S. 181 / Nr. 41 Strassenverkehr (d)

BGE 78 IV 181

41. Urteil des Kassationshofes vom 11. Oktober 1952 i. S. Schwarz gegen
Polizeirichteramt der Stadt Zürich.

Regeste:
Art. 25 Abs. 1, 26 Abs. 3 MFG. Vorsichtspflicht des Fahrers, der ausserhalb
einer Strassenkreuzung oder -gabelung nach links abbiegt.
Art. 25 al. 1 et 26 al. 3 LA. Prudence requise du conducteur qui, en dehors
d'une croisée ou d'une bifurcation, oblique à gauche.
Art. 25 cp. 1 e 26 cp. 3 LA. Prudenza richiesta dal conducente che, fuori d'un
crocevia o d'una biforcazione, devia a sinistra.

A. - Das Polizeirichteramt der Stadt Zürich büsste am 7. November 1951 Robert
Schwarz wegen Übertretung des

Seite: 182
Art. 25 MFG und des Art. 42 MFV mit Fr. 15.-, weil er am 30. Juli 1951 um
14.20 Uhr beim Einbiegen mit seinem Personenwagen aus der Badenerstrasse nach
links gegen die Werkstätte der Firma Franz A.G. es an der notwendigen
Aufmerksamkeit habe fehlen lassen, sodass er mit dem ihn überholenden
Motorradfahrer Marcel Wittwer, den er nicht bemerkt hatte, zusammenstiess.
Am 8. Juli 1952 bestätigte der Einzelrichter des Bezirks-gerichts Zürich die
Verfügung des Polizeirichteramtes. Er räumte ein, dass Schwarz alle bei einem
Abbiegen in eine von links einmündende Strasse gebotenen Vorsichtsmassnahmen
getroffen habe, nämlich Einschalten des zweiten Ganges, rechtzeitiges Stellen
des Richtungsanzeigers, geringe Geschwindigkeit (15 bis 20 km/Std.) und
Beobachten nach vorn und nach rückwärts vor dein Abbiegen. Allein Schwarz habe
eben nicht in eine öffentliche Strasse, sondern in eine private Einfahrt
abbiegen wollen, die weder einer Kreuzung noch einer Einmündigung im Sinne des
Motorfahrzeuggesetzes gleichgestellt werden könne. Dass es sich um eine gut
erkennbare und verhältnismässig häufig befahrene Einfahrt handle, ändere
nichts daran, dass Schwarz gegenüber einem ihn überholenden Fahrzeug keinerlei
Vorrecht gehabt habe, die nachfolgenden Fahrzeuge vielmehr zum Überholen an
dieser Stelle grundsätzlich berechtigt gewesen seien. Schwarz hätte deshalb
unmittelbar vor dem Abbiegen derart aus dem Wagenfenster nach hinten
beobachten müssen, dass er in der Lage gewesen wäre, das im sogenannten toten
Winkel seines Wagens herannahende Motorrad rechtzeitig wahrzunehmen. BGE 76 IV
59
verlange in einem solchen Falle die gleiche erhöhte Aufmerksamkeit des
Fahrzeugführers wie beim Wenden des Wagens auf öffentlicher Strasse, das nur
zulässig sei, wenn es den öffentlichen Verkehr nicht störe (Art. 48 Abs. 3
MFV). Wenn Schwarz dieser seiner erhöhten Aufmerksamkeitspflicht nachgekommen
wäre, hätte er das Motorrad rechtzeitig wahrnehmen müssen, da die Sicht
stadteinwärts genügend weit gereicht habe.

Seite: 183
B. - Schwarz führt gegen das Urteil des Einzelrichters Nichtigkeitsbeschwerde,
mit der er auf Freisprechung abzielt.
Er macht geltend, die Fahrgeschwindigkeit der Motorfahrzeuge in der
Badenerstrasse sei im allgemeinen hoch, weshalb die sehr herabgesetzte
Geschwindigkeit des Beschwerdeführers erst recht habe auffallen müssen. Wohl
sei die Einfahrt zum Betrieb der Franz A.G. nicht eine Strasseneinmündung. Sie
sei jedoch besonders gut erkennbar, da sie ständig von Motorfahrzeugen benützt
werde. Die ganze grosse Anlage dieser Automobilhandels- und Reparaturfirma
springe auch einem Ortsfremden in die Augen, sodass er mit starkem
Zubringerdienst rechnen müsse. Wittwer habe seine Aufmerksamkeitspflicht
vernachlässigt und den Zusammenstoss verschuldet. Den Beschwerdeführer treffe
kein Mitverschulden. Die in BGE 76 IV 59 aufgestellten Grundsätze könnten
nicht ohne weiteres angewendet werden. Der Beschwerdeführer habe sich anders
verhalten als der Führer in jenem Falle. Er habe nach vorn und nach rückwärts
beobachtet, aber den Motorradfahrer nicht gesehen dieser müsse durch den
zwischen Seiten- und Rückfenster liegenden Teil der Rückwand des Automobils
verdeckt gewesen sein. Man könne nicht verlangen, dass der Beschwerdeführer
immer und immer wieder nach rückwärts hätte schauen sollen. Er habe nunmehr
nach vorn beobachten müssen, zumal die Badenerstrasse in der Regel einen sehr
starken Verkehr aufweise.
C. - Das Polizeirichteramt der Stadt Zürich beantragt, die Beschwerde sei
abzuweisen.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.- Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts sind die Stellen, wo
Privatwege, Garageeinfahrten und dergl. mit der öffentlichen Strasse
zusammentreffen, nicht Strassenkreuzungen (Einmündungen) im Sinne des Art. 26
Abs. 3 MFG, an denen das Überholen verboten wäre (BGE

Seite: 184
64 II 318, 76 IV 58). Wer an solchen Orten nach links abschwenken will, hat
vor einem hinter ihm fahrenden Wagen nicht den Vortritt und darf sich nicht
damit begnügen, die Richtungsänderung anzuzeigen, sondern hat alle gebotene
weitere Vorsicht walten zu lassen, um einen Zusammenstoss zu vermeiden; er
darf, wie ein Führer, der auf der Strasse wenden will (Art. 48 Abs. 3 MFV),
den Verkehr nicht stören (BGE 76 IV 58 f.).
2.- ob im vorliegenden Falle, wo der Beschwerdeführer nicht in den Weg zu
einer Garage, sondern in eine grosse Fabrikanlage mit gut erkennbarer und
häufig befahrener Einfahrt abgebogen ist, obige Grundsätze anwendbar sind oder
ob nicht vielmehr eine solche Einfahrt einer Seitenstrasse gleichzustellen
ist, kann dahingestellt bleiben. Denn selbst in jenem Falle müsste der
Beschwerdeführer mangels Fahrlässigkeit freigesprochen werden.
Solche fällt ihm nicht zur Last, weil. er vor dem Abbiegen nicht nur den
Richtungsanzeiger gestellt, sondern seine Absicht auch in auffälliger Weise
durch Verlangsamung der Fahrt kundgegeben und ausserdem unmittelbar vor der
Richtungsänderung in den Rückspiegel geblickt und dabei ausser einem Radfahrer
kein von hinten kommendes Fahrzeug gesehen hat. Er hat damit mehr getan als
die Führerin in dem in BGE 76 IV 57 ff. veröffentlichten Falle, die schon etwa
100 m vor dem Abbiegen in den Rückspiegel geschaut und sich nachher nicht mehr
darum gekümmert hatte, was hinter ihr vorging. Dass der Beschwerdeführer den
Motorradfahrer vor dem Abbiegen nicht gesehen hat, kann nur so erklärt werden,
dass dieser durch den zwischen Seiten- und Rückfenster liegenden Teil der
Rückwand des Personenwagens verdeckt war. Die Vorinstanz ist der Meinung, dass
der Beschwerdeführer mit Rücksicht auf diese Möglichkeit derart aus dem
Wagenfenster - offenbar aus dem seitlichen - nach hinten hätte beobachten
sollen, dass er den Motorradfahrer hätte sehen können. Diese Art der
Beobachtung ist jedoch in BGE 76 IV 57 nicht verlangt worden. Sie böte nicht
Gewähr

Seite: 185
dafür, dass dem Führer nicht ein hinter seinem Wagen sich befindendes Fahrzeug
verborgen bliebe. Selbst wenn er sowohl durch den Rückspiegel als auch durch
das Seitenfenster beobachtet, kann er nicht zuverlässig wissen, ob er alles
entdeckt hat, was hinter seinem Wagen fährt, umsoweniger als sich das
Verkehrsbild jeden Augenblick ändern kann. Sogar wenn er anhielte und
ausstiege, wäre er gegen die Möglichkeit, dass sich die Lage bis zum Abbiegen
verändere, nicht geschützt, besonders nicht auf einer verkehrsreichen Strasse.
Dazu kommt, dass er seine Aufmerksamkeit auch nach vorne richten muss. Die
Beobachtung nach dieser Seite litte, wenn verlangt würde, dass er seinen Blick
in ständiger Abwechslung in den Rückspiegel und durch das Seitenfenster fallen
lasse. Es genügt, wenn er unmittelbar vor dem Abbiegen nach links ernsthaft
auch nach rückwärts beobachtet. Bleibt ihm dabei, wie hier, durch Zufall ein
Fahrzeug verborgen, mit dem er nachher zusammenstösst, so kann ihm der Vorwurf
pflichtwidrigen Verhaltens nicht gemacht werden, wenn er auch seine übrigen
Pflichten (Stellen des Richtungsanzeigers, Herabsetzung der Geschwindigkeit
usw.) erfüllt hat. Sache des Überholenden ist es, seinerseits zu beobachten
und aus der Stellung des Richtungsanzeigers und der verlangsamten Fahrt des
vorderen Fahrzeuges sowie aus den örtlichen Verhältnissen die sich
aufdrängenden Schlüsse zu ziehen.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Einzelrichters
des Bezirksgerichts Zürich vom 8. Juli 1952 aufgehoben und die Sache zur
Freisprechung des Beschwerdeführers an die Vorinstanz zurückgewiesen.