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Auszug aus dem Urteil der Abteilung IV
i.S. A. gegen Bundesamt für Migration
D 6806/2013 vom 18. Juli 2016

Völkerrechtliche Verpflichtungen bei Menschenhandel. Handel von nigerianischen Frauen in die Zwangsprostitution.

Art. 12
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 12 - Die Behörde stellt den Sachverhalt von Amtes wegen fest und bedient sich nötigenfalls folgender Beweismittel:
a  Urkunden;
b  Auskünfte der Parteien;
c  Auskünfte oder Zeugnis von Drittpersonen;
d  Augenschein;
e  Gutachten von Sachverständigen.
VwVG. Art. 4
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK. Art. 3 Bst. a und Art. 6 10 Palermo-Protokoll. Art. 4 Bst. a, Art. 10 und Art. 12 14 EKM.

1. Menschenhandel im Sinne der Begriffsbestimmung gemäss Palermo-Protokoll und EKM (E. 5.1) fällt in den Anwendungsbereich von Art. 4
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK (Verbot der Sklaverei, Leibeigenschaft und Zwangsarbeit; E. 5.2.1 und 5.2.2). Die Rechtssysteme der Staaten müssen so ausgestaltet sein, dass sie Menschenhandel nicht fördern, sondern wirksam davor schützen (E. 5.2.3).

2. Besteht Verdacht auf Menschenhandel, sind von Amts wegen Ermittlungen einzuleiten (E. 5.2.4). Die Herkunfts-, Transit- und Zielstaaten sind bei der Aufklärung von Menschenhandelsfällen zur Zusammenarbeit verpflichtet (E. 5.2.5).

3. Ist eine Person Opfer von Menschenhandel oder befindet sie sich in einer realen und unmittelbaren Gefahr, Opfer von Menschenhandel zu werden, sind individuelle Schutzmassnahmen zugunsten der betroffenen Person zu ergreifen (E. 5.2.6).

4. Von einer Ausweisung ist abzusehen, wenn ein unmittelbares Risiko einer erneuten Rekrutierung in die Prostitution oder von Vergeltungsmassnahmen glaubhaft gemacht wird (E. 5.3.1).

5. Verpflichtung der Staaten zur Identifizierung von Opfern von Menschenhandel sowie Anspruch der Opfer auf Schutz und Unterstützung gemäss EKM (E. 6). Stand der Umsetzung der EKM in der Schweiz (E. 7).

6. Handel von nigerianischen Frauen in die Zwangsprostitution insbesondere mittels des « Juju»-Rituals (E. 8).

7. Konkrete Anhaltspunkte für Menschenhandel bei der Beschwerdeführerin (E. 9).

Obligations de droit international en cas de traite d'êtres humains. Traite de femmes nigérianes à des fins de prostitution forcée.

Art. 12 PA. Art. 4 CEDH. Art. 3 let. a et art. 6-10 Protocole de Palerme. Art. 4 let. a, art. 10 et art. 12-14 Convention contre la traite d'êtres humains.

1. La traite d'êtres humains, selon la définition du Protocole de Palerme et de la Convention contre la traite des êtres humains (consid. 5.1), entre dans le champ d'application de l'art. 4 CEDH (interdiction de l'esclavage, de la servitude et du travail forcé; consid 5.2.1 et 5.2.2). Les Etats doivent mettre en place un système légal qui ne favorise pas la traite d'êtres humains, mais au contraire la combat de manière efficace (consid. 5.2.3).

2. En cas de soupçon de traite d'êtres humains, les enquêtes nécessaires doivent être menées d'office (consid. 5.2.4). Les Etats de provenance, de transit et de destination sont tenus de coopérer dans le traitement des affaires de traite d'êtres humains (consid. 5.2.5).

3. Si une personne est victime de traite d'êtres humains ou se trouve réellement et directement menacée de le devenir, des mesures de protection doivent être prises en sa faveur (consid. 5.2.6).

4. Il doit être renoncé à l'expulsion si le risque imminent d'un nouveau recrutement dans la prostitution ou de représailles est rendu vraisemblable (consid. 5.3.1).

5. Devoir des Etats d'identifier les victimes de traite d'êtres humains et droit de celles-ci d'obtenir protection et assistance selon la Convention contre la traite des êtres humains (consid. 6). Etat de la mise en oeuvre de ladite convention en Suisse (consid. 7).

6. Traite de femmes nigérianes en particulier au moyen de rituels « juju», aux fins de les contraindre à la prostitution (consid. 8).

7. Indices concrets de traite d'êtres humains dans le cas de la recourante (consid. 9).

Obblighi di diritto internazionale in caso di tratta di esseri umani. Tratta di donne nigeriane a scopo di costringerle alla prostituzione.

Art. 12 PA. Art. 4 CEDU. Art. 3 lett. a e art. 6-10 del Protocollo di Palermo. Art. 4 lett. a, art. 10 e art. 12-14 della Convenzione contro la tratta di esseri umani.

1. La tratta di esseri umani secondo la definizione del Protocollo di Palermo e della Convenzione contro la tratta di esseri umani (consid. 5.1) rientra nel campo d'applicazione dell'art. 4 CEDU (divieto della schiavitù, della servitù e del lavoro forzato; consid. 5.2.1 e 5.2.2). Gli Stati devono mettere in pratica un sistema giuridico che non promuova la tratta di esseri umani, bensì la combatta efficacemente (consid. 5.2.3).

2. Se sussiste un sospetto di tratta di esseri umani, le indagini necessarie devono essere promosse d'ufficio (consid. 5.2.4). Gli Stati di provenienza, di transito e di destinazione sono tenuti a cooperare al chiarimento dei casi di tratta di esseri umani (consid. 5.2.5).

3. Se una persona è vittima di tratta di esseri umani o corre un rischio concreto e imminente di esserne vittima, devono essere adottate misure individuali di protezione in suo favore (consid. 5.2.6).

4. L'espulsione non deve essere disposta se è reso verosimile il rischio immediato di un nuovo reclutamento nel giro della prostituzione o di rappresaglie (consid. 5.3.1).

5. Obbligo per gli Stati di identificare le vittime di tratta di esseri umani e diritto delle vittime di ottenere protezione e sostegno secondo la Convenzione contro la tratta di esseri umani (consid. 6). Stato dell'attuazione della Convenzione in Svizzera (consid. 7).

6. Tratta di donne nigeriane a scopo di costringerle alla prostituzione, in particolare per mezzo del rito « Juju» (consid. 8).

7. Indizi concreti di tratta di esseri umani nel caso della ricorrente (consid. 9).

A. (nachfolgend: Beschwerdeführerin), Angehörige der Ethnie der B. aus Benin City (Hauptstadt des Bundesstaates Edo im Süden Nigerias) mit letztem Wohnsitz in C. (Edo State), suchte am 20. Oktober 2003 in der Schweiz um Asyl nach. Zur Begründung ihres Asylgesuchs brachte sie im Wesentlichen vor, nach dem Tod ihrer Eltern und der älteren Schwester sei sie ab dem Alter von neun Jahren bei einem Onkel aufgewachsen, der sie schwer misshandelt und schliesslich gezwungen habe, einen viel älteren Mann zu heiraten. Dieser habe ebenso wie ihr Onkel der Geheimgesellschaft « Asigidi » angehört und bereits zwei seiner Ehefrauen geopfert, um sein eigenes Leben zu verlängern. Als sie sich dem Pfarrer der Region anvertraut und bei ihm Zuflucht gesucht habe, habe dieser sie nach Lagos gefahren und sie dort beim « Roten Kreuz » untergebracht. Sie habe sich einige Zeit in einem grossen Gebäude mit vielen anderen Personen aufgehalten, bis ein Mann vom « Roten Kreuz » mit ihr vom Flughafen in Lagos aus in die Schweiz geflogen sei. Der Mann habe sie nach der Landung an einen Ort gebracht und sie dort zurückgelassen. Wie viel die Reise gekostet habe, wisse sie nicht, da der Pfarrer in Nigeria sich um alles gekümmert habe.

Mit Verfügung vom 1. Oktober 2004 lehnte das damalige Bundesamt für Flüchtlinge das Asylgesuch der Beschwerdeführerin vom 20. Oktober 2003 gestützt auf Art. 7
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 7 Nachweis der Flüchtlingseigenschaft - 1 Wer um Asyl nachsucht, muss die Flüchtlingseigenschaft nachweisen oder zumindest glaubhaft machen.
1    Wer um Asyl nachsucht, muss die Flüchtlingseigenschaft nachweisen oder zumindest glaubhaft machen.
2    Glaubhaft gemacht ist die Flüchtlingseigenschaft, wenn die Behörde ihr Vorhandensein mit überwiegender Wahrscheinlichkeit für gegeben hält.
3    Unglaubhaft sind insbesondere Vorbringen, die in wesentlichen Punkten zu wenig begründet oder in sich widersprüchlich sind, den Tatsachen nicht entsprechen oder massgeblich auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel abgestützt werden.
AsylG (SR 142.31) ab, verfügte die Wegweisung aus der Schweiz und ordnete den Vollzug der Wegweisung an. Die gegen den Wegweisungsvollzug erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht ab.

Im Jahr 2008 wurde die Beschwerdeführerin wegen Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer bedingten 14-monatigen Gefängnisstrafe verurteilt. 2009 heiratete sie einen im Ausland wohnhaften nigerianisch-(...) Doppelbürger aus Edo State.

Am 9. Oktober 2013 liess die Beschwerdeführerin durch ihre aktuelle Rechtsvertreterin beim Bundesamt für Migration (BFM, heute Staatssekretariat für Migration [SEM]) ein Wiedererwägungsgesuch einreichen. Zur Begründung wurde einerseits geltend gemacht, die notwendigen Behandlungen der psychischen Krankheit der Beschwerdeführerin sowie einer somatischen Krankheit seien in Nigeria nicht gesichert. Sie habe überdies in Nigeria keine Familie und zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens über ein soziales Netz verfügt, weshalb sich der Wegweisungsvollzug als unzumutbar erweise. Andererseits wurde vorgebracht, in Gesprächen mit der Beschwerdeführerin habe sich ein Wegweisungshindernis herauskristallisiert, welches bis anhin unberücksichtigt geblieben sei. Sie sei im angeblichen Haus des « Roten Kreuzes » in Lagos, in dem sie vor der Ausreise aus Nigeria untergebracht worden sei, sexuell ausgebeutet und anschliessend von einem Menschenhändlerring nach Europa geschafft worden. Sie sei an einen « Juju»-Schrein gebracht und dort initiiert worden. Man habe ihren Körper geritzt, gebrannt und mit Essenzen behandelt. Das Anbringen solcher Essenzen störe die natürliche Heilung, was zu auffälligen Narben typischen « Juju»-Zeichen führe. Die «
Juju»-Priester überzeugten ihre Opfer, dass die Essenzen im Körper als Verbindung zu den « Juju»-Göttern wirkten. Die Betroffenen seien für alle, die diesen Glauben auszunutzen verstünden, als abhängige Werkzeuge leicht auszubeuten. Dieses Vorgehen sei vor allem im Zusammenhang mit Menschenhandel und Zwangsprostitution, aber auch mit Drogenhandel erst in den letzten Jahren bekannt geworden. Traditionelle religiöse Praktiken hätten in Edo State, aus dem die Beschwerdeführerin stamme, einen grossen Einfluss auf Opfer von Zwangsprostitution, würden diese an die Menschenhändler binden und von einer Kooperation mit der Polizei abhalten. Die Angst der Betroffenen möge aus westlich-europäischer Sicht als purer Aberglaube wirken; für die Betroffenen sei die Bedrohung jedoch sehr real. Die Wirkung dieser Furcht sei hinreichend dokumentiert und mache eine Rückkehr ins Heimatland undenkbar. Die neuen Erkenntnisse fänden erst nach und nach Eingang in die Strafverfolgung. Auch die Migrationsbehörden könnten sich den neuen Kenntnissen über Fluchtgründe und Rückkehrhindernisse nicht verschliessen. Die Beschwerdeführerin habe panische Angst vor einer Rückkehr nach Nigeria, weil sie sich ihrem ersten Ehemann, einem Mitglied einer
Geheimgesellschaft, mit dem sie zwangsverheiratet worden sei, entzogen und bei Drogengeschäften nur sehr begrenzt kooperiert habe. Sie sei trotz ihrer Furcht nun bereit, über das Erlebte bei einer erneuten Befragung zu berichten.

Im Hinblick auf die Ausschlussklausel von Art. 83 Abs. 7
SR 142.20 Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG) - Ausländer- und Integrationsgesetz
AIG Art. 83 Anordnung der vorläufigen Aufnahme - 1 Ist der Vollzug der Wegweisung nicht möglich, nicht zulässig oder nicht zumutbar, so verfügt das SEM die vorläufige Aufnahme.244
1    Ist der Vollzug der Wegweisung nicht möglich, nicht zulässig oder nicht zumutbar, so verfügt das SEM die vorläufige Aufnahme.244
2    Der Vollzug ist nicht möglich, wenn die Ausländerin oder der Ausländer weder in den Heimat- oder in den Herkunftsstaat noch in einen Drittstaat ausreisen oder dorthin gebracht werden kann.
3    Der Vollzug ist nicht zulässig, wenn völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz einer Weiterreise der Ausländerin oder des Ausländers in den Heimat-, Herkunfts- oder in einen Drittstaat entgegenstehen.
4    Der Vollzug kann für Ausländerinnen oder Ausländer unzumutbar sein, wenn sie in Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg, allgemeiner Gewalt und medizinischer Notlage im Heimat- oder Herkunftsstaat konkret gefährdet sind.
5    Der Bundesrat bezeichnet Heimat- oder Herkunftsstaaten oder Gebiete dieser Staaten, in welche eine Rückkehr zumutbar ist.245 Kommen weggewiesene Ausländerinnen und Ausländer aus einem dieser Staaten oder aus einem Mitgliedstaat der EU oder der EFTA, so ist ein Vollzug der Wegweisung in der Regel zumutbar.246
5bis    Der Bundesrat überprüft den Beschluss nach Absatz 5 periodisch.247
6    Die vorläufige Aufnahme kann von kantonalen Behörden beantragt werden.
7    Die vorläufige Aufnahme nach den Absätzen 2 und 4 wird nicht verfügt, wenn die weggewiesene Person:248
a  zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe im In- oder Ausland verurteilt wurde oder wenn gegen sie eine strafrechtliche Massnahme im Sinne der Artikel 59-61 oder 64 StGB250 angeordnet wurde;
b  erheblich oder wiederholt gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Schweiz oder im Ausland verstossen hat oder diese gefährdet oder die innere oder die äussere Sicherheit gefährdet; oder
c  die Unmöglichkeit des Vollzugs der Wegweisung durch ihr eigenes Verhalten verursacht hat.
8    Flüchtlinge, bei denen Asylausschlussgründe nach Artikel 53 und 54 AsylG252 vorliegen, werden vorläufig aufgenommen.
9    Die vorläufige Aufnahme wird nicht verfügt oder erlischt, wenn eine Landesverweisung nach Artikel 66a oder 66abis StGB oder Artikel 49a oder 49abis MStG253 oder eine Ausweisung nach Artikel 68 des vorliegenden Gesetzes rechtskräftig geworden ist.254
10    Die kantonalen Behörden können mit vorläufig aufgenommenen Personen Integrationsvereinbarungen abschliessen, wenn ein besonderer Integrationsbedarf nach den Kriterien gemäss Artikel 58a besteht.255
AuG (SR 142.20) wurde im Wiedererwägungsgesuch ausgeführt, man habe die Beschwerdeführerin als leicht beeinflussbare, ungebildete und verletzliche Frau zum Kokaintransport missbraucht. Bei der Durchsicht der Strafakten erkenne man Hinweise darauf, dass der Einfluss der « Juju»- oder « Voodoo »-Zauberei auf die Beschwerdeführerin telefonisch reaktiviert worden sei, um sie für den Drogentransport gefügig zu machen. Zur Untermauerung dieses Vorbringens wurde die Edition der Strafakten (polizeiliche Befragungsprotokolle, Einvernahmen und Audioüberwachung) von Amts wegen beantragt.

Mit Verfügung vom 5. November 2013 wies das BFM das Wiedererwägungsgesuch ab. Es hielt im Wesentlichen fest, die geltend gemachten psychischen und somatischen Krankheiten seien auch in Nigeria auf vergleichbarem Niveau behandelbar, und die indizierte psychotherapeutische und medikamentöse Behandlung im Herkunftsland sei gewährleistet. In Nigeria seien Gesetze in Kraft, welche die Bildung von Geheimkulten sowie deren Praktiken verbieten würden. Die nigerianischen Behörden würden auf Anzeige hin von Geheimkulten ausgehende Aktivitäten als Handlungen Dritter strafrechtlich verfolgen, sodass der nigerianische Staat grundsätzlich schutzwillig sei und die Beschwerdeführerin nicht auf den Schutz der Schweiz angewiesen sei.

Gegen diesen Entscheid erhob die Beschwerdeführerin mit Eingabe ihrer Rechtsvertreterin vom 3. Dezember 2013 Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht.

Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest, dass das BFM unter Verletzung des verwaltungsrechtlichen Untersuchungsgrundsatzes (Art. 12
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 12 - Die Behörde stellt den Sachverhalt von Amtes wegen fest und bedient sich nötigenfalls folgender Beweismittel:
a  Urkunden;
b  Auskünfte der Parteien;
c  Auskünfte oder Zeugnis von Drittpersonen;
d  Augenschein;
e  Gutachten von Sachverständigen.
VwVG) und der beim Vorliegen von konkreten Anhaltspunkten für Menschenhandel greifenden völkerrechtlichen Verpflichtungen gemäss der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 4
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK den rechtserheblichen Sachverhalt mangelhaft festgestellt und die ihm obliegenden Abklärungs-, Prüfungs- und Begründungspflichten und damit den Anspruch der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör verletzt hat. Es heisst die Beschwerde gut, hebt die angefochtene Verfügung auf und weist die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurück.

Aus den Erwägungen:

5.

5.1 Das Zusatzprotokoll vom 15. November 2000 zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität (SR 0.311.542, nachfolgend: Palermo-Protokoll), definiert in Art. 3 Bst. a Menschenhandel als:

« [...] die Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme von Personen durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderen Formen der Nötigung, durch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Hilflosigkeit oder durch Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zur Erlangung des Einverständnisses einer Person, die Gewalt über eine andere Person hat, zum Zweck der Ausbeutung. Ausbeutung umfasst mindestens die Ausnutzung der Prostitution anderer oder andere Formen sexueller Ausbeutung, Zwangsarbeit oder Zwangsdienstbarkeit, Sklaverei oder sklavereiähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder die Entnahme von Organen. »

Diese Definition übernahm der Europarat wörtlich in Art. 4 Bst. a des Übereinkommens vom 16. Mai 2005 zur Bekämpfung des Menschenhandels (SR 0.311.543, nachfolgend: EKM; vgl. Council of Europe, Explanatory Report to the Council of Europe Convention on Action against Trafficking in Human Beings, 16. Mai 2005, CETS Nr. 197, Ziff. 72, nachfolgend: Report 2005).

5.2

5.2.1 Der EGMR hat im Urteil Rantsev gegen Zypern und Russland vom 7. Januar 2010, 25965/04, die sich aus der EMRK bei Menschenhandel ergebenden staatlichen Schutzpflichten herausgearbeitet und seitdem in einer Reihe von weiteren Verfahren bestätigt und präzisiert (vgl. Entscheid V.F. gegen Frankreich vom 29. November 2011, 7196/10; Urteile M. u.a. gegen Italien und Bulgarien vom 31. Juli 2012, 40020/03; C.N. gegen Vereinigtes Königreich vom 13. November 2012, 4239/08). Mit dieser Rechtsprechung hat der Gerichtshof ein hohes Schutzniveau vor Menschenhandel geschaffen, das mit seiner Praxis zum Schutz des Rechts auf Leben (Art. 2
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 2 Recht auf Leben - (1) Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt. Niemand darf absichtlich getötet werden, ausser durch Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Gericht wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist.
a  jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen;
b  jemanden rechtmässig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmässig entzogen ist, an der Flucht zu hindern;
c  einen Aufruhr oder Aufstand rechtmässig niederzuschlagen.
EMRK) und zum Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung (Art. 3
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 3 Verbot der Folter - Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
EMRK) vergleichbar ist (vgl. Janetzek/Lindner, Opfer von Menschenhandel im Asylverfahren - Teil I, ASYLMAGAZIN, Zeitschrift für Flüchtlings- und Migrationsrecht 4/2014 S. 107, nachfolgend: ASYLMAGAZIN).

5.2.2 Im Urteil Rantsev entschied der EGMR zunächst, dass Menschenhandel im Sinne der Definition in Art. 3 Bst. a Palermo-Protokoll und Art. 4 Bst. a EKM in den Anwendungsbereich von Art. 4
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK (Verbot der Sklaverei, Leibeigenschaft und Zwangsarbeit) fällt (vgl. Urteil Rantsev § 282). Der Gerichtshof hielt fest, dass die Europäische Menschenrechtskonvention wie die Universelle Erklärung der Menschenrechte, welche in Art. 4 «Sklaverei und Sklavenhandel in allen ihren Formen » verbietet zwar nicht ausdrücklich auf den Begriff des Menschenhandels Bezug nimmt. Der EGMR, der es jedoch als seine Pflicht ansieht, die EMRK als lebendiges Instrument im Lichte der heutigen Gegebenheiten auszulegen (vgl. Urteil Rantsev § 277 und 282), führte aus, dass der Menschenhandel als globales Phänomen in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen hat und der Abschluss des Palermo-Protokolls im Jahr 2000 und der EKM 2005 von der auf internationaler Ebene gewachsenen Einsicht in die Notwendigkeit zeugt, Massnahmen gegen den Menschenhandel zu ergreifen (vgl. Urteil Rantsev § 278). Angesichts dieser Entwicklungen hielt es der Gerichtshof für angebracht zu prüfen, inwieweit Menschenhandel an sich dem Sinn und
Zweck von Art. 4
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK zuwiderläuft. Bezug nehmend auf die Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien zu heutigen Formen der Sklaverei und auf den Erläuternden Bericht des Europarates zur EKM, welcher den Menschenhandel als « the modern form of the old worldwide slave trade » bezeichnet (Ziff. 3), erwog der Gerichtshof, dass Menschenhandel durch seinen auf Ausbeutung gerichteten Zweck auf der Ausübung von mit dem Eigentumsrecht verbundenen Befugnissen beruht und Menschen als Waren (« commodities ») behandelt, welche gekauft, verkauft und zur Arbeit gezwungen werden können (vgl. Urteil Rantsev § 142f., 161 und 280 f.). Daher, so der EGMR, bedroht Menschenhandel die Menschenwürde und ist mit einer demokratischen Gesellschaft und den Werten der EMRK unvereinbar. Der Gerichtshof hielt fest, dass es nicht erforderlich sei festzulegen, unter welchen der drei von Art. 4
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK verbotenen Tatbestände die Behandlung der verstorbenen Tochter des Beschwerdeführers Rantsev durch Zypern und Russland zu subsumieren wäre. Stattdessen entschied er, dass angesichts der Verpflichtung, die EMRK im Lichte heutiger Verhältnisse auszulegen, Menschenhandel im Sinne der Definition des Palermo-Protokolls und der
EKM vom Anwendungsbereich von Art. 4
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK erfasst ist (vgl. Urteil Rantsev § 282). Art. 4
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK bildet zusammen mit Art. 2
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 2 Recht auf Leben - (1) Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt. Niemand darf absichtlich getötet werden, ausser durch Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Gericht wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist.
a  jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen;
b  jemanden rechtmässig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmässig entzogen ist, an der Flucht zu hindern;
c  einen Aufruhr oder Aufstand rechtmässig niederzuschlagen.
und Art. 3
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 3 Verbot der Folter - Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
EMRK einen der Grundwerte der demokratischen Gesellschaften Europas (vgl. bereits Uteil des EGMR Siliadin gegen Frankreich vom 26. Juli 2005, 73316/01 § 82), und ein Abweichen von Art. 4 Abs. 1
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK ist auch im Notstandsfall nicht erlaubt (vgl. Urteil Rantsev § 283).

5.2.3 Der Umfang der positiven Verpflichtungen, die sich für die Vertragsstaaten bei Menschenhandel aus Art. 4
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK ergeben, ist gemäss dem Gerichtshof im Kontext des umfassenden Ansatzes des Palermo-Protokolls und der EKM zur wirksamen Bekämpfung des Menschenhandels zu bestimmen. Dieser Ansatz beinhaltet neben der Strafverfolgung der Täter auch die Prävention sowie den Opferschutz (vgl. Urteil Rantsev § 149, 163 und 285). Die Rechtssysteme der Staaten müssen daher einen effektiven Schutz der Rechte von tatsächlichen und potenziellen Menschenhandelsopfern gewährleisten (vgl. Urteil Rantsev § 284). Demzufolge ist zusätzlich zu strafrechtlichen Massnahmen zur Bestrafung von Menschenhändlern (vgl. Urteil Siliadin § 89 und 112) das gesamte innerstaatliche Recht so auszugestalten, dass es Menschenhandel nicht fördert, sondern wirksam davor schützt. So dürfen insbesondere das Migrationsrecht und das Gewerberecht keine Anreize für Menschenhandel bieten und diesen nicht begünstigen, indem sie etwa wie die zypriotischen Artistinnen-Visa starke Abhängigkeitsverhältnisse schaffen (vgl. Urteil Rantsev § 284, 290 293). Die Nichteinhaltung der Verpflichtung, die rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, um
Menschenhandel zu bekämpfen, kann im Einzelfall nur gerügt werden, wenn feststeht, dass die betroffene Person tatsächlich Opfer von Menschenhandel oder einer anderen von Art. 4
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EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK verbotenen Behandlung geworden ist (vgl. Urteil M. u.a. § 155; anders jedoch Urteil C.N. § 80 82, in dem Grossbritannien trotz erheblicher Zweifel an den Aussagen der Beschwerdeführerin wegen einer Verletzung von Art. 4
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EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK verurteilt wurde).

5.2.4 Gemäss dem Gerichtshof ergibt sich ferner aus Art. 4
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EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK wie aus Art. 2
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EMRK Art. 2 Recht auf Leben - (1) Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt. Niemand darf absichtlich getötet werden, ausser durch Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Gericht wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist.
a  jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen;
b  jemanden rechtmässig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmässig entzogen ist, an der Flucht zu hindern;
c  einen Aufruhr oder Aufstand rechtmässig niederzuschlagen.
und Art. 3
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EMRK Art. 3 Verbot der Folter - Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
EMRK eine prozessuale Untersuchungspflicht, wenn ein glaubhafter Verdacht auf eine Verletzung von Art. 4
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EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK besteht. Sobald eine staatliche Stelle von einem mutmasslichen Menschenhandelssachverhalt Kenntnis erhält, sind von Amts wegen Ermittlungen einzuleiten; eine Anzeige des Opfers oder von dessen Angehörigen ist nicht erforderlich. Die Ermittlungen müssen wirksam sein und unverzüglich erfolgen. Ist ein Mensch in Gefahr, ist höchste Eile geboten (vgl. Urteile Rantsev § 288, 299 f. und 307 309; C.N. § 69). Die aus Art. 4
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EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK abgeleitete verfahrensrechtliche Untersuchungspflicht geht als lex specialis dem in Art. 13
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EMRK Art. 13 Recht auf wirksame Beschwerde - Jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, hat das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.
EMRK garantierten Recht auf eine wirksame Beschwerde vor (vgl. Urteile des EGMR C.N. und V. gegen Frankreich vom 11. Oktober 2012, 67724/09 § 113; C.N. § 86).

5.2.5 Menschenhandel stellt häufig ein grenzüberschreitendes Phänomen dar, in das von der Anwerbung über die Verbringung bis zur Ausbeutung des Opfers mehrere Staaten involviert sind. Deshalb sind die Behörden sämtlicher betroffener Staaten (Herkunfts-, Transit- und Zielstaaten) gestützt auf Art. 31 Abs. 1 und Art. 32 EKM sowie auf die Präambel des Palermo-Protokolls neben der Aufklärung von Menschenhandelsfällen auf ihrem eigenen Territorium auch zur zwischenstaatlichen Zusammenarbeit verpflichtet, etwa indem sie Beweise sichern, Rechtshilfeersuchen stellen oder solche zügig beantworten (vgl. Urteil Rantsev § 149, 172 und 289).

5.2.6 Schliesslich kann Art. 4
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EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK (ähnlich wie Art. 2
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EMRK Art. 2 Recht auf Leben - (1) Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt. Niemand darf absichtlich getötet werden, ausser durch Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Gericht wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist.
a  jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen;
b  jemanden rechtmässig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmässig entzogen ist, an der Flucht zu hindern;
c  einen Aufruhr oder Aufstand rechtmässig niederzuschlagen.
und Art. 3
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EMRK Art. 3 Verbot der Folter - Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
EMRK) die Vertragsstaaten dazu verpflichten, operative Schutzmassnahmen für tatsächliche oder potenzielle Menschenhandelsopfer zu ergreifen. Eine solche Schutzpflicht entsteht im Einzelfall, wenn die Behörden von Umständen wussten oder wissen mussten, die den glaubhaften Verdacht (« credible suspicion ») begründen, dass eine Person Opfer von Menschenhandel ist oder sich in einer realen und unmittelbaren Gefahr (« real and immediate risk ») befindet, dem Menschenhandel beziehungsweise der Ausbeutung im Sinne des Palermo-Protokolls und der EKM ausgesetzt zu werden. Ist dies der Fall und unterlassen es die Behörden, alle angemessenen, möglichen und zumutbaren Massnahmen zu ergreifen, um die Gefahr von der Person abzuwenden, liegt eine Verletzung von Art. 4
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EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK vor (vgl. Urteil Rantsev § 286f., 294 298). Unter Hinweis auf Art. 6, 9 und 10 des Palermo-Protokolls nennt der EGMR als operative Massnahmen, welche Staaten bei Verdacht auf Menschenhandel zu ergreifen haben, namentlich die Gewährleistung der physischen Sicherheit des Opfers auf dem jeweiligen Staatsgebiet, die Entwicklung von Strategien, Programmen und Massnahmen zur
Prävention und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz der Opfer sowie die Ausbildung von Strafverfolgungs-, Migrations- und anderen Behörden in den Bereichen Prävention, Strafverfolgung und Opferschutz (vgl. Urteil Rantsev § 153 155 i.V.m 287).

5.3

5.3.1 Zur Frage, ob in Menschenhandelsfällen aus Art. 4
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EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK ein Refoulement-Verbot abzuleiten sei, hat sich der EGMR im Jahr 2011 erstmals geäussert. Im Verfahren einer nigerianischen Zwangsprostituierten, welche Frankreich nach Abweisung ihres Asylgesuchs ausweisen wollte, erwog der Gerichtshof, dass sich aufgrund des absoluten Charakters von Art. 4
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a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK grundsätzlich eine Verpflichtung Frankreichs ergeben kann, eine erneute Rekrutierung der Beschwerdeführerin in ein Prostitutionsnetzwerk in Nigeria zu verhindern. Die Pflicht, gestützt auf Art. 4
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EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK von einer Ausweisung abzusehen, besteht im konkreten Fall jedoch nur, wenn gegenüber den Behörden ein unmittelbares Risiko (« risque imminent ») einer erneuten Rekrutierung oder von Vergeltungsmassnahmen glaubhaft gemacht wird (vgl. Entscheid V.F. E. 1c.ii).

5.3.2 Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Art. 3
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EMRK Art. 3 Verbot der Folter - Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
und Art. 4
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EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK geht der EGMR in seiner Rechtsprechung offenbar davon aus, dass Art. 4
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EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK in Menschenhandelsfällen als lex specialis Art. 3
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 3 Verbot der Folter - Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
EMRK vorgeht. Der Gerichtshof hielt im obgenannten Entscheid zu den Vorbringen der Beschwerdeführerin fest: « (...) les arguments développés dans son récit et les craintes évoquées par la requérante en cas de retour au Nigeria sont liés à l'article 4, et découlent de son intégration dans le réseau de prostitution. Ainsi, la Cour estime qu'il n'est pas nécessaire de se prononcer séparément sur le grief relevant de l'article 3 puisque sa substance a été examinée sous l'angle de l'article 4 de la Convention » (vgl. Entscheid V.F. E. 2). Auch im Verfahren Rantsev (§ 252) prüfte der EGMR ausschliesslich eine Verletzung von Art. 4
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EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK und nicht von Art. 3
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EMRK Art. 3 Verbot der Folter - Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
EMRK. Zur Begründung erwog der Gerichtshof, dass selbst wenn die Tochter des Beschwerdeführers vor ihrem Tod einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt gewesen wäre eine solche ohnehin in engem Zusammenhang mit ihrer Ausbeutung und dem Menschenhandel stünde, zumal Menschenhandel häufig mit Gewaltanwendung gegen die Opfer und mit
Misshandlungen einhergehe.

5.3.3 In der Literatur wird das Verhältnis von Art. 4
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EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
und Art. 3
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 3 Verbot der Folter - Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
EMRK kontrovers diskutiert. Während die einen Lehrmeinungen die Ansicht vertreten, der weiter gefasste Art. 3
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 3 Verbot der Folter - Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
EMRK sei besser geeignet, Re-Trafficking, Vergeltungsmassnahmen sowie massive Stigmatisierung und Diskriminierung im Heimatland zu erfassen (vgl. die Hinweise in Nula Frei, Menschenhandelsopfer im Asylverfahren, in: Jahrbuch für Migrationsrecht 2014/2015, S. 56 ff., nachfolgend: Frei 2015), gehen andere bei Menschenhandelsfällen von einem kombinierten Schutzmassstab von Art. 4
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
und Art. 3
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 3 Verbot der Folter - Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
EMRK aus (vgl. Janetzek/Lindner, a.a.O., Teil II, ASYLMAGAZIN 6/2014 S. 191).

6.

6.1 Die im Kap. III EKM garantierten Schutz- und Unterstützungsmassnahmen sowie Rechte können Opfer von Menschenhandel nur dann auch tatsächlich in Anspruch nehmen, wenn sie als solche erkannt beziehungsweise identifiziert werden. Die EKM statuiert daher in Art. 10 eine ausdrückliche Identifizierungspflicht der Staaten gegenüber Menschenhandelsbetroffenen. Im Erläuternden Bericht zur EKM führt der Europarat aus, dass die Identifizierung von Menschenhandelsopfern häufig detaillierte Abklärungen sowie einen Informationsaustausch mit Behörden anderer Staaten und mit in der Opferhilfe tätigen Organisationen erfordert und demzufolge zeitaufwendig und kompliziert ist. Staatliche Behörden haben oft nur ungenügende Kenntnisse über das Phänomen des Menschenhandels, sodass die Opfer, denen die Händler häufig die Identitätsdokumente abgenommen haben, als illegal anwesende Migrantinnen, illegale Arbeitskräfte und Prostituierte bestraft oder unverzüglich ausgewiesen werden (Report 2005, Ziff. 127ff.). Um die Vertragsstaaten in die Lage zu versetzen, Menschenhandelsopfer als solche zu erkennen beziehungsweise zu identifizieren und sie anschliessend den staatlichen und nichtstaatlichen
Stellen zuzuführen, welche ihnen die in der Konvention garantierten Rechte gewähren, verpflichtet die EKM die Staaten dazu, ihre zuständigen Behörden mit Personen auszustatten, die für die Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels, die Identifizierung als und Unterstützung der Opfer, einschliesslich Kindern, geschult und qualifiziert sind. Die Vertragsstaaten haben überdies sicherzustellen, dass die verschiedenen Behörden sowohl untereinander als auch mit Hilfsorganisationen zusammenarbeiten. Das Identifizierungsverfahren hat der besonderen Situation von Frauen und Kindern als Opfern gebührend Rechnung zu tragen (Art. 10 Abs. 1 EKM). Als zuständige Behörden gelten sämtliche staatliche Stellen, welche mit Menschenhandelsbetroffenen in Kontakt kommen können (Report 2005, Ziff. 129) mithin auch die Asylbehörden. Gemäss Art. 10 Abs. 2 EKM hat jede Vertragspartei die erforderlichen gesetzgeberischen oder anderen Massnahmen zu ergreifen, um die Opfer als solche zu identifizieren, gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit anderen Vertragsparteien oder Hilfsorganisationen. Haben die zuständigen Behörden konkrete Anhaltspunkte (« reasonable grounds ») dafür, dass eine bestimmte Person Opfer von Menschenhandel ist, haben sie sicherzustellen,
dass diese nicht aus ihrem Hoheitsgebiet entfernt wird, bis die Massnahmen zur Identifizierung der Person als Opfer einer Straftat abgeschlossen sind. Damit soll sichergestellt werden, dass Menschenhandelsbetroffene die in Kap. III EKM garantierten Rechte auch tatsächlich wahrnehmen können: « Those rights would be purely theoretical and illusory if such people were removed from the country before identification as victims was possible » (Report 2005, Ziff. 131). Das Entfernen aus dem Hoheitsgebiet bezieht sich auf die Abschiebung in den Herkunftsstaat und in einen Drittstaat (Report 2005, Ziff. 133). Ein Identifizierungsverfahren hat unabhängig von einer allfälligen Strafverfolgung der Täter stattzufinden (Report 2005, Ziff. 134). Personen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für Menschenhandel vorliegen, sind die minimalen Unterstützungsmassnahmen gemäss Art. 12 Abs. 1 und 2 sowie eine Erholungs- und Bedenkzeit von mindestens 30 Tagen gemäss Art. 13 EKM zu gewähren; die weitergehenden Rechte nach Art. 12 Abs. 3 7 kommen nur Personen zu, bei denen der Identifizierungsprozess gemäss Art. 10 abgeschlossen ist und die Opfereigenschaft feststeht (Report 2005, Ziff. 135 und 147). Nach Ablauf dieses Zeitraums hat jede Vertragspartei dem
Opfer gestützt auf Art. 14 Abs. 1 EKM einen verlängerbaren Aufenthaltstitel zu erteilen, wenn die zuständige Behörde der Auffassung ist, dass der Aufenthalt des Opfers aufgrund seiner persönlichen Situation (Bst. a) oder für seine Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden bei den Ermittlungen oder beim Strafverfahren (Bst. b) erforderlich ist.

6.2

6.2.1 Trotz des wachsenden Bewusstseins für die Thematik und der mittlerweile international anerkannten Definition von Menschenhandel bleibt die Identifizierung der Opfer in Europa eine grosse Herausforderung. Nur wenige Menschenhandelsbetroffene geben sich von sich aus als solche zu erkennen, und viele Staaten verfügen nicht über geeignete Verfahren und Mechanismen, um die Opfer zu identifizieren (vgl. European Migration Network, Synthesis Report Identification of victims of trafficking in human beings in international protection and forced return procedures, März 2014, S. 15f., nachfolgend: EMN).

6.2.2 Die Gründe für die Zurückhaltung bei der Selbstdeklaration als Menschenhandelsbetroffene sind vielfältig: entsprechende Anweisungen der Menschenhändler sowie Kontrolle, Gewaltanwendung und Drohungen durch die Händler; Manipulation einer Bindung des Opfers; generelles Misstrauen gegenüber Behörden und der Polizei; Angst vor einer Abschiebung in den Herkunftsstaat; Angst vor Vergeltungsmassnahmen von Händlern und Zuhältern gegen das Opfer oder dessen Familie im Herkunftsland; Angst vor einer Stigmatisierung als Prostituierte und vor Zurückweisung durch die Familie und/oder Herkunftsgesellschaft; Schamgefühle, insbesondere bei Zwangsprostitution; Traumatisierung, verursacht durch sexuellen Missbrauch und Gewalt und/oder durch die Umstände der Flucht vor den Menschenhändlern; mangelnde Sprachkenntnisse und Unkenntnis über die rechtlichen Möglichkeiten sowie über die Umstände ihrer Ausbeutung und damit fehlendes Bewusstsein, Opfer von Menschenhandel zu sein; Schwierigkeit, nach einem ersten Asylgesuch, das wegen unwahrer Angaben abgewiesen wurde, ein weiteres Gesuch einzureichen, und schliesslich die Unkenntnis der Betroffenen über die Rolle der Asylbehörden sowie mangelnde Sensibilisierung der
befragenden und entscheidenden Personen im Asylverfahren (vgl. Bhabha/Alfirev, The Identification and Referral of Trafficked Persons to Procedures for Determining International Protection Needs, PPLAS2009/03, Oktober 2009, S. 9 ff.; Vivien Krohn, Opfer von Menschenhandel im Asylverfahren: Analyse von Asylverfahren nigerianischer Antragstellerinnen mit dem Verdacht des Menschenhandels insbesondere zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, in: Identifizierung und Schutz von Opfern des Menschenhandels im Asylsystem, 2012, S. 24ff.; EMN S. 20; Frei 2015 S. 36f.; dieselbe, Der Schutz von Menschenhandelsopfern im Asylsystem, ASYL 2013/1 S. 15, nachfolgend: Frei 2013; Janetzek/Lindner, a.a.O., ASYLMAGAZIN 4/2014 S. 110; Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration [FIZ], Wenig Schutz im Asylverfahren, in: Frauenhandel im Asylbereich, Rundbrief 51, November 2012, S. 3; dieselbe, Opfer von Menschenhandel haben Rechte auch im Asylverfahren, a.a.O. S. 8; Helfferich/Kavemann/Rabe, Determinanten der Aussagebereitschaft von Opfern des Menschenhandels zum Zweck sexueller Ausbeutung, Köln 2010; zu den Schwierigkeiten bei der Einvernahme von Menschenhandelsopfern in Strafuntersuchungen gegen die Täter vgl. Silvia Steiner, Institutionelle
Opferempathie?, FIZ, Frauenhandel Die Rolle der Justiz, Rundbrief 47, November 2010, S. 4f.).

6.2.3 Werden Betroffene direkt mit der Vermutung konfrontiert, Opfer von Menschenhandel zu sein, reagieren sie oft verunsichert, verschlossen oder aggressiv. Die Schaffung eines Vertrauensverhältnisses, welches Zeit und eine intensive Betreuung erfordert, ist oft nur von Fachberatungsstellen zu leisten (vgl. Doris Hilber, Menschenhandel in Deutschland Eine Einführung, in: Identifizierung und Schutz von Opfern des Menschenhandels im Asylsystem, 2012, S. 75). Beschleunigte Verfahren und Dublin-Verfahren erschweren die Erkennung und Identifizierung von Menschenhandelsopfern (vgl. Frei 2015 S. 34; EMN S. 15).

6.3

6.3.1 Auch im Asylverfahren machen nur wenige Betroffene von sich aus auf ihre Situation aufmerksam oder geben sich gar als Opfer von Menschenhandel zu erkennen (vgl. Frei 2015 S. 33). Entgegen der gesetzlichen Mitwirkungspflicht bei der Erstellung des Sachverhalts (Art. 8 Abs. 1 Bst. c
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 8 Mitwirkungspflicht - 1 Asylsuchende sind verpflichtet, an der Feststellung des Sachverhaltes mitzuwirken. Sie müssen insbesondere:
1    Asylsuchende sind verpflichtet, an der Feststellung des Sachverhaltes mitzuwirken. Sie müssen insbesondere:
a  ihre Identität offen legen;
b  Reisepapiere und Identitätsausweise abgeben;
c  bei der Anhörung angeben, weshalb sie um Asyl nachsuchen;
d  allfällige Beweismittel vollständig bezeichnen und sie unverzüglich einreichen oder, soweit dies zumutbar erscheint, sich darum bemühen, sie innerhalb einer angemessenen Frist zu beschaffen;
e  bei der Erhebung der biometrischen Daten mitwirken;
f  sich einer vom SEM angeordneten medizinischen Untersuchung unterziehen (Art. 26a).
2    Von Asylsuchenden kann verlangt werden, für die Übersetzung fremdsprachiger Dokumente in eine Amtssprache besorgt zu sein.
3    Asylsuchende, die sich in der Schweiz aufhalten, sind verpflichtet, sich während des Verfahrens den Behörden von Bund und Kantonen zur Verfügung zu halten. Sie müssen ihre Adresse und jede Änderung der nach kantonalem Recht zuständigen Behörde des Kantons oder der Gemeinde (kantonale Behörde) sofort mitteilen.
3bis    Personen, die ohne triftigen Grund ihre Mitwirkungspflicht verletzen oder den Asylbehörden während mehr als 20 Tagen nicht zur Verfügung stehen, verzichten damit auf eine Weiterführung des Verfahrens. Dasselbe gilt für Personen, die den Asylbehörden in einem Zentrum des Bundes ohne triftigen Grund während mehr als 5 Tagen nicht zur Verfügung stehen. Die Gesuche werden formlos abgeschrieben. Ein neues Gesuch kann frühestens nach drei Jahren deponiert werden. Vorbehalten bleibt die Einhaltung der Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 195120.21
4    Nach Vorliegen eines vollziehbaren Wegweisungsentscheides sind die betroffenen Personen verpflichtet, bei der Beschaffung gültiger Reisepapiere mitzuwirken.
AsylG) machen Menschenhandelsbetroffene in Asylverfahren häufig unwahre und/oder widersprüchliche Angaben (vgl. zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Vorbringen in Asylverfahren Frei 2015 S. 36ff., m.H. auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts).

6.3.2 Manche Menschenhandelsbetroffene werden von den Händlern oder den Zuhältern angewiesen, mit einer erfundenen Geschichte ein Asylgesuch zu stellen, während dessen Dauer sie weiter ausgebeutet werden können (vgl. Urteil des BVGer E 522/2014 vom 17. April 2014). Ein weiterer Grund, weshalb ihre Vorbringen in Asylverfahren häufig als unglaubhaft beurteilt werden, liegt in ihrem Verhalten begründet, welches den Behörden oft als widersprüchlich erscheint etwa, wenn die Frauen in Ausbeutungssituationen verharren, obwohl ihre Bewegungsfreiheit nicht (mehr) oder nicht vollständig eingeschränkt ist und eine Flucht objektiv betrachtet möglich wäre, oder wenn sie nach einer erfolgten Flucht zu den Tätern zurückkehren beides bisweilen auf Druck ihrer Familien im Herkunftsland (vgl. Bhabha/Alfirev, a.a.O., Ziff. 8v S. 10). Schliesslich wird auch dann an der Glaubhaftigkeit der Vorbringen gezweifelt, wenn Menschenhandelsbetroffene erst ein Asylgesuch einreichen, nachdem sie monate- oder jahrelang häufig bereits als Minderjährige in einem oder mehreren europäischen Staaten als Zwangsprostituierte oder Zwangsarbeiterinnen tätig waren und unmittelbar vor der Abschiebung stehen. So brachte beispielsweise eine
Nigerianerin, welche 2004 im Alter von 16 Jahren nach Grossbritannien geschleust worden war, erst sechs Jahre später in einem Asylgesuch vor, von Menschenhandel betroffen zu sein; Grossbritannien anerkannte die Beschwerdeführerin erst 2013 ein Jahr nach der Einreichung einer Beschwerde beim EGMR als Menschenhandelsopfer (Zwangsarbeit als Hausangestellte) und als Flüchtling (vgl. Entscheid des EGMR O.G.O. gegen Vereinigtes Königreich vom 18. Februar 2014, 13950/12).

6.3.3 Machen Menschenhandelsbetroffene, die im ersten Asylverfahren eine unwahre Geschichte erzählt haben, erst Jahre später im Rahmen eines Wiedererwägungs- oder eines Folgeasylgesuchs geltend, Opfer von Menschenhandel zu sein, wird dies in der Regel ebenfalls als Indiz für mangelnde Glaubhaftigkeit der Vorbringen gewertet (vgl. etwa das Urteil des BVGer E 6973/2011 vom 1. Oktober 2013 E. 6.3; ferner Frei 2015 S. 27, 36 ff.). Der EGMR hat in einem kürzlich ergangenen Entscheid allerdings festgehalten, dass unwahre Angaben in früheren Verfahren ein typisches Aussageverhalten von Menschenhandelsopfern darstellen und daher nicht ohne Weiteres zur Annahme der Unglaubhaftigkeit des nachträglichen Menschenhandelsvorbringens führen dürfen. Die Beschwerdeführerin hatte erst in einem Wiedererwägungsverfahren geltend gemacht, sie sei von einem nigerianischen Menschenhändlerring zur Prostitution gezwungen worden und habe im Asylverfahren auf Druck ihres Zuhälters falsche Angaben gemacht: « (...) le fait que la requérante ait menti à l'occasion de sa première demande d'asile et lors de son audition par les services de police est une constante dans les récits de victimes de réseaux de prostitution et,
partant, elle (la Cour, Anm. BVGer) estime que cette circonstance, en tant que telle, ne prive pas de force probante les dires de cette dernière » (vgl. Entscheid des EGMR L.O. gegen Frankreich vom 26. Mai 2015, 4455/14, § 31).

6.4 Angesichts der Schwierigkeit, Opfer von Menschenhandel als solche zu erkennen beziehungsweise zu identifizieren, haben verschiedene Organisationen in den letzten Jahren Indikatorenlisten entwickelt, welche die Erkennung von Menschenhandelsbetroffenen (insb. Menschenhandel zwecks sexueller Ausbeutung sowie Ausbeutung der Arbeitskraft) durch die Behörden erleichtern sollen (vgl. UNITED NATIONS OFFICE ON DRUGS AND CRIME, Toolkit to Combat Trafficking in Persons, 2008, Tool 6.4, Indicators of Trafficking, S. 258ff.; International Labour Organisation [ILO], Operational indicators of trafficking in human beings, 2009; auf den ILO-Listen aufbauend für Deutschland vgl. Hilber, a.a.O., S. 74; für die Schweiz vgl. Koordinationsstelle gegen Menschenhandel und Menschenschmuggel [KSMM], Checkliste zur Identifizierung von Opfern des Menschenhandels, 2005, < http://www.ksmm.admin.ch/
dam/data/ksmm/dokumentation/leitfaden/leitfaden_anhang02checklisted.pdf >, abgerufen am 02.12.2015). Die Listen enthalten zahlreiche Indikatoren für Menschenhandel, von der Anwerbung im Heimatstaat über die Reise bis zur Ausbeutung am Bestimmungsort. Weitere Anzeichen lassen sich aus dem Umfeld der potenziellen Opfer erschliessen, etwa wenn diese in bestimmten Kirchen beziehungsweise religiösen Gemeinschaften oder Läden verkehren oder wenn wiederholt bestimmte Anwälte auftreten (vgl. Hilber, a.a.O., S. 75). Sind einzelne oder eine Kombination solcher Indikatoren vorhanden, drängen sich weitere Abklärungen auf. Zusätzlich zu allgemeinen, landes- und kulturübergreifenden Indikatoren (wie falsche Versprechungen, Übernahme der Reisekosten, Drohungen, Einsatz von Gewalt, Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Zwang zur Prostitution) sind kulturspezifische Besonderheiten zu berücksichtigen, welche nur in einer bestimmten Region auftreten und in anderen Kulturkreisen nicht üblich sind (für landestypische Indikatoren hinsichtlich Nigeria vgl. Krohn, a.a.O., S. 24ff.; E. 8).

6.5 Die aus Art. 4
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK und Art. 10 EKM abgeleitete staatliche Pflicht, Massnahmen zur Erkennung von Menschenhandelsbetroffenen zu ergreifen, ist im Asylverfahren auch deshalb von zentraler Bedeutung, weil die Identifizierung die Voraussetzung darstellt, um überhaupt über eine allfällige Asylgewährung, die Flüchtlingseigenschaft und die Einhaltung des Non-Refoulement-Gebotes befinden zu können (vgl. zu den Voraussetzungen der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft von Menschenhandelsopfern UNHCR, Richtlinien zum Internationalen Schutz: Anwendung des Art. 1A [2] des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge auf die Opfer von Menschenhandel und entsprechend gefährdete Personen, HCR/GIP/ 06/07, 7. April 2006; Frei 2015 S. 50ff.; Frei 2013 S. 17ff.; Janetzek/Lindner, a.a.O., ASYLMAGAZIN 6/2014 S. 184 192, je m.w.H.).

6.6 In den letzten Jahren wurden in der EU vermehrt Anstrengungen unternommen, die Identifizierung und den Schutz von Menschenhandelsbetroffenen im Asyl- und Wegweisungsverfahren zu verbessern (vgl. hierzu insb. die bereits zitierte, im März 2014 publizierte Studie des EMN, welche die Ergebnisse von nationalen Studien in 23 EU-Mitgliedstaaten und Norwegen zu den in den jeweiligen Staaten entwickelten Identifizierungsmechanismen zusammenfasst und analysiert; als Beispiel für eine nationale Fokus-Studie für das EMN vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Die Identifizierung von Opfern von Menschenhandel im Asylverfahren und im Fall der erzwungenen Rückkehr, Working Paper 56 2013; vgl. auch das gemeinsame Projekt von IOM, UNHCR und BAMF, Identifizierung und Schutz von Opfern des Menschenhandels im Asylsystem, 2012 sowie IOM, Landesbüro für Österreich, Menschenhandel. Erkennung von Betroffenen im Asylverfahren, 2015). Für die EU-Mitgliedstaaten ergibt sich die Pflicht, geeignete Verfahren für die frühzeitige Erkennung, Unterstützung und Betreuung von Opfern festzulegen, auch aus Art. 11 Abs. 4 der für die Schweiz nicht massgebenden Richtlinie 2011/36/EU des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates, ABl. L 101 vom 15. April 2011 S. 8 (vgl. dazu: « Prevent. Combat. Protect », HUMAN TRAFFICKING, Joint UN Commentary on the EU Directive A Human Rights-Based Approach, OHCHR/UNHCR/UNICEF/UNODC/UN Women/ILO, November 2011).

7.

7.1 In der Schweiz erkannte das damalige BFM gemäss eigenen Angaben erstmals im Jahr 2004 bei der Prüfung eines Asylgesuchs Aussagen mit einem Bezug zu Menschenhandel. Bis 2012 hat das Bundesamt rund weitere 100 Fälle erfasst, in denen die Betroffenen angaben, Opfer von Menschenhandel zu sein oder bei denen dies vermutet wurde. Rund ein Drittel betraf Minderjährige; die angeführten Asylgründe standen meistens in Zusammenhang mit sexueller Ausbeutung und Zwangsprostitution. Frauen und Mädchen, welche aufgrund falscher Versprechungen ihr Heimatland verliessen und anschliessend zur Prostitution gezwungen wurden, reichten gemäss dem BFM häufig Asylgesuche ein, nachdem ihnen die Flucht gelungen war. Dabei machten sie geltend, zu befürchten, Vergeltungsmassnahmen zu erleiden oder erneut Opfer von Menschenhandel zu werden Befürchtungen, welche das Bundesamt gemäss eigenen Angaben als berechtigt erachtete. Vergeltungsmassnahmen drohten hauptsächlich von Menschenhändlern, kriminellen Organisationen oder Familienangehörigen. Die Frauen erhielten meistens keinen effektiven Schutz in den jeweiligen Herkunftsstaaten, weil diesen so das BFM der Wille fehle, gegen diese Form der Kriminalität
vorzugehen. Aus Sicht des BFM erfüllten die Opfer von Zwangsprostitution im Allgemeinen die Flüchtlingseigenschaft nicht, da sie im Zeitpunkt der Ausreise aus dem Herkunftsland nicht verfolgt worden seien; in solchen Fällen prüfte das BFM gemäss eigenen Angaben sorgfältig, ob allfällige Wegweisungsvollzugshindernisse vorlagen und eine vorläufige Aufnahme angezeigt war (vgl. Liselotte Barzé-Loosli, Bericht aus dem Bundesamt für Migration: Asylgesuche und Menschenhandel, FIZ, Frauenhandel im Asylbereich, Rundbrief 51, S. 6; zur neueren Praxis des BFM bezüglich Menschenhandel in die Zwangsprostitution vgl. Barzé, La pratique de l'Office fédéral des migrations [ODM] en matière de persécutions liées au genre, in: Geschlechtsspezifische Verfolgung, 2012, S. 92ff.; vgl. auch SEM, Handbuch Asyl und Rückkehr, Art. D7 Die geschlechtsspezifische Verfolgung, Ziff. 2.3.6 S. 13, sowie Art. C7 Die Anhörung zu den Asylgründen, Ziff. 2.3.1.1 S. 7; zur Kritik an dieser Praxis vgl. Frei 2015 S. 50ff.; Frei 2013 S. 17ff.).

7.2 Die Schweiz hat am 27. Oktober 2006 das Palermo-Protokoll ratifiziert, welches am 26. November 2006 in Kraft trat (AS 2006 5917), und gleichzeitig den Straftatbestand des Menschenhandels im Strafgesetzbuch (Art. 182
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 182 - 1 Wer als Anbieter, Vermittler oder Abnehmer mit einem Menschen Handel treibt zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung, der Ausbeutung seiner Arbeitskraft oder zwecks Entnahme eines Körperorgans, wird mit Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bestraft. Das Anwerben eines Menschen zu diesen Zwecken ist dem Handel gleichgestellt.
1    Wer als Anbieter, Vermittler oder Abnehmer mit einem Menschen Handel treibt zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung, der Ausbeutung seiner Arbeitskraft oder zwecks Entnahme eines Körperorgans, wird mit Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bestraft. Das Anwerben eines Menschen zu diesen Zwecken ist dem Handel gleichgestellt.
2    Handelt es sich beim Opfer um eine minderjährige254 Person oder handelt der Täter gewerbsmässig, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr.
3    ...255
4    Strafbar ist auch der Täter, der die Tat im Ausland verübt. Die Artikel 5 und 6 sind anwendbar.
StGB) angepasst. Die im Bundesamt für Polizei (fedpol) angesiedelte Koordinationsstelle gegen Menschenhandel und Menschenschmuggel KSMM ist mit der Entwicklung von gesamtschweizerischen Strategien, Konzepten und Instrumenten zur Bekämpfung von Menschenhandel und -schmuggel beauftragt. Als nationale Plattform vereinigt sie Behörden und Stellen des Bundes und der Kantone sowie Nichtregierungs- und zwischenstaatliche Organisationen, die in diesem Bereich tätig sind. Das Steuerungsorgan der KSMM hat am 1. Oktober 2012 den ersten Nationalen Aktionsplan gegen Menschenhandel (NAP) 2012 2014 der Schweiz verabschiedet. Am 17. Dezember 2012 hat die Schweiz als 38. Mitglied des Europarats die EKM ratifiziert, welche am 1. April 2013 in Kraft trat (AS 2013 475). Der Nationale Aktionsplan soll unter anderem den bestehenden Handlungsbedarf und die strategischen Schwerpunkte bei der Bekämpfung des Menschenhandels in der Schweiz aufzeigen, die hauptverantwortlichen Akteure bei Bund
und Kantonen benennen sowie dazu beitragen, die Verpflichtungen aus den internationalen Vereinbarungen und Empfehlungen der zuständigen Überwachungsgremien umzusetzen (vgl. NAP 2012 2014 S. 2f.; vgl. ferner KSMM, Fact Sheet « Menschenhandel Eine moderne Form der Sklaverei », November 2013; dies., Leitfaden « Kooperationsmechanismen gegen Menschenhandel » 2005 sowie weitere auf < www.ksmm. admin.ch > abrufbare Berichte und Publikationen).

7.3 Der Nationale Aktionsplan 2012 2014 enthält 23 Massnahmen zur Bekämpfung von Menschenhandel in den Bereichen Prävention, Strafverfolgung, Opferhilfe und Zusammenarbeit. Für den Asylbereich sieht der Aktionsplan im Hinblick auf den Opferschutz unter anderem die Sicherstellung der Identifizierung von Menschenhandelsopfern in Asylverfahren vor, was insbesondere durch eine systematische Sensibilisierung der Mitarbeitenden des BFM beziehungsweise heute des SEM erreicht werden soll. Die Abläufe sollen in einem (zu erstellenden) Nationalen Opferschutzprogramm (vgl. Aktion 14) oder in einem separaten Massnahmenpapier dargestellt werden, wobei unter anderem zu bestimmen sei, welcher Staat das Opfer zu schützen hat, wenn dessen Ausbeutung im Ausland stattgefunden hat, welches Gesetz für den Aufenthalt der Opfer in der Schweiz anzuwenden ist, wie der Opferschutz in der Schweiz zu gewährleisten ist und wie die Zusammenarbeit mit dem Ausland zu erfolgen hat (vgl. NAP, Aktion 19 S. 17). Als Ausbildungsmassnahme ist unter anderem die Durchführung von spezialisierten Ausbildungskursen für Angehörige der Migrationsbehörden (kantonale Migrationsämter und BFM bzw. SEM) vorgesehen mit dem Ziel,
dass diese Behörden die Bedürfnisse der Menschenhandelsbetroffenen und die Instrumente des Opferschutzes kennen sowie die Regeln über den Aufenthalt der Opfer im Einzelfall sachgerecht anwenden können (vgl. NAP, Aktion 17 S. 16). Das SEM hat in den Jahren 2013 2015 mehrere Ausbildungsveranstaltungen durchgeführt und ein Ausbildungskonzept zur Erkennung von Menschenhandelsfällen im Asylverfahren ausgearbeitet (vgl. Prostitution und Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, Bericht des Bundesrates vom 5. Juni 2015 in Erfüllung der Postulate 12.4162 Streiff-Feller, 13.3332 Caroni, 13.4033 Feri und 13.4045 Fehr, S. 68).

7.4 Der Bundesrat hält in diesem Bericht fest, dass die Schweiz von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung hauptsächlich als Zielland und zu einem geringeren Ausmass als Transitland betroffen ist. Aktuelle Schätzungen zur Anzahl Menschenhandelsbetroffener in der Schweiz existieren nicht. Die wichtigsten Herkunftsstaaten von Opfern und Tätern waren in den letzten Jahren Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Thailand, China, Brasilien und Nigeria (vgl. obigen Bericht des Bundesrates, S. 70).

7.5 Die Umsetzung der EKM in den Vertragsstaaten wird durch die Expertengruppe für die Bekämpfung des Menschenhandels (GRETA) geprüft (vgl. zum Überwachungsmechanismus Art. 36 38 EKM). Das Expertengremium hat kürzlich den ersten Evaluationsbericht für die Schweiz mit Schlussfolgerungen und Empfehlungen sowie einer Stellungnahme der Schweiz publiziert (vgl. Council of Europe/GRETA, Group of Experts on Action against Trafficking in Human Beings, Report concerning the implementation of the Council of Europe Convention on Action against Trafficking in Human Beings by Switzerland, First evaluation round, GRETA [2015]18, 14. Oktober 2015, < http://www.coe.int/t/dghl/moni
toring/trafficking/Docs/Profiles/SWITZERLANDProfile_en.asp >, abgerufen am 11.11.2015, nachfolgend: GRETA 2015). Im Evaluationsbericht hält GRETA unter anderem fest, dass in der Schweiz in den Jahren 2011 bis 2014 insgesamt lediglich 177 Personen als Menschenhandelsopfer erkannt und identifiziert wurden (2011: 37, 2012: 61, 2013: 44 und 2014: 35, vgl. GRETA 2015 S. 11). Das Überwachungsgremium hält die Schweiz dazu an, zusätzliche Schritte zu unternehmen, um sicherzustellen, dass alle Opfer von Menschenhandel, unabhängig von ihrem ausländerrechtlichen Status, korrekt identifiziert werden und die im EKM garantierten Unterstützungs- und Schutzmassnahmen in Anspruch nehmen können. Zwar wird anerkannt, dass in 18 von 26 Kantonen multidisziplinäre Kooperationsmechanismen (sog. Runde Tische) bestehen, die unter anderem auch Opfer identifizieren und an die zuständigen Stellen überweisen können. Das Gremium bemängelt jedoch, dass in der Schweiz kein einheitliches, landesweit angewendetes formelles Verfahren zur Identifizierung von Menschenhandelsopfern existiert, und fordert die Schweiz auf, ein solches Verfahren mit einheitlichen Instrumenten und Indikatoren einzurichten, damit die einzelnen Etappen zur Erkennung und Identifizierung
von Menschenhandelsopfern klar definiert sind und koordiniert werden können. Im Besonderen wird die Schweiz auch aufgefordert, die korrekte Erkennung von Menschenhandelsopfern unter irregulären Migrantinnen und Migranten sowie Asylsuchenden sicherzustellen, die Identifizierung von Opfern von Menschenhandel zwecks Ausbeutung der Arbeitskraft zu verbessern sowie ein Identifizierungsverfahren zu entwickeln, das die besondere Situation von minderjährigen Opfern berücksichtigt (vgl. GRETA 2015 S. 7, 32 ff., 48 und 52). In ihrer Stellungnahme verweist die Schweizer Regierung auf die Indikatorenliste der KSMM und die Entscheidungshoheit der zuständigen lokalen Behörden und hält unter anderem fest: « Il n'est pas indispensable en Suisse qu'une décision de justice établisse formellement le statut de victime de traite des êtres humains pour que la victime en question bénéficie des prestations de l'aide aux victimes et d'une autorisation de séjour » (vgl. GRETA 2015, Commentaires des autorités suisses, Observations particulières, Ziff. 129 S. 35; zu den Fragen, die sich bei der Ausgestaltung eines formellen Erkennungs- und Identifizierungsverfahrens stellen können, vgl. Frei 2015 S. 34ff.). Um Opfer von Menschenhandel zu
identifizieren, zu unterstützen und zu schützen und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, sieht das Expertengremium für die Schweiz Handlungsbedarf insbesondere auch bei der Sensibilisierung und Ausbildung der mit potenziellen Menschenhandelsbetroffenen befassten Behörden und Institutionen (vgl. GRETA 2015 S. 8, 22 f., 49 f.): « Continuing efforts must be made so that all professionals who may come into contact with victims of human trafficking, including law enforcement officials, prosecutors, judges, migration officials, asylum officials, labour inspectors, social workers and medical staff, are continuously informed and trained about the need to apply a human rights-based approach to action against human trafficking on the basis of the Convention and the case law of the European Court of Human Rights » (vgl. GRETA 2015, Ziff. 211 S. 49).

8.

8.1 Die Beschwerdeführerin im vorliegenden Verfahren reiste im Oktober 2003 in die Schweiz ein. Zu diesem Zeitpunkt war gemäss Angaben des BFM (vgl. E. 7.1) in der Schweiz noch kein einziges Opfer von Menschenhandel in einem Asylverfahren identifiziert worden. In anderen europäischen Staaten wurden zur gleichen Zeit erste grössere Studien über Menschenhandel und Zwangsprostitution von Nigerianerinnen in Europa publiziert (für Italien vgl. Franco Prina, Trafficking of Nigerian Girls to Italy: Trade and exploitation of Minors and young Nigerian women for prostitution in Italy, United Nations Interregional Crime and Justice Research Institute [UNICRI], Turin 2003; Christiana Okojie et al., Trafficking of Nigerian Girls to Italy: Report of Field Survey in Edo State, Nigeria, UNICRI, 2003; für die Niederlande vgl. van Dijk et al., in: Jørgen Carling, Migration, Human Smuggling and Trafficking from Nigeria to Europe, 2006). Die nigerianischen Mädchen und Frauen, die um die Jahrtausendwende nach Europa in die Prostitution gehandelt wurden, stammten zu fast 90 % aus dem südlichen Bundesstaat Edo (Hauptstadt: Benin City) und im Übrigen aus Delta State, Port Harcourt und Lagos (vgl. Prina,
a.a.O., Kap. 1.1; Okojie et al., a.a.O., Kap. 4.1, 5.3 und 6.1; Carling, a.a.O., S. 25). Sie waren mehrheitlich nicht älter als 20, wobei der Anteil Minderjähriger tendenziell anstieg (Prina, a.a.O., Kap. 1.1; Okojie et al., a.a.O., Kap. 4.1). Die jungen Frauen wurden seit den Neunzigerjahren mit falschen Versprechungen angeworben (Arbeit als Dienstmädchen, Coiffeuse, Schneiderin, Modedesignerin, im Verkauf, in Restaurants und Fabriken oder angebliche Ausbildung) und insbesondere nach Italien sowie in die Niederlande, nach Spanien, Deutschland, Belgien und Österreich geschleust und dort zur Prostitution gezwungen (vgl. Okojie et al., a.a.O., Kap. 2.4., 4.3 4.5; Prina, a.a.O., Kap. 1.2; Carling, a.a.O., S. 25f.). Angehörige der Ethnie der Edo/Bini (aus Edo State) wurden in die Schengen-Staaten, insbesondere nach Italien, Spanien und in die Niederlande gehandelt, ethnische Yoruba und Ibo ins Vereinigte Königreich sowie in die USA und Frauen aus dem muslimischen Norden Nigerias nach Saudiarabien (vgl. Okojie et al., a.a.O., Kap. 4.1).

8.2 Der Handel mit jungen Frauen aus Edo State nach Europa beruht auf einem sogenannten Emigrationspakt und hat im Laufe der Zeit eine spezifische Organisationsform angenommen. Die erste Kontaktnahme mit dem späteren Opfer oder dessen Familie erfolgt häufig durch Agenten eines « Sponsors », wobei es sich bei den Agenten um Verwandte, Bekannte, Freunde, lokale Persönlichkeiten oder Fremde handeln kann. Der Agent bietet der Frau oder dem Mädchen eine Arbeitsstelle in Europa an und stellt den Kontakt zum « Sponsor » oder der « Madam » her. Die « Madam », eine Nigerianerin (manchmal auch ein Mann), ist die zentrale Person im Menschenhandels- und Prostitutionsnetzwerk in Nigeria. Der « Sponsor » manchmal auch die « Madam » selbst finanziert die Reise und die Unterbringung in Europa; ein « Juju»-Priester oder « Ohen» besiegelt den Pakt in Nigeria mit einer Zeremonie und einem Schwur. Teil des weitverzweigten Netzes sind ferner Menschenschmuggler, welche die Frau nach Europa bringen (« Trolleys ») sowie eine « Madam », die häufig mit der Händlerin in Nigeria verwandt ist und im europäischen Zielland als Kontrollperson (zusammen mit einem oder mehreren Männern und ehemaligen
Prostituierten) sowie als Zuhälterin wirkt. Nach der Zustimmung der jungen Frau und/oder ihrer Familie zur Auswanderung nach Europa besucht die Frau vor der Ausreise zusammen mit der « Madam » oder dem « Sponsor » einen oder mehrere Schreine. Dort durchläuft sie eine von einem Priester zur Besiegelung des Emigrationspakts abgehaltene religiöse Zeremonie mit diversen Ritualen und legt einen Eid beziehungsweise einen Schwur ab, mit dem der Emigrationspakt bekräftigt wird (vgl. Okojie et al., a.a.O., Kap. 4.3; Carling, a.a.O., S. 24ff.). Die Menschenhändler in Nigeria unterhalten häufig Verbindungen zu internationalen Netzwerken des organisierten Verbrechens (vgl. EGMR, Entscheid V.F. E. 1b).

8.3 Der von der Frau abgelegte Eid beinhaltet, die eingegangenen Schulden abzuzahlen, Stillschweigen über die Händlerinnen und Händler zu wahren und sich nicht an die Behörden beziehungsweise die Polizei zu wenden. Für die Reisekosten nach Europa (einschliesslich gefälschter Pässe, Visa, Bestechungsgelder für Beamte an Grenzübergängen, Flughäfen etc., vgl. Prina, a.a.O., Kap. 2 und 3) sowie Unterkunft und Verpflegung werden den Frauen massiv überhöhte Beträge in Rechnung gestellt, welche sie nach der Ankunft im Zielland in der Prostitution « abarbeiten » müssen. Im Jahr 2003 betrugen diese Schulden laut verschiedenen Quellen circa USD 40000 55 000.- (vgl. Okojie et al., a.a.O., Kap. 4.5 und 6.1) beziehungsweise EUR 50000 70 000.- (vgl. Prina, a.a.O., Kap. 1.4 und 6.1). Viele Betroffene erfassen das Ausmass der Verpflichtung, welche sie eingehen, nicht, weil sie mit fremden Währungen nicht vertraut sind. Die Abzahlung der Schulden dauerte im Jahr 2003 bis zu drei Jahren (vgl. Okojie et al., a.a.O., Kap. 4.5; Andrew Desmond, Juju, Human Trafficking and Nigerian Organized Crime, Vortrag SFH-Tagung vom 15. September 2014).

8.4 Zur Bezeichnung spirituell-religiöser Praktiken, mit deren Hilfe Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution gefügig gemacht werden, werden häufig die Begriffe « Voodoo » und « Juju» verwendet, die ursprünglich aus der Tradition der westafrikanischen Yoruba stammen, welche heute hauptsächlich im Südwesten Nigerias leben (vgl. < http://www.westafrikaportal.de/voodooreligion.html >; < www.antitraf
fickingconsultants.co.uk >, abgerufen am 8.12.2015). Elemente aus diesen Traditionen werden benutzt, um die Opfer über weite Distanzen zu kontrollieren (vgl. Helfferich/Kavemann/Rabe, a.a.O., S. 47). Über den Inhalt der Rituale waren im Zeitpunkt der Publikation der ersten grösseren Studien (und der Einreise der Beschwerdeführerin im vorliegenden Verfahren) nur wenige zuverlässige Informationen erhältlich. Die wenigen Opfer, welche darüber sprachen, machten nur bruchstückhafte Angaben über die Geschehnisse an den Schreinen in Nigeria: Die junge Frau schwört, gehorsam und loyal zu sein und die Schulden zurückzuzahlen. Die Personen, welche den Pakt besiegeln, schlucken organische Substanzen. Der Frau werden auf eine spezielle Weise Schnitte am Körper zugefügt sowie Hautstücke, Teile von Finger- und Zehennägeln, Haare und Unterwäsche mit Menstruationsblut abgenommen. Diese werden in ein Papier gewickelt, auf das die « Madam » den Namen der Frau schreibt. Das Päckchen wird zusammen mit schwarzem Pulver aus Tierknochen oder -horn, Seife und einem Pflanzenabsud aufbewahrt, bis die Schulden abbezahlt sind. Es werden auch Tieropfer erwähnt. Dokumentiert sind etwa folgende Aussagen von nach Nigeria abgeschobenen Opfern von
Menschenhandel in die Zwangsprostitution (vgl. Prina, a.a.O., Kap. 1.3; van Dijk, zitiert in Carling, a.a.O., S. 28):

-« Something African, difficult to understand by westerners. »

-« We are going to a place where there are all types of wodoo that you can imagine, outside there were all the figures (...) those who go there know that they are going to make wodoo (...), it is like a building, there are all sorts of types of figures that you can imagine, monsters, etc. »

-« If you see what they do it will frighten you. »

-« There are various ways, they use water, all sorts of herbs that smell, perhaps they have put a six month old herb, they always use that water, they cut you, many things. »

-« You go inside the room and you immediately know, there is a strange smell, impossible to explain. They do it there with crude things, meat, chickens, goats; they take the heart and eat it crude. You must share it and swear. »

Die durch Schnitte mit Rasierklingen an bestimmten Körperstellen entstandenen Wunden werden mit einer Substanz behandelt, die in der Vorstellung der Betroffenen einen Geist enthält, der auf diese Weise in den Körper der Frau oder des Mädchens eindringen kann (vgl. < www.anti
traffickingconsultants.co.uk > Juju > Juju ceremony, wo eine ganze « Juju»-Zeremonie beschrieben wird; Elizabeth Willmott-Harrop, Ties that bind: African witchcraft and contemporary slavery, 17. September 2012).

8.5 Fanden solche Zeremonien anfänglich erst nach der Ankunft der Frauen in Italien statt, wurden sie mit der Zeit bereits in Nigeria ausgeführt und nach der Ankunft in Europa wiederholt (vgl. Prina, a.a.O., Kap. 1.3). Opfer, die von ihren eigenen Familien gehandelt wurden, leisteten erst in Italien einen Eid (vgl. Okojie et al., a.a.O., Kap. 4.5). Die meisten Frauen unterzogen sich diesen Ritualen zunächst als Teil des Emigrationspakts und in der Annahme, dadurch den für die Reise nach Europa erforderlichen Schutz übernatürlicher Kräfte (Gottheiten und Ahnengeister) zu erhalten (vgl. Willmott-Harrop, a.a.O.). Nach der Ankunft am Bestimmungsort werden den Frauen Reisepässe und Flugbillette abgenommen (vgl. Okojie et al., a.a.O., Kap. 4.5) Weigern sie sich, als Prostituierte zu arbeiten, werden sie mit physischer Gewalt, weiteren Ritualen an ihrem Aufenthaltsort sowie Drohungen, « to make wodoo in Nigeria against them », unter Druck gesetzt und gefügig gemacht. Die Rituale dienen damit nicht mehr alleine dem Schutz der jungen Frau und der Besiegelung einer Vereinbarung; vielmehr werden sie zum Mittel der Durchsetzung der Ausbeutung und von den Betroffenen als schwarze Magie erlebt,
das heisst als gegen sie gerichtete Massnahme, die ihnen persönlich Schaden zufügen soll (vgl. Prina, a.a.O., Kap. 1.3; Carling, a.a.O., S. 28ff.). Aus abgehörten Telefongesprächen ist bekannt, dass die « Madams » in Italien ihre Geschäftspartnerinnen in Nigeria um Rat bitten, wie sie sich die Polizei vom Leib halten und die Frauen von einer Flucht abhalten können, und dass sie sich zu diesem Zweck Substanzen aus Nigeria schicken lassen, welche sie dem Essen der Frauen beimischen, sowie Gegenstände oder Tiere, die sie für Rituale verwenden (vgl. Prina, a.a.O., Kap. 1.3 und 4.2). Migrationsverträge werden auch in Kirchen der Pfingstbewegung mit Gebetsritualen besiegelt (vgl. Victoria Nwogu, Human Trafficking from Nigeria and Voodoo. Any Connections?, in: La Strada International Newsletter 9, June 2008, S. 8f.).

8.6 Die sexuelle Ausbeutung der Opfer beginnt häufig nicht erst in Europa, sondern bereits in Nigeria insbesondere in Lagos, wo manche Händler die Frauen vor der Ausreise bis zu zwei Wochen lang festhalten, sie vergewaltigen und für die Arbeit mit ihren Kunden in Europa « vorbereiten » (vgl. Okojie et al., a.a.O., Kap. 4.5).

8.7 In Europa wohnen die Frauen entweder im Haushalt der « Madam » (vgl. Carling, a.a.O., S. 26ff.) oder zusammen mit anderen Zwangsprostituierten in einer von der « Madam » kontrollierten Unterkunft, etwa unter der Aufsicht einer ehemaligen Prostituierten (« Controller »). Sie haben der « Madam » sämtliche Einnahmen aus der Prostitution abzuliefern und müssen überdies überhöhte Beträge für Miete und Lebensunterhalt sowie einen Standplatz auf der Strasse bezahlen (vgl. Prina, a.a.O., Kap. 4). Fehlverhalten wird mit physischer Gewalt und mit diversen Foltermethoden sanktioniert, und/oder rebellische Frauen werden weiterverkauft. Als weitere Disziplinierungsmassnahme werden « Bussen » ausgesprochen beziehungsweise die noch abzuzahlenden Schulden willkürlich erhöht (vgl. Okojie et al., a.a.O., Kap. 4.5; Prina, a.a.O., Kap. 4.2). Mit dem Zeitablauf und fortschreitendem Schuldenabbau wird die Kontrolle etwas gelockert, sodass die Frauen soziale Kontakte ausserhalb des Arbeitsplatzes knüpfen und Geld an die Familie in Nigeria schicken können. Viele Zwangsprostituierte arbeiten in Städten, die Hunderte von Kilometern von ihrem Wohnort entfernt sind, sodass sie täglich weite Strecken
mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen, um an ihre Arbeitsplätze zu gelangen. Dass nur wenige Frauen flüchten, hat verschiedene Gründe: Zum einen werden sie von einem unsichtbaren, weitverzweigten Netz von Assistenten der « Madam » überwacht, sind sie in der Regel mittellos und haben sie weder einen legalen Aufenthaltsstatus noch Identitätsdokumente, sodass sie mit einer Abschiebung nach Nigeria rechnen müssen, wenn sie sich an die Behörden wenden. Zum anderen fühlen sie sich durch den eingegangenen Pakt gebunden nicht nur gegenüber dem Vertragspartner, sondern häufig auch gegenüber der eigenen Familie und der Sippe. Drohungen gegen Familienangehörige im Herkunftsland und die Anwendung physischer Gewalt gegen diese, manchmal gar die Zerstörung des Elternhauses oder die Inhaftierung von Angehörigen in Nigeria, stellen weitere wirksame Druckmittel dar, mit denen die vollständige Abzahlung der Schulden sichergestellt wird (vgl. Prina, a.a.O., Kap. 4.2 und 1.4; vgl. auch E. 8.8). Die Frauen kontrollieren sich überdies gegenseitig, da sie offenbar für die Schulden von geflohenen Frauen aufkommen müssen (vgl. FIZ, Frauenhandel aus Nigeria in die Schweiz, in: Frauenhandel im Asylbereich, Rundbrief 51, S. 5).

8.8 Zusätzlich zum « Juju»-Schwur oder als Alternative dazu wird gemäss Aussagen von Opfern manchmal auch ein schriftlicher Vertrag mit der jungen Frau oder ihrer Familie abgeschlossen und von einem Beamten mit Beurkundungsvollmachten quasi notariell beglaubigt, wobei das Haus der Familie als Sicherheit für die Bezahlung der Schulden eingesetzt wird. Solche Verträge werden in Nigeria offenbar zum Teil als rechtlich verbindlich betrachtet, zumal gemäss Aussagen von geflüchteten Menschenhandelsbetroffenen in manchen Fällen die Menschenhändler die nicht zurückbezahlten Schulden von der Familie vor Gericht einforderten, wobei Familienangehörige inhaftiert wurden, wenn sie nicht zahlten (vgl. Prina, a.a.O., Kap. 1.4 und 4.2; Carling, a.a.O., S. 29). Gemäss Desmond (SFH-Tagung, a.a.O.) wurden vor 1994 schriftliche Verträge mit den Opfern abgeschlossen; die Verträge wurden mit der Zeit durch die « Juju»-Zeremonien ersetzt.

8.9 Viele Frauen nehmen die mit dem geleisteten Eid eingegangene Verpflichtung sehr ernst, und eine Zuwiderhandlung zieht gemäss ihrer Überzeugung eine Bestrafung durch übernatürliche Kräfte nach sich, wobei sich die Vergeltungsmassnahmen gegen die betroffene Person selbst oder gegen Familienangehörige im Herkunfts- oder im Aufenthaltsstaat richten können (vgl. Helfferich/Kavemann/Rabe, a.a.O., S. 47f.). Eine dänische Sozialbehörde stellte 2011 in einem Bericht fest, dass nigerianische Opfer von Menschenhandel sehr häufig an Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, wobei sie die Symptome (wie Panikattacken, Angstzustände, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Magen- und Atemprobleme) als Auswirkungen von « Juju» deuten. Die Symptome bestärken die Frauen im Glauben, dass übernatürliche Kräfte einen realen und konkreten Einfluss auf ihr Leben haben und die Geisterwelt ihnen Strafen auferlegen kann (vgl. Willmott-Harrop, a.a.O.). Todesfälle in der Familie und Krankheiten von Angehörigen werden ebenfalls mit dem Brechen des « Juju»-Schwurs in Verbindung gebracht, und manche Frauen befürchten, dass ein gebrochener Eid sie selbst in den Wahnsinn treiben oder
töten würde (vgl. Helfferich/Kavemann/Rabe, a.a.O., S. 48).

8.10 Der tief verankerte Glaube an übernatürliche Kräfte und die Angst vor den Konsequenzen eines Bruchs des Schweigegelübdes haben sich neben der Angst vor einer Abschiebung nach Nigeria wegen des illegalen Aufenthalts (vgl. E. 8.7) als ein Haupthindernis bei der Identifizierung und dem Schutz der Opfer einerseits und der Strafverfolgung der Täter andererseits erwiesen. Der Zwang zum Ablegen eines Eides, welcher westafrikanische Frauen zu absolutem Gehorsam den Täterinnen und Tätern gegenüber verpflichtet, ist mittlerweile in der Strafverfolgung als kulturspezifische Täterstrategie bekannt (vgl. Helfferich/Kavemann/
Rabe, a.a.O., S. 47f. und S. 162ff.). Gemäss Angaben der staatlichen nigerianischen Behörde zur Bekämpfung des Menschenhandels NAPTIP (National Agency for the Prohibition of Trafficking in Persons) aus dem Jahr 2008 stammten 90 % der nach Europa gehandelten Mädchen aus den Bundesstaaten Edo und Delta und leisteten vor der Ausreise nach Europa einen « Juju»-Schwur; nach der Ankunft an den jeweiligen Bestimmungsorten hatten sie einen weiteren Eid abzulegen. Gemäss Angaben von NAPTIP sind die Opfer auch in Nigeria aus Angst vor den Konsequenzen kaum bereit, gegen die Täter auszusagen: « (...) victims are afraid of 'Juju' and are hardly forthcoming », und: « When traffickers are arrested in Nigeria, victims have often failed to show up in court to testify against them for fear that they would die if they violate the oaths they took » (vgl. Musikilu Mojeed, Nigeria Voodoo Aids Human Trafficking, 24. Oktober 2008; vgl. ferner Ana Dols García, Voodoo, Witchcraft and Human Trafficking in Europe, New Issues in Refugee Research, Research Paper No. 263, Oktober 2013).

8.11 Der EGMR hat in seiner Rechtsprechung die Angst abgeschobener nigerianischer Zwangsprostituierter vor « Juju» (bzw. vor den Folgen eines gebrochenen Schwurs) als eine häufige Ursache für ihre erneute Anwerbung (Re-Trafficking) bezeichnet, insbesondere dann, wenn sie ihre Schulden noch nicht vollständig abbezahlt haben: « La crainte du ,Juju' est souvent une cause de réintégration dans le réseau et de deuxième ou troisième départ pour l'Europe pour celles qui n'ont pas réussi à rembourser toute leur dette. Les sources locales confirment que le risque de réenrôlement est réel et de nombreuses femmes disparaissent à nouveau une fois rentrées dans leurs familles » (vgl. Entscheid des EGMR V.F. E. 1b).

8.12 Als weitere Ursache für das Risiko eines Re-Trafficking verschuldeter Rückkehrerinnen nennt der EGMR die fehlende Unterstützung, ja Ablehnung durch ihre Familien: « (...) les femmes expulsées d'un pays d'Europe et renvoyées au Nigeria sont souvent stigmatisées et rejetées par leurs familles ou communautés, généralement parce qu'elles n'ont pas remboursé leur dette. De plus, les rapports internationaux disponibles (...) mettent en lumière la difficulté de subsister au Nigéria en dehors d'un lien communautaire, de même que de se relocaliser en dehors de tout lien social. (...) La relocalisation est particulièrement malaisée pour les jeunes femmes seules retournées d'Europe et qui n'ont pas de formation ou d'éducation leur permettant d'être indépendante » (vgl. Entscheid des EGMR V.F. E. 1c.ii). Kürzlich publizierte Berichte, die sich unter anderem auch zur Unterstützung von aus Europa abgeschobenen nigerianischen Zwangsprostituierten durch Familie, Gesellschaft, NGOs und den Staat sowie zu den mit einer Rückkehr verbundenen Risiken beziehungsweise zur Schutzfähigkeit und -willigkeit des nigerianischen Staates und zu innerstaatlichen Aufenthaltsalternativen äussern, bestätigen diese
Einschätzung (vgl. European Asylum Support Office [EASO], Country of Origin Information Report, Nigeria, Sex trafficking of women, Oktober 2015, insb. S. 36ff., nachfolgend: EASO 2015; Finnish Immigration Service, Country Information Service, Public theme report: Human Trafficking of Nigerian Women to Europe, 24. März 2015 insb. S. 24ff., nachfolgend: FIS 2015, beide mit Hinweisen auf aktuelle Studien aus diversen europäischen Staaten). Zwangsprostituierte, die ohne Geld und/
oder krank aus Europa zurückkehren, werden von ihren Familien häufig abgelehnt und wieder in die Prostitution gezwungen. NGOs können soziale Beziehungsnetze nicht ersetzen und die Frauen wenn überhaupt nur für kurze Zeit begleiten und unterstützen, sodass diesen häufig nur die Prostitution bleibt, um überleben zu können. Überdies sind Rückkehrerinnen aus Europa einem höheren Gewaltrisiko und ihre (insb. hellhäutigen) Kinder einem höheren Entführungsrisiko ausgesetzt, da ihre Umgebung davon ausgeht, dass sie über Geld verfügen (vgl. EASO 2015 S. 38f.). Viele repatriierte Frauen erhalten bei der Ankunft in Nigeria nicht nur keine Unterstützung, sondern werden im Gegenteil bereits am Flughafen festgenommen und erst gegen die Bezahlung von Schmiergeld an die Flughafenpolizei freigelassen; einige werden am Flughafen von ihren Händlern in Empfang genommen (vgl. FIS 2015 S. 24f.).

8.13 Über manche Aspekte der Thematik liegen bis heute kaum gesicherte Erkenntnisse vor so etwa über eine allfällige Rolle von Geheimgesellschaften (wie den « Asigidi ») beim Frauenhandel in die Zwangsprostitution oder die Zwangsarbeit (vgl. Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation [ACCORD], Anfragebeantwortung vom 10. Januar 2007, Informationen zur Asigidi (Asegedi)-Geheimgesellschaft; dieselbe, Nigeria: Traditionelle Religion, Okkultismus, Hexerei und Geheimgesellschaften, 17. Juni 2011, Kap. 1; [...]).

8.14 Auch in der Schweiz zahlen gehandelte nigerianische Frauen oft Zehntausende Franken bei kriminellen Netzwerken im Heimatland und der Kontrollperson in der Schweiz (meist einer ehemaligen Prostituierten) ab; Fälle von Menschenhandel mit Nigerianerinnen werden jedoch auch hierzulande selten aufgedeckt, unter anderem weil die Betroffenen aufgrund des psychischen Drucks, dem sie durch den abgelegten « Juju»-Schwur ausgesetzt sind, sich nicht gegen die Täter auszusagen trauen (vgl. fedpol, Jahresbericht 2012, S. 24f.). Fast alle nigerianischen Frauen, welche innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren bei der Interventionsstelle für Opfer von Frauenhandel der FIZ in Zürich Unterstützung suchten, befanden sich in einem Asylverfahren. Das Aussageverhalten nigerianischer Frauen unterscheidet sich deutlich von demjenigen anderer von der Interventionsstelle der FIZ beratenen Frauenhandelsopfer. Während über 70 % der 2011 neu identifizierten Opfer von Menschenhandel, die von der FIZ unterstützt wurden, in Strafverfahren gegen die Täter aussagten, war im gleichen Zeitraum keine der nigerianischen Frauen zu einer Aussage bereit; sämtliche Nigerianerinnen brachen den Kontakt zur FIZ ab und
verschwanden. Nigerianische Opfer von Frauenhandel sind gemäss der Fachstelle mehrheitlich sehr jung und wurden in der Regel bereits als Minderjährige in die Ausbeutung gehandelt. Bis zur Erkennung als Opfer von Menschenhandel vergehen oft Monate oder gar Jahre. 17- bis 20-jährige Nigerianerinnen haben bei der Ankunft in der Schweiz häufig bereits mehrere Jahre in der Zwangsprostitution in verschiedenen europäischen Ländern hinter sich; sie werden entweder von Menschenhändlerinnen und -händlern in die Schweiz gebracht oder sind vor ihnen hierher geflohen. Wenn nigerianische Frauen in der Schweiz als Menschenhandelsopfer identifiziert werden, so die FIZ, sei dies der individuellen Aufmerksamkeit einzelner Personen im Asylverfahren zu verdanken (vgl. FIZ, Frauenhandel aus Nigeria in die Schweiz, in: Frauenhandel im Asylbereich, Rundbrief 51, S. 4f.).

9.

9.1

9.1.1 Im Asylverfahren wie im übrigen Verwaltungsverfahren gilt der Untersuchungsgrundsatz, das heisst, die Asylbehörde hat den rechtserheblichen Sachverhalt vor ihrem Entscheid von Amts wegen vollständig und richtig abzuklären (Art. 6
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 6 Verfahrensgrundsätze - Verfahren richten sich nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz vom 20. Dezember 196810 (VwVG), dem Verwaltungsgerichtsgesetz vom 17. Juni 200511 und dem Bundesgerichtsgesetz vom 17. Juni 200512, soweit das vorliegende Gesetz nichts anderes bestimmt.
AsylG i.V.m. Art. 12
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 12 - Die Behörde stellt den Sachverhalt von Amtes wegen fest und bedient sich nötigenfalls folgender Beweismittel:
a  Urkunden;
b  Auskünfte der Parteien;
c  Auskünfte oder Zeugnis von Drittpersonen;
d  Augenschein;
e  Gutachten von Sachverständigen.
VwVG, Art. 106 Abs. 1 Bst. b
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 106 Beschwerdegründe - 1 Mit der Beschwerde kann gerügt werden:
1    Mit der Beschwerde kann gerügt werden:
a  Verletzung von Bundesrecht, einschliesslich Missbrauch und Überschreitung des Ermessens;
b  unrichtige und unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts;
c  ...
2    Artikel 27 Absatz 3 und Artikel 68 Absatz 2 bleiben vorbehalten.
AsylG; zur prozessualen Untersuchungspflicht aus Art. 4
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 4 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit - (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
a  eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b  eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c  eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d  eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
EMRK vgl. E. 5.2.4). Dabei muss die Asylbehörde die für das Verfahren erforderlichen Sachverhaltsunterlagen beschaffen, die relevanten Umstände abklären und darüber ordnungsgemäss Beweis führen (vgl. BVGE 2012/21 E. 5; 2009/50 E. 10.2.1). Die Sachverhaltsfeststellung ist unvollständig, wenn die Behörde nicht alle für den Entscheid rechtsrelevanten Sachumstände berücksichtigt hat. Unrichtig ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn der Verfügung ein falscher und aktenwidriger Sachverhalt zugrunde gelegt wird, etwa weil die Rechtserheblichkeit einer Tatsache zu Unrecht verneint wird, sodass diese nicht zum Gegenstand eines Beweisverfahrens gemacht wird, oder weil Beweise falsch gewürdigt worden sind (vgl. BVGE 2012/21 E. 5). Gemäss Art. 8
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 8 Mitwirkungspflicht - 1 Asylsuchende sind verpflichtet, an der Feststellung des Sachverhaltes mitzuwirken. Sie müssen insbesondere:
1    Asylsuchende sind verpflichtet, an der Feststellung des Sachverhaltes mitzuwirken. Sie müssen insbesondere:
a  ihre Identität offen legen;
b  Reisepapiere und Identitätsausweise abgeben;
c  bei der Anhörung angeben, weshalb sie um Asyl nachsuchen;
d  allfällige Beweismittel vollständig bezeichnen und sie unverzüglich einreichen oder, soweit dies zumutbar erscheint, sich darum bemühen, sie innerhalb einer angemessenen Frist zu beschaffen;
e  bei der Erhebung der biometrischen Daten mitwirken;
f  sich einer vom SEM angeordneten medizinischen Untersuchung unterziehen (Art. 26a).
2    Von Asylsuchenden kann verlangt werden, für die Übersetzung fremdsprachiger Dokumente in eine Amtssprache besorgt zu sein.
3    Asylsuchende, die sich in der Schweiz aufhalten, sind verpflichtet, sich während des Verfahrens den Behörden von Bund und Kantonen zur Verfügung zu halten. Sie müssen ihre Adresse und jede Änderung der nach kantonalem Recht zuständigen Behörde des Kantons oder der Gemeinde (kantonale Behörde) sofort mitteilen.
3bis    Personen, die ohne triftigen Grund ihre Mitwirkungspflicht verletzen oder den Asylbehörden während mehr als 20 Tagen nicht zur Verfügung stehen, verzichten damit auf eine Weiterführung des Verfahrens. Dasselbe gilt für Personen, die den Asylbehörden in einem Zentrum des Bundes ohne triftigen Grund während mehr als 5 Tagen nicht zur Verfügung stehen. Die Gesuche werden formlos abgeschrieben. Ein neues Gesuch kann frühestens nach drei Jahren deponiert werden. Vorbehalten bleibt die Einhaltung der Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 195120.21
4    Nach Vorliegen eines vollziehbaren Wegweisungsentscheides sind die betroffenen Personen verpflichtet, bei der Beschaffung gültiger Reisepapiere mitzuwirken.
AsylG hat die asylsuchende Person demgegenüber die Pflicht und unter dem Blickwinkel des rechtlichen Gehörs im Sinne von Art. 29
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 29 - Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör.

VwVG und Art. 29 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 29 Allgemeine Verfahrensgarantien - 1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
1    Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
2    Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör.
3    Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand.
BV das Recht, an der Feststellung des Sachverhalts mitzuwirken (vgl. BVGE 2009/50 E. 10.2.1; 2008/24 E. 7.2).

9.1.2 Das in Art. 29 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 29 Allgemeine Verfahrensgarantien - 1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
1    Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
2    Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör.
3    Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand.
BV verankerte und in den Art. 29 ff
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 29 - Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör.
. VwVG für das Verwaltungsverfahren konkretisierte rechtliche Gehör dient einerseits der Aufklärung des Sachverhalts, andererseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht der Parteien dar (vgl. BVGE 2011/37 E. 5.4.1). Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst unter anderem das Recht, mit eigenen Begehren angehört zu werden und zu den für die Entscheidung wesentlichen Punkten Stellung nehmen zu können. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs beinhaltet die Pflicht der Behörden, die Vorbringen der vom Entscheid in ihrer Rechtsstellung betroffenen Person sorgfältig und ernsthaft zu prüfen und in der Entscheidfindung zu berücksichtigen (Art. 32 Abs. 1
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 32 - 1 Die Behörde würdigt, bevor sie verfügt, alle erheblichen und rechtzeitigen Vorbringen der Parteien.
1    Die Behörde würdigt, bevor sie verfügt, alle erheblichen und rechtzeitigen Vorbringen der Parteien.
2    Verspätete Parteivorbringen, die ausschlaggebend erscheinen, kann sie trotz der Verspätung berücksichtigen.
VwVG). Die Pflicht der Behörde zur Abnahme der angebotenen und tauglichen Beweismittel bildet einen weiteren Aspekt des rechtlichen Gehörs (Art. 33
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 33 - 1 Die Behörde nimmt die ihr angebotenen Beweise ab, wenn diese zur Abklärung des Sachverhaltes tauglich erscheinen.
1    Die Behörde nimmt die ihr angebotenen Beweise ab, wenn diese zur Abklärung des Sachverhaltes tauglich erscheinen.
2    Ist ihre Abnahme mit verhältnismässig hohen Kosten verbunden und ist die Partei für den Fall einer ihr ungünstigen Verfügung kostenpflichtig, so kann die Behörde die Abnahme der Beweise davon abhängig machen, dass die Partei innert Frist die ihr zumutbaren Kosten vorschiesst; eine bedürftige Partei ist von der Vorschusspflicht befreit.
VwVG; vgl. BGE 124 I 241 E. 2; 117 Ia 262 E. 4b; BVGE 2007/21 E. 10.1 und 11.1.3). Der Anspruch als solcher umfasst unter anderem das Recht, Beweisanträge zu stellen, und als Korrelat die Pflicht der Behörde zur Beweisabnahme. Beweise sind im Rahmen dieses verfassungsmässigen Anspruchs indessen nur über jene Tatsachen abzunehmen,
die für die Entscheidung der Streitsache erheblich sind.

9.2

9.2.1 Aufgrund des heutigen Wissensstands ergibt sich, dass bei der Beschwerdeführerin im vorliegenden Verfahren diverse konkrete Anhaltspunkte für Menschenhandel bestehen.

9.2.2 Die Beschwerdeführerin reichte keine Identitätspapiere ein. Ihre Herkunft aus Edo State, dem Hauptrekrutierungsgebiet für Menschenhändler in Nigeria, ist mit dem Sprachgutachten vom 15. November 2003 erstellt. Gemäss ihren Angaben im Asylverfahren wurde ihre Reise nach Europa von Drittpersonen organisiert und war (zumindest vorerst) unentgeltlich; die Beschwerdeführerin wartete die Ausreise aus Nigeria in einem Gebäude in Lagos ab, wohin ein « Pfarrer » sie gebracht habe. Im Wiedererwägungsgesuch wird geltend gemacht, dass sie in diesem angeblichen Haus des « Roten Kreuzes » sexuell ausgebeutet und anschliessend von einem Menschenhändlerring nach Europa geschafft worden sei.

9.2.3 Der Körper der Beschwerdeführerin weist neben einer Narbe am Bauch, welche von einer (...) stammt, offenbar zahlreiche weitere Narben, unter anderem im Brust- und Thoraxbereich (...), sowie Brandzeichen (« marques ») auf (...). Die Ursachen der Narben beziehungsweise deren Urheber stehen aufgrund der Aktenlage nicht fest. So ist unklar, ob die Narben tatsächlich von Misshandlungen mit Rasierklingen durch ihren Onkel stammen, wie die Beschwerdeführerin im Asylverfahren angegeben hatte, und aus welchem Grund und in welcher Funktion ihr der Onkel oder eine andere Person diese Narben zugefügt hat beispielsweise als Teil eines Initiationsrituals oder im Rahmen eines « Juju»-Rituals (vgl. die grafische Darstellung von « Juju»-Narben auf dem Rücken eines Opfers in Willmott-Harrop, a.a.O.). Im Wiedererwägungsgesuch wird vorgebracht, die Beschwerdeführerin sei an einen « Juju»-Schrein gebracht worden, wo ihr Körper geritzt, gebrannt und mit Essenzen behandelt worden sei; das Anbringen solcher Essenzen störe die natürliche Heilung, was zu auffälligen Narben typischen « Juju»-Zeichen führe.

9.2.4 Die Beschwerdeführerin verbrachte den grössten Teil ihrer Kindheit gemäss eigenen Angaben nicht bei ihren Eltern, sondern bei einem Onkel, und wurde bereits als Kind Opfer von Misshandlungen. Der Anamnese in mehreren Arztberichten ist zu entnehmen, dass sie gegenüber den behandelnden Ärztinnen (ähnlich wie im Asylverfahren) angab, ihr Onkel habe sie geschlagen, und wenn sie nicht genug gearbeitet habe, habe sie nichts zu essen bekommen. Im Alter von (...) Jahren habe der Onkel sie gezwungen, einen älteren, sehr einflussreichen und reichen Mann zu heiraten, der sie vergewaltigt und geschlagen habe (vgl. den Austrittsbericht der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in E. vom 25. November 2014). Die Beschwerdeführerin reiste im Alter von (...) Jahren in die Schweiz ein und suchte um Asyl nach. Aus den Akten ist nicht ersichtlich, in welchem Zeitpunkt sie ihr Heimatland verlassen hat beziehungsweise wo sie sich während der viereinhalb Jahre zwischen der vorgebrachten Zwangsverheiratung in Nigeria und der Einreise in die Schweiz aufgehalten hat. Die bescheidenen Länderkenntnisse der Beschwerdeführerin sie war beispielsweise nicht in der Lage, den Namen des damaligen Präsidenten
und die Hauptstadt Nigerias zu nennen (...) erscheinen vor diesem Hintergrund in einem neuen Licht und es stellt sich die Frage, ob sie ihre Heimat allenfalls bereits als Kind verlassen und sich vor der Einreise in die Schweiz während mehreren Jahren in anderen europäischen Ländern aufgehalten hat, wie dies für viele nigerianische Menschenhandelsbetroffene typisch ist.

9.2.5 Aufgrund der eingereichten ärztlichen Berichte ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt ihrer Einreise in die Schweiz im Oktober 2003 an einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung und einer mittelschweren bis schweren Depression litt. Eine Betreuerin im Durchgangszentrum hatte sie acht Monate nach der Einreise aufgrund von Symptomen einer Depression und einer posttraumatischen Belastungsstörung beim Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer des SRK in E. angemeldet; nach regelmässigen psychosozialen Beratungsgesprächen verschlechterte sich ihr Zustand, und während der Suche nach einem geeigneten Therapieort wurde eine (...) festgestellt (vgl. Bericht des Fachbereichs Sozialberatung des Ambulatoriums vom 17. November 2004). In diversen in den Jahren 2005 2014 ausgestellten fachärztlichen Berichten wurden eine mittelgradige bis schwere depressive Episode (ICD-10 F32.1) sowie eine Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10 F43.1) und eine Persönlichkeitsakzentuierung mit emotional instabilen Persönlichkeitszügen (ICD-10 F60.31) diagnostiziert. Als Ursachen für die Belastungsstörung und die Depression vermutete die Sozialarbeiterin im
Bericht des Ambulatoriums für Folter- und Kriegsopfer den abrupten Verlust der Mutter in der Kindheit und « von Gewalt geprägte Erlebnisse der jüngsten Vergangenheit ». In den fachärztlichen Berichten werden einerseits Ereignisse in der Kindheit der Beschwerdeführerin (insb. körperliche Misshandlung und Verlust der Eltern) genannt und andererseits Erlebnisse, welche zeitlich nicht auf die Kindheit beschränkt und teilweise nicht eindeutig fixiert wurden, wie « multiple traumatisierende Erlebnisse seit der Kindheit mit akuter Lebensgefahr » (vgl. Arztbericht vom 30. März 2014). Im Arztbericht der Psychiatrischen Dienste (...) in I. vom 27. August 2013 heisst es unter anderem, die Beschwerdeführerin habe « zeitweise schwere depressive Phasen » und Ängste, leide an einer « komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (schwerwiegende und langdauernde Folgen nach Traumatisierung in ihrem Heimatland) » und sei in den letzten 12 Jahren meistens in Behandlung gewesen. In ihrem Schlussbericht vom 19. Februar 2014 nennt dieselbe Ärztin als Ursache der Belastungsstörung (ohne zeitliche Fixierung) « sexuelle und psychische Traumatisierung in Nigeria im zivilen Kontext ». Dass diese psychischen Leiden trotz kontinuierlicher
psychotherapeutischer und medikamentöser Behandlung bis heute weiter bestehen, dürfte kaum alleine auf die unsichere Aufenthaltssituation und die (bis vor Kurzem) schwierige Wohnsituation der Beschwerdeführerin zurückzuführen sein.

9.2.6 Aus den Akten ist nicht ersichtlich, weshalb die nigerianische Botschaft in Bern die Beschwerdeführerin innerhalb von zwei Jahren im Hinblick auf die Beschaffung von Reisepapieren sechs Mal vorlud, obwohl ihre nigerianische Herkunft belegt ist und es insgesamt mehr als dreieinhalb Jahre dauerte, bis ihre nigerianische Staatsangehörigkeit anerkannt wurde. Ebenfalls im Dunkeln liegen die Umstände und Hintergründe der Eheschliessung der Beschwerdeführerin mit einem nigerianisch-(...) Doppelbürger im Jahr 2009 in der Schweiz. Während ihres jüngsten stationären Aufenthalts in einer Psychiatrischen Klinik gab sie an, sie sei mit diesem Mann « in ihrer Gemeinde verheiratet worden »; aktuell bestehe nur wenig Kontakt (vgl. Austrittsbericht vom 29. Mai 2015 S. 3).

9.2.7 Trotz eines entsprechenden Antrags im Wiedererwägungsgesuch zog die Vorinstanz die Strafakten nicht bei, sodass nicht erstellt ist, ob die Beschwerdeführerin im Strafverfahren Aussagen machte, welche sie im Fall einer Rückkehr nach Nigeria gefährden könnten. Überdies ist nicht ersichtlich, ob sie für die Drogenkurierdienste bezahlt wurde oder ob sie diese unentgeltlich erbrachte. Sollte Letzteres zutreffen, würde sich die Frage stellen, ob sie auf diese Weise Schulden abbezahlte, was ein weiteres Indiz für Menschenhandel darstellen würde (vgl. zum Zusammenhang zwischen Frauenhandel und der Tätigkeit als Drogenkurierin: Bundesamt für Polizei fedpol, Gewerbsmässiger Menschenschmuggel und die Schweiz, Bericht 2014, S. 75).

9.2.8 Die Frage, ob die Beschwerdeführerin durch den Einfluss von « Juju» für einen Drogentransport in der Schweiz gefügig gemacht wurde, ist vorliegend zwar insoweit nicht von Belang, als in einem Wiedererwägungsverfahren vor den Asylbehörden nicht Kritik an einem Strafurteil geübt werden kann. Ob die Beschwerdeführerin einen « Juju»-Schwur geleistet hat und einer entsprechenden Zeremonie unterzogen wurde, kann sich jedoch insofern als erheblich erweisen, als es sich dabei im nigerianischen Kontext um ein weiteres Indiz für Menschenhandel handeln würde. Im Wiedererwägungsgesuch wurde vorgebracht, die Zusammenhänge zwischen der Durchführung von « Juju»-Ritualen und Menschenhandel, Zwangsprostitution sowie Drogenhandel seien erst in den letzten Jahren bekannt geworden, die neuen Erkenntnisse fänden erst nach und nach Eingang in die Strafverfolgung, und auch die Migrationsbehörden könnten sich den neuen Kenntnissen über Fluchtgründe und Rückkehrhindernisse nicht verschliessen.