzuwenden hat. Der blosse Umstand, dass in einer Vernehmlassung zusätzlich zu den im angefochtenen Entscheid angeführten Gründen weitere diesen stützende Argumente vorgebracht werden, rechtfertigt daher noch keine Gewährung des Replikrechts. Anders verhält es sich, wenn das Gericht der Auffassung ist, der angefochtene Entscheid lasse sich mit der ursprünglichen Begründung zwar nicht halten, wohl aber mit einer andern, erstmals in einer Vernehmlassung dargelegten (BGE 119 V 323 Erw. 1 mit Hinweisen).
Aufgrund der neu ins Recht gelegten Unterlagen aus dem IV-Verfahren, worunter sich auch ein Gutachten des Dr. med. S.________, Spezialarzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 7. Oktober 2005 befindet, bestehen weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht Gründe für die ausnahmsweise Anordnung eines zweiten Schriftenwechsels, weshalb dem Begehren nicht entsprochen werden kann. Da die Kausalität zwischen der erlittenen Gehörschädigung und der ausgeübten Berufstätigkeit zu verneinen ist, wie sich aus nachstehenden Erwägungen ergibt, stellt sich auch die Frage der (adäquaten) Kausalität hinsichtlich der - laut Angaben der Versicherten - gleichzeitig mit oder kurz nach der geltend gemachten Beeinträchtigung aufgetretenen Depression nicht (zur Adäquanz des Kausalzusammenhangs zwischen Berufskrankheit und damit einhergehenden psychischen Störungen: BGE 125 V 456 ff.).
2.
2.1 In materiell- und beweisrechtlicher Hinsicht hat das kantonale Gericht die Haftungsgrundsätze im Zusammenhang mit Berufskrankheiten zutreffend dargelegt. Danach ist der Unfallversicherer leistungspflichtig, wenn die (behandlungsbedürftige oder zu Arbeitsunfähigkeit führende) Krankheit entweder eine arbeitsbedingte Erkrankung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 UVG (in der bis 31. Dezember 2002 in Kraft gestandenen Fassung [zur Frage des Übergangsrechts vgl. Erw. 2.2 hiernach]) in Verbindung mit Art. 14 UVV und Ziff. 2 des Anhangs 1 zur UVV darstellt (vgl. auch BGE 119 V 200 f. Erw. 2a mit Hinweis) oder ausschliesslich oder stark überwiegend durch die berufliche Tätigkeit (Art. 9 Abs. 2 UVG; BGE 126 V 186 Erw. 2b, 119 V 201 Erw. 2b, je mit Hinweisen; RKUV 2000 Nr. U 408 S. 407) verursacht worden ist. Erhebliche Schädigungen des Gehörs durch Arbeiten im Lärm stellen arbeitsbedingte Erkrankungen dar (Art. 9 Abs. 1 UVG in Verbindung mit Art. 14 UVV und Ziff. 2 lit. a [Erkrankungen durch physikalische Einwirkungen] des Anhangs 1 zur UVV). Die Schwere der Beeinträchtigung ist aus praktischen Gründen in Prozenten des Hörverlusts zu umschreiben, wobei die Frage, ab welcher prozentualen Grenze ein Hörverlust als erheblich im Sinne der genannten
Bestimmung zu qualifizieren ist, sich nicht nach abstrakten medizinischen Kriterien beantworten lässt; vielmehr kommt es darauf an, ob sich der Gehörschaden praktisch in erheblicher Weise auswirkt, indem er zu einer anspruchsbegründenden Erwerbs- oder Integritätseinbusse führt (Urteil M. vom 1. Dezember 2005, U 245/05, Erw. 3.2; Rumo-Jungo, Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum UVG, Zürich 2003, S. 85).
2.2 Zu ergänzen ist weiter, dass in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 130 V 446 f. Erw. 1.2.1, 129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1 und 356 Erw. 1, je mit Hinweisen). Weil sich der als Anspruchsgrundlage angerufene Sachverhalt vor dem 1. Januar 2003 verwirklicht hat, finden die auf diesen Zeitpunkt in Kraft getretenen Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) und der dazugehörigen Verordnung vom 11. September 2002 (ATSV), einschliesslich der damit verbundenen Änderungen des UVG, keine Anwendung. Daran vermag der Umstand, dass der Einspracheentscheid nach dem 31. Dezember 2002 erlassen worden ist, nichts zu ändern. Materiellrechtliche Auswirkungen ergeben sich daraus nicht.
3.
3.1 Aufgrund der medizinischen Akten steht fest, dass die Beschwerdeführerin an einer hochgradigen, links an Taubheit grenzenden, überwiegenden Perzeptionsschwerhörigkeit mit wahrscheinlich leichtem Schallleitungsanteil und Innenohr-Otosklerose leidet. Aus ärztlicher Sicht des Dr. med. W.________ besteht eine Arbeitsunfähigkeit im Umfang von 100 % hinsichtlich einer Tätigkeit in gehörschädigendem Lärm; ansonsten erachtet er die Versicherte als voll arbeitsfähig (Arztzeugnis vom 27. August 2002).
3.2 Mit dem kantonalen Gericht ist gestützt auf die übereinstimmenden Angaben der Dres. med. W.________ und G.________ (Bericht vom 20. Juni und Arztzeugnis vom 27. August 2002 sowie Stellungnahme vom 4. November 2002) davon auszugehen, dass der Gehörschaden beider Ohren nicht mit dem nach der Rechtsprechung (BGE 119 V 200 f. Erw. 2a mit Hinweis) zur Bejahung von Art. 9 Abs. 1 UVG erforderlichen Ursachenanteil von mehr als 50 % auf die Hilfsarbeit bei der Firma A.________ zurückzuführen ist. Dr. med. W.________ hat - wenn auch in knapper, so doch schlüssiger Weise - dargelegt, dass mit grosser Wahrscheinlichkeit keine berufsbedingte Schwerhörigkeit vorliegt, da das audiometrische Bild (Audiogramm vom 12. April 2002) bei positiver beruflicher Lärmanamnese atypisch für ein chronisches Lärmtrauma ist. Auch wenn Dr. med. W.________ in seinem Bericht vom 20. Juni 2002 festhielt, die Ursache der Schwerhörigkeit bleibe unklar und sie "eher" auf heredo-degenerative Prozesse zurückführte, konnte er dennoch eine lärmbedingte Schwerhörigkeit mit praktischer Sicherheit ausschliessen. Dr. med. G.________ wies in seiner Stellungnahme vom 4. November 2002 zudem auf die Untersuchungen am Arbeitsplatz des Bereichs Akustik der SUVA hin. Die SUVA
ermittelte einen äquivalenten Dauerschalldruckpegel pro Jahr von Leq 84 ± 1 dB (A), wobei eine Schallbelastung von Leq 88 dB (A) und mehr als gehörgefährdend gelten, während 85 - 87 dB im Grenzbereich der Gehörgefährdung liegen (Schallmessungsprotokoll vom 30. September 2002). Dr. med. G.________ führte aus, dass - unter Berücksichtigung der Expositionszeit von sieben Jahren - diese Lärmbelastung mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht geeignet gewesen sei, die vorliegende Schädigung des Gehörs zu verursachen; denn auch unter Berücksichtigung der Ungenauigkeit der Messgeräte sei die Versicherte höchstens gegenüber grenzwertig gehörgefährdetem Lärm am Arbeitsplatz exponiert gewesen. Auch die an Taubheit grenzende linksseitige Innenohrschwerhörigkeit sowie die ausgeprägte Gehörsasymmetrie würden nicht zu einer Berufslärmschwerhörigkeit passen, wobei er die Feststellungen des Dr. med. W.________ bestätigte. Die vorliegende Schädigung des Gehörs wurde demnach zumindest nicht vorwiegend durch Arbeiten im Lärm verursacht, weshalb der vorinstanzliche Entscheid rechtens ist.
3.3 Die Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vermögen daran nichts zu ändern. Da die Vorinstanz sämtliche entscheidwesentlichen Tatbestandselemente berücksichtigt (BGE 99 V 188; vgl. auch BGE 124 V 181 Erw. 1a, 118 V 58 Erw. 5b, 117 Ib 492 Erw. 6b/bb, je mit Hinweisen) und ihren Entscheid umfassend und nachvollziehbar begründet hat (BGE 124 V 181 Erw. 1a mit Hinweisen), geht die diesbezügliche Rüge der Gehörsverletzung fehl. Das Gleiche gilt hinsichtlich des bereits vor kantonalem Gericht gestellten Antrags auf zusätzliche Sachverhaltsabklärungen. Weitere Beweismassnahmen, insbesondere die beantragte Einholung eines (Privat-)Gutachtens über Ursachen und Ausmass der Gehörschädigung erübrigen sich, da der Sachverhalt hinreichend geklärt ist und ergänzende Untersuchungen nichts am fehlenden Nachweis einer mehr als 50%igen beruflichen Einwirkung zu ändern vermögen (antizipierte Beweiswürdigung; vgl. BGE 124 V 94 Erw. 4b), womit auch das kantonale Gericht darauf verzichten durfte. Sodann vermag der Einwand, Dr. med. G.________ habe sie nie untersucht, seine Stellungnahme (vom 4. November 2002) nicht in Zweifel zu ziehen, da es nur um die Beurteilung eines an sich feststehenden Sachverhalts ging und, worauf das kantonale
Gericht bereits hinwies, kein Anlass bestand, die Schallmessungen der Abteilung Akustik oder die audiometrische Befunderhebung des Dr. med. W.________ in Frage zu stellen. Entgegen der Beschwerdeführerin ist schliesslich nicht relevant, ob sie an ihrem damaligen Arbeitsplatz tatsächlich einen Gehörschutz getragen hat oder nicht; denn aus einhelliger fachärztlicher Sicht war der erhobene Befund mit den gemessenen, grenzwertig gehörgefährdenden Lärmbelastungen nicht in Einklang zu bringen. Entgegen dem Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, von der gesamten Lärmexpositionszeit (acht Jahre) entfalle der überwiegende Teil auf den früheren Arbeitsort in X.________, wo die Versicherte "in einem weit lärmigeren Umfeld" tätig gewesen sei, ist eine höhere Lärmbelastung als die am letzten Arbeitsplatz gemessene eher unwahrscheinlich, jedenfalls aber nicht konkret zu beweisen. Es besteht daher letztlich kein Anlass zu einer von SUVA und Vorinstanz abweichenden Betrachtungsweise.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
Luzern, 6. März 2006
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der III. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: