Urteilskopf

81 IV 13

2. Urteil des Kassationshofes vom 29. März 1955 i.S. Statthalteramt Winterthur gegen Neuhäusler.
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Regesto (it):


Sachverhalt ab Seite 13

BGE 81 IV 13 S. 13

A.- Am 2. Juli 1954 beantragte Erwin Deiss bei der Kantonspolizei in Winterthur, Bernhard Neuhäusler sei wegen Tätlichkeiten zu bestrafen, weil er am betreffenden Tage mit dem Schuh gegen den Antragsteller geschlagen und ihn ins Gesicht getroffen habe. Nachdem die Polizei Neuhäusler angehört und dem Statthalteramt Winterthur Bericht erstattet hatte, verfällte dieses den Beschuldigten am 25. August 1954 in Anwendung des Art. 126
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 126 - 1 Wer gegen jemanden Tätlichkeiten verübt, die keine Schädigung des Körpers oder der Gesundheit zur Folge haben, wird, auf Antrag, mit Busse bestraft.
1    Wer gegen jemanden Tätlichkeiten verübt, die keine Schädigung des Körpers oder der Gesundheit zur Folge haben, wird, auf Antrag, mit Busse bestraft.
2    Der Täter wird von Amtes wegen verfolgt, wenn er die Tat wiederholt begeht:
a  an einer Person, die unter seiner Obhut steht oder für die er zu sorgen hat, namentlich an einem Kind;
b  an seinem Ehegatten während der Ehe oder bis zu einem Jahr nach der Scheidung; oder
bbis  an seiner eingetragenen Partnerin oder seinem eingetragenen Partner während der Dauer der eingetragenen Partnerschaft oder bis zu einem Jahr nach deren Auflösung; oder
c  an seinem hetero- oder homosexuellen Lebenspartner, sofern sie auf unbestimmte Zeit einen gemeinsamen Haushalt führen und die Tat während dieser Zeit oder bis zu einem Jahr nach der Trennung begangen wurde.184
StGB in eine Busse von Fr. 70.-. Neuhäusler verlangte gerichtliche

BGE 81 IV 13 S. 14

Beurteilung. Am 25. Oktober 1954 fand vor dem Einzelrichter des Bezirksgerichtes Winterthur die Hauptverhandlung statt. Da Neuhäusler sich am 29. Oktober 1954 mit Deiss verglich und letzterer den Strafantrag zurückzog, schrieb der Einzelrichter am 30. Oktober 1954 den Prozess als erledigt ab.
B.- Das Statthalteramt Winterthur führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, die Verfügung des Einzelrichters sei aufzuheben und die Strafverfügung des Statthalteramtes zu bestätigen, eventuell die Sache zum Entscheid über den Bestand dieser Strafverfügung an den Einzelrichter zurückzuweisen. Zur Begründung wird geltend gemacht, die Strafverfügung des Statthalteramtes sei Urteil erster Instanz im Sinne des Art. 31
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird.
StGB, weshalb nach Verkündung dieser Verfügung der Strafantrag nicht mehr habe zurückgezogen werden können.
C.- Neuhäusler und der Einzelrichter beantragen, die Beschwerde sei abzuweisen. Sie machen geltend, nach § 346 zürch. StPO sei ein Rekurs gegen Bussenverfügungen der Polizeibehörden nicht zulässig, dagegen könne der Gebüsste binnen zehn Tagen, von der Eröffnung des Entscheides an gerechnet, gerichtliche Beurteilung der Sache verlangen. In diesem Begehren liege nicht die Ergreifung eines Rechtsmittels, vielmehr enthalte es lediglich das Verlangen, das administrative durch das gerichtliche Verfahren zu ersetzen. Daher stünden die Gerichte der Bussenverfügung unabhängig gegenüber. Die Polizeiverfügung trete an die Stelle der Anklageschrift. Demzufolge amte der Einzelrichter als erst- und letztinstanzlich urteilende Gerichtsinstanz. Er sei deshalb befugt gewesen, den Rückzug des Strafantrages entgegenzunehmen und den Prozess als erledigt abzuschreiben.
Erwägungen

Der Kassationshof zieht in Erwägung:

1. Der Berechtigte kann seinen Strafantrag nur zurückziehen, solange das Urteil erster Instanz noch nicht verkündet ist (Art. 31 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird.
StGB).
BGE 81 IV 13 S. 15

Urteil im Sinne dieser Bestimmung ist jeder Entscheid der zuständigen Behörde, der verbindlich darüber erkennt, ob der Beschuldigte sich einer strafbaren Handlung schuldig gemacht hat, und der gegebenenfalls die Rechtsfolgen bestimmt, die diese Handlung nach sich zieht (BGE 78 IV 151). Wenn die Kantone, wie in Übertretungssachen (Art. 345 Ziff. 1 Abs. 2
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird.
StGB) und im Verfahren gegen Kinder und Jugendliche (Art. 84 ff
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 84 - 1 Der Gefangene hat das Recht, Besuche zu empfangen und mit Personen ausserhalb der Anstalt Kontakt zu pflegen. Der Kontakt mit nahe stehenden Personen ist zu erleichtern.
1    Der Gefangene hat das Recht, Besuche zu empfangen und mit Personen ausserhalb der Anstalt Kontakt zu pflegen. Der Kontakt mit nahe stehenden Personen ist zu erleichtern.
2    Der Kontakt kann kontrolliert und zum Schutz der Ordnung und Sicherheit der Strafanstalt beschränkt oder untersagt werden. Die Überwachung von Besuchen ist ohne Wissen der Beteiligten nicht zulässig. Vorbehalten bleiben strafprozessuale Massnahmen zur Sicherstellung einer Strafverfolgung.
3    Geistlichen, Ärzten, Rechtsanwälten, Notaren und Vormündern sowie Personen mit vergleichbaren Aufgaben kann innerhalb der allgemeinen Anstaltsordnung der freie Verkehr mit den Gefangenen gestattet werden.
4    Der Kontakt mit Verteidigern ist zu gestatten. Besuche des Verteidigers dürfen beaufsichtigt, die Gespräche aber nicht mitgehört werden. Eine inhaltliche Überprüfung der Korrespondenz und anwaltlicher Schriftstücke ist nicht gestattet. Der anwaltliche Kontakt kann bei Missbrauch von der zuständigen Behörde untersagt werden.
5    Der Verkehr mit den Aufsichtsbehörden darf nicht kontrolliert werden.
6    Dem Gefangenen ist zur Pflege der Beziehungen zur Aussenwelt, zur Vorbereitung seiner Entlassung oder aus besonderen Gründen in angemessenem Umfang Urlaub zu gewähren, soweit sein Verhalten im Strafvollzug dem nicht entgegensteht und keine Gefahr besteht, dass er flieht oder weitere Straftaten begeht.
6bis    Lebenslänglich verwahrten Straftätern werden während des der Verwahrung vorausgehenden Strafvollzugs keine Urlaube oder andere Vollzugsöffnungen gewährt.126
7    Vorbehalten bleiben Artikel 36 des Wiener Übereinkommens vom 24. April 1963127 über konsularische Beziehungen sowie andere für die Schweiz verbindliche völkerrechtliche Regeln über den Besuchs- und Briefverkehr.
., 91 ff. StGB), berechtigt sind, die Beurteilung einer Verwaltungsbehörde zu übertragen, ist nicht erforderlich, dass das Urteil von einem Richter ausgehe. Ebensowenig ist nötig, dass der Beurteilung eine mündliche Verhandlung vorausgegangen sei, an der der Berechtigte müsste Gelegenheit gehabt haben, den Strafantrag zurückzuziehen. Wie im erwähnten Präjudiz ferner ausgeführt wurde, kann auch ein Entscheid, der nur unter der Voraussetzung Recht schafft, dass die Parteien sich ihm unterziehen oder dass er von keiner Seite durch Appellation, Einsprache und dergleichen angefochten wird, Urteil sein; denn indem Art. 31 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird.
StGB von einem Urteil erster Instanz spricht, ist die Bestimmung insbesondere gerade für jene Fälle aufgestellt worden, in denen der Entscheid angefochten wird und das Verfahren vor einer oberen Instanz weitergeht.
2. Nach dieser Rechtsprechung, deren Erwägungen durch die Ausführungen des Beschwerdegegners und des Einzelrichters nicht erschüttert werden, liegt in der Strafverfügung des Statthalteramtes Winterthur vom 25. August 1954 das Urteil erster Instanz. Eine Tätlichkeit, wie der Beschwerdeführer sie begangen haben soll, ist wahlweise mit Haft und Busse bedroht (Art. 126
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 126 - 1 Wer gegen jemanden Tätlichkeiten verübt, die keine Schädigung des Körpers oder der Gesundheit zur Folge haben, wird, auf Antrag, mit Busse bestraft.
1    Wer gegen jemanden Tätlichkeiten verübt, die keine Schädigung des Körpers oder der Gesundheit zur Folge haben, wird, auf Antrag, mit Busse bestraft.
2    Der Täter wird von Amtes wegen verfolgt, wenn er die Tat wiederholt begeht:
a  an einer Person, die unter seiner Obhut steht oder für die er zu sorgen hat, namentlich an einem Kind;
b  an seinem Ehegatten während der Ehe oder bis zu einem Jahr nach der Scheidung; oder
bbis  an seiner eingetragenen Partnerin oder seinem eingetragenen Partner während der Dauer der eingetragenen Partnerschaft oder bis zu einem Jahr nach deren Auflösung; oder
c  an seinem hetero- oder homosexuellen Lebenspartner, sofern sie auf unbestimmte Zeit einen gemeinsamen Haushalt führen und die Tat während dieser Zeit oder bis zu einem Jahr nach der Trennung begangen wurde.184
StGB), also eine Übertretung (Art. 101
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 101 - 1 Keine Verjährung tritt ein für:
1    Keine Verjährung tritt ein für:
a  Völkermord (Art. 264);
b  Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 264a Abs. 1 und 2);
c  Kriegsverbrechen (Art. 264c Abs. 1-3, 264d Abs. 1 und 2, 264e Abs. 1 und 2, 264f, 264g Abs. 1 und 2 und 264h);
d  Verbrechen, die als Mittel zu Erpressung oder Nötigung Leib und Leben vieler Menschen in Gefahr brachten oder zu bringen drohten, namentlich unter Verwendung von Massenvernichtungsmitteln, durch Auslösen von Katastrophen oder durch Geiselnahme;
e  sexuelle Handlungen mit Kindern (Art. 187 Ziff. 1 und 1bis), sexueller Übergriff und sexuelle Nötigung (Art. 189), Vergewaltigung (Art. 190), Missbrauch einer urteilsunfähigen oder zum Widerstand unfähigen Person (Art. 191), Ausnützung einer Notlage oder Abhängigkeit (Art. 193) und Täuschung über den sexuellen Charakter einer Handlung (Art. 193a), wenn sie an Kindern unter 12 Jahren begangen wurden.143
2    Wäre die Strafverfolgung bei Anwendung der Artikel 97 und 98 verjährt, so kann das Gericht die Strafe mildern.
3    Die Absätze 1 Buchstaben a, c und d sowie 2 gelten, wenn die Strafverfolgung oder die Strafe am 1. Januar 1983 nach dem bis zu jenem Zeitpunkt geltenden Recht noch nicht verjährt war. Absatz 1 Buchstabe b gilt, wenn die Strafverfolgung oder die Strafe beim Inkrafttreten der Änderung vom 18. Juni 2010 dieses Gesetzes nach bisherigem Recht noch nicht verjährt war. Absatz 1 Buchstabe e gilt, wenn die Strafverfolgung oder die Strafe am 30. November 2008 nach dem bis zu jenem Zeitpunkt geltenden Recht noch nicht verjährt war.144 145
StGB), und konnte daher von Bundesrechts wegen von einer Verwaltungsbehörde sogut wie von einem Richter beurteilt werden. Dass das Statthalteramt tatsächlich als urteilende, nicht etwa bloss als eine untersuchende und das Urteilsverfahren vorbereitende Instanz geamtet hat, ergibt sich aus § 334 zürch. StPO, wonach es die daselbst bezeichneten Übertretungen "untersucht und beurteilt". Dass es den Beschwerdegegner,
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der schon vor der Polizei zu Worte gekommen war, nicht nochmals verhört hat, ist unerheblich. Der Begriff des Urteils setzt nicht voraus, dass der Richter oder die entscheidende Verwaltungsbehörde den Beschuldigten einvernommen habe, genügt doch sogar unter dem Gesichtspunkt des Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV (Anspruch auf rechtliches Gehör), dass der Verurteilte in irgend einer Form, sei es auch bloss in einem Ermittlungsverfahren vor der Polizei oder erst im Rechtsmittelverfahren, zu Worte gekommen sei (BGE 46 I 327). Der Entscheid des Statthalteramtes wäre denn auch in Rechtskraft erwachsen, wenn der Beschwerdegegner die Sache nicht durch Einsprache an den Einzelrichter des Bezirksgerichtes weitergezogen hätte. Zwar hätte gemäss § 354 StPO die Oberbehörde ihn noch binnen drei Monaten vom Tage der Ausfällung an wegen offenbarer Gesetzesverletzung aufheben können. Das heisst aber nicht, dass er ohne Überprüfung und Genehmigung durch die Oberbehörde nicht habe formell und materiell rechtskräftig werden können. Die Mitwirkung der Oberbehörde ist nicht notwendig, sondern deren Befugnis erschöpft sich darin, binnen drei Monaten den vom Statthalteramt allein gefällten Entscheid unter bestimmten Voraussetzungen von Amtes wegen unverbindlich zu erklären und gemäss § 355 StPO durch einen eigenen Entscheid zu ersetzen. Unerheblich ist auch, dass der Einzelrichter des Bezirksgerichtes hinsichtlich des Strafmasses nicht an die Strafverfügung des Statthalteramtes gebunden ist (§ 361 Abs. 1 StPO); ein Entscheid kann auch dann Urteil sein, wenn die vom Verurteilten angerufene obere Instanz ihn zu Ungunsten- des letztern abändern darf. Der Rückzug des Strafantrages war daher im Verfahren vor dem Einzelrichter nicht mehr zulässig. Daraus folgt jedoch nicht, dass der Entscheid des Statthalteramtes zu bestätigen sei, sondern lediglich, dass das gerichtliche Verfahren vor dem Einzelrichter fortgesetzt werden muss.
BGE 81 IV 13 S. 17

Dispositiv

Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, die Verfügung des Einzelrichters des Bezirksgerichtes Winterthur vom 30. Oktober 1954 aufgehoben und die Sache zur Beurteilung an den Einzelrichter zurückgewiesen.